Heute in den Feuilletons

Grenze, Welle, Wolke

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2013. Die Financial Times fordert Straffreiheit für den lauteren Edward Snowden und meint: Naiv sind die Verteidiger der NSA. Die SZ informiert über den umfassenden Reizwörter-Katalog, nach denen die sozialen Netze abgefischt werden: Beklagen Sie sich bloß nicht über "Grippe" oder andere "Symptome", bei "Schnee" oder in "Tucson"! Die FAZ verfolgt eine Sitzung des Gremiums, das die FISA-Gerichte kontrollieren soll. Die Welt lässt sich dagegen vom CDU-Politiker Peter Tauber erklären, warum Snowden doch irgendwie ein Verräter ist. Weitere Themen: Die SZ lernt la deutsche Vita kennen. Der NZZ offenbart sich die Substanz des Lichts.

Weitere Medien, 13.07.2013

Bei seiner gestrigen Pressekonferenz auf dem Moskauer Flughafen warf Edward Snowden der amerikanischen Regierung vor, eine Kampagne von unverhältnismäßiger Aggression gegen ihn zu betreiben, wie sie in der Geschichte einmalig sei, berichtet der Guardian: "'Die Regierung und die Geheimdienste der USA haben versucht, an mir ein Exempel zu statuieren, ein warnendes Beispiel für alle anderen, die wie ich an die Öffentlichkeit gehen könnten', sagte Snowden. 'Ich wurde staatenlos gemacht und gejagt, für einen Akt politischer Meinungsfreiheit.'"

In der Financial Times fordert Stephen Walt Präsident Obama auf, der Verfolgung von Edward Snowden ein Ende zu machen, der aus lauteren Motiven und völlig zu Recht die Überwachungsprogramme der NSA aufgedeckt habe. Naiv seien übrigens deren Verteidiger: "Under the veneer of 'national security', government officials can use these vast troves of data to go after anyone, questioning what they were doing, including whistleblowers, investigative journalists or ordinary citizens posting comments on news websites. Once a secret surveillance system exists, it is only a matter of time before someone abuses it for selfish ends. Richard Nixon kept his own 'enemies list' and used the Central Intelligence Agency to spy on American citizens. Former Federal Bureau of Investigation director J Edgar Hoover helped keep himself in office by collecting dirt on officials."

TAZ, 13.07.2013

Der Kulturwissenschaftler Andi Schoon führt durch die Technik- und Kulturgeschichte des Abhörens und Überwachens. Neu ist das demnach alles nicht, insbesondere das Kino griff das Thema immer wieder auf. "Nun aber doch große Entrüstung über die nichtfiktionale Überwachung seitens der USA. Dabei hat auch diese eine lange Geschichte: Echelon, das von der NSA betriebene weltweite Abhörsystem, hat seine Wurzeln im Zweiten Weltkrieg."

Im Gespräch mit Anne-Sophie Balzer und Martin Reichert gibt die Soziologin Eva Illouz Einblick in ihre Forschungen zum Phänomen "Fifty Shades of Grey". Warum sich Geschlechterrollen so wahnsinnig schwer ändern lassen, erklärt sie sich dabei mit den "hypermaskulinen Entwürfen von Männern wie Brad Pitt oder Tom Cruise, die unglaublich gut mit der kapitalistischen Vermarktung des Körpers harmonieren."

Außerdem trifft sich Ingo Arend in Istanbul mit den von den Taksimprotesten begeisterten Künstlern Gülsün Karamustafa und Halil Anltindere. Besprochen werden eine Ausstellung in Dessau über die Kunst der in den Dreißigern vor den Nazis geflohenen Bauhäusler, die Ausstellung "Rodtschenko - Eine neue Zeit" im Bucerius Kunst Forum in Hamburg und Bücher, darunter Brecht Evens' Comic "Die Amateure" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 13.07.2013

Andrea Köhler sieht sich die großen James-Turrell-Installationen in New York an und nimmt die Erkenntnis mit: "Licht ist seinem Credo nach nicht etwas, das andere Dinge erleuchtet, sondern eine Substanz, die sich selbst offenbart." Erlebt hat sie es bei der Installation "Ronin", einem Lichtspalt in einer Ecke des Museums: "Er scheint mit einem weichen weißen Nebel gefüllt zu sein. Man fühlt sich beim Blick auf diesen erleuchteten Spalt wie kurz vor der Entdeckung eines großen Geheimnisses - das Licht in der Wand ist unser Portal zu einer anderen Welt."

Weitere Artikel: Ueli Greminger bleibt für die gleichnamige Kolumne "Schlaflos". Maike Albath wurde zum Literaturfestival im sardischen Gavoi geschickt. Heidi Gmür besucht das Museum of Old and New Art des "professionellen Zockers" David Walsh auf Tasmanien.

Besprochen werden einige Bücher, darunter der Roman "Eine Frau bei 1000 Grad" des Isländers Hallgrímur Helgason.

Für Literatur und Kunst hat sich Samuel Herzog nach Marseille begeben, wo im Kulturhauptstadtjahr eine Menge zeitgenössisicher Kunst präsentiert wird (allerdings ohne rechtes Konzept, wie der Kritiker bemängelt). Hartmut Lück liest wissenschaftliche Editionen von Strawinskys "Sacre du printemps". Peter Hagmann hört sich, mit diesen Editionen in der Hand, verschiedene Interpretationen des "Sacre" an. Gabriele Reiterer diagnostiziert Sanierungsbedarf bei Theophil Hansens prachtvollen Parlamentsgebäude in Wien. Hansens Werk wird hier gewürdigt. Karl-Heinz Ott betrachtet Luthers Totengemälde eines Cranach-Schülers, auf dem der Reformator aussieht wie ein schlafendes Baby.

Welt, 13.07.2013

Mit seinen Enthüllungen fügt Ed Snowden den westlichen Demokratien Schaden zu, befürchtet Peter Tauber, Bundestagsabgeordneter der CDU: "Es ist vielleicht ein Wesensmerkmal der westlichen Demokratien, dass die Geheimdienste sich solchen Debatten stellen müssen. Das müssen sie in China und Russland definitiv nicht. Glaubt jemand ernsthaft, dass Putin Snowden ziehen lässt, ohne sich das Material, das er bei sich hat, genauer anzuschauen? Wie soll man dann die Weitergabe dieser Informationen nennen? Ist das nicht Geheimnisverrat? Natürlich! Es macht einen Unterschied, ob man die Öffentlichkeit über Praktiken von Geheimdiensten informiert oder ob man Mächten wie Russland und wahrscheinlich vorher auch schon China detaillierte Informationen und Zugänge überlässt."

Weitere Artikel: Der Historiker Peter Reichel schildert, wie sich Leipzig auf gleich zwei Jubiläen vorbereitet, das zweihundertjährige der Völkerschlacht und das hundertjährige des Denkmals. Marc Reichwein berichtet von einem Berliner Vortrag der Primatenforscherin Julia Fischer, in dem er lernt, dass der Mensch dem Affen das Lallen voraus hat. Tom R. Schulz weist auf den Arte-Programmschwerpunkt "Summer of Soul" hin. Der Jazzgitarrist George Benson unterhält sich mit Claus Lochbihler über sein Idol Nat King Cole. Lukas Wiegelmann geht mit dem Theologen und Männer-Chefredakteur David Berger in "Berlins Homo-Hochburg" Schöneberg essen.

In der Literarischen Welt geht Friedrich Wilhelm Graf mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben ins Gericht: "So faszinierend einzelne Beobachtungen und die Konstruktion einiger Traditionslinien auch sind - im Kern läuft Agambens Geistesarchäologie moderner Macht auf eine äußerst platte, nicht selten autoritäre Zivilisationskritik hinaus." Wieland Freund interviewt Max Kruse, einen der Hauptautoren der Augsburger Puppenkiste. Peter Praschl schreibt eine "posthume Laudatio" auf den morgen vor zehn Jahren verstorbenen Roberto Bolaño. Besprochen werden unter anderem "Die Nöte des wahren Polizisten" aus dem Nachlass von Bolaño, Hans Pleschinskis Roman "Königsallee", der Band "Der Mensch, der schießt" mit Gerichtsreportagen von Paul Schlesinger, der Beatles-Comic "Liverfool" des frankobelgischen Duos Gihef und Vanders und "Die Berge Kaliforniens", John Muirs Klassiker des American Nature Writing von 1894.

SZ, 13.07.2013

Auf zwei Seiten befasst sich die SZ mit Fragen von Prism und Big Data: Bernd Graff stellt die Programme des Department of Homeland Security (DHS) zur Reizwort-Überwachung der Sozialen Medien vor: Zwar dürfen die Berichte nicht personenbezogen sein, doch gibt es Ausnahmen - unter anderem für Journalisten. Noch mehr staunen muss Graff allerdings, auf welche Begriffe die Programme anspringen: "Erwartbar ist vielleicht noch, dass DHS-Agenten bei 'Cyberattacke', 'Hacker', 'Selbstmordattentäter', 'Terror', 'Bombe', 'Taliban', 'Nuklear' und 'Chemische Waffe' hellhörig werden sollen. Dass aber Begriffe wie 'U-Bahn', 'krank', 'elektrisch', 'Schwein', 'Schnee', 'Blitz', 'Heilung', 'Grenze', 'Welle', 'Wolke', 'Symptome', 'Grippe', 'Antwort', 'Telekommunikation', 'Rotes Kreuz', die Nennung Mexikos, der Stadt Tuscon in Arizona und jede Erwähnung der DHS schon als Anzeichen von (menschengemachter) Katastrophe und/oder Terrorismus hindeuten soll, vermag nicht einzuleuchten."

Außerdem zum Thema: Nicht das Internet und dessen Potenziale stehen mit den skandalisierten Spähaktionen unter Beschuss, sondern die Demokratie selbst, mahnt Johannes Boie. Beeindruckend findet es Andrian Kreye, was für Profile Software, die NSA-Methoden anwenden, anhand der eigenen Social-Web-Accounts erstellen. Laura Weissmüller stellt den Post-Privacy-Künstler Hassan Elahi vor, der das FBI seit 10 Jahren mit seinen persönlichen Daten spammt. Lasset das Spammen beginnen, ruft uns auch Jan Füchtjohann zu, nachdem er erfahren hat, dass die in Prism zusammenlaufenden Datenmengen so groß sind, dass sie sich nur wenige Tage lang speichern lassen, weil sonst die Server überquellen.

Geradezu wie eine Antwort auf die von Agamben angestoßene Debatte um die europäische Identität liest sich ein neues Buch des italienischen Publizisten Angelo Bolaffi, der sein Land geißelt, die Chancen des Euro selbst verspielt zu haben, und sich eine deutsche Hegemonie in Europa wünscht, berichtet Gustav Seibt: "Wenn man ihn liest, könnte man glauben, es gebe so etwas wie eine neue deutsche Süße des Daseins." Ah, la deutsche Vita.

Weitere Artikel: Thorsten Glotzmann plädiert für schöner typografierte E-Books, deren Schriftbild ihn bislang nicht recht begeistern kann. Johan Schloemann philosophiert anhand der Konflikte zwischen Hundehaltern und -nichthaltern über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Außerdem resümiert Reinhard J. Brembeck die sich neigende Ära Kent Naganos in München und staunt: Im konservativen München machte sich der Dirigent "mit seinem progressiven Stil viele Freunde", das Publikum sei "durch Naganos Wirken deutlich aufgeschlossener geworden".

Besprochen werden Bücher, darunter Andreas Altmanns "beschissen schönes Leben" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der Wochenendbeilage stürzt sich Christian Mayer kopfüber in den Zirkus der Salzburger Festspiele. Willi Winkler besucht Jane Birkin, die ihm bereitwillig von ihren zahlreichen Liebesgeschichten erzählt. Johannes Boie beobachtet den Bedeutungswandel, den Bilder im Zeitalter ihrer umfassenden Manipulierbarkeit unterliegen. Dazu passend stellt Helmut Martin-Jung jüngste Fotoapparate mit weitreichenden Manipulationsmöglichkeiten vor. Außerdem stellen die SZ-Redakteure diverse Whistleblower aus der Geschichte vor.

FAZ, 13.07.2013

Patrick Bahners hat eine Sitzung des Privacy and Civil Liberties Oversight Board (mehr hier) verfolgt, das die Überwachungsaktionen der amerikanischen Regierung diskutierte. Am interessanten fand er die Stellungsnahmen von James Robertson, der sein Richteramt bei einem FISA-Geheimgericht 2005 hingeworfen hat: "Heute hat es regelmäßig umfassende Überwachungsprogramme zu bewerten. Dafür sind Richter nach Robertsons Einschätzung schlecht ausgerüstet. Ihre Spezialität sei die Abwägung im Einzelfall. Das Gericht erfülle jetzt die Funktion einer Genehmigungsbehörde, ohne die erforderlichen Daten erheben zu können. Für eine fatale Schwäche der Verfahren vor dem Fisc hält Robertson, dass die Richter nur die Regierung hören und die Gegenseite nicht vertreten ist."

Weiteres: Matthias Grünzig feiert den Campus des Fraunhofer-Institut in Jena, den das Essener Büro Kohl Fromme Architekten entworfen hat. Dirk Schümer versucht sich einen Reim auf den Zwergstaat Luxemburg zu machen, der immer wieder Weltpolitiker wie Jean-Claude Juncker und die hanbüchensten Geheimdienstskandale hervorbringt. Fragen an zwei Generationen beantworten heute Hans Neuenfels und sein Enkel Emil Pabst-Neuenfels.

Besprochen werden die Schau "Unter vier Augen" in der Kunsthalle Karlsruhe, Vladimir Spivakovs Musikfest in Colmar, Fawwaz Haddads Roman "Gottes blutiger Himmel", E.L. Doctorows Erzählungen "Alle Zeit der Welt", Jochen Thies Porträt der Gülen-Bewegung "Wir sind Teil dieser Gesellschaft" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie stellt Insa Wilke Monika Rincks Gedicht "tischlerplatte" vor:

"kurz nach sechs, hier sind sie wieder, diese tischler,
diese tischlerstimmen, in die unbehandelten kuhlen
meines halben schlafs gedengelt, unterkante scherzerfüllt..."