Heute in den Feuilletons

Als Bauernopfer nach Washington

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.07.2013. Die FAZ stellt eine Handvoll amerikanischer Politiker vor, die sich gegen das Wuchern der Geheimdienste wenden - aber auch sie interessieren sich nur für die Rechte der Amerikaner. Warum ist Innenminister Friedrich nach Washington gereist, fragen Netzpolitik und Bild: um sich zu beschweren oder um sich zu bedanken?  Die SZ analysiert den Feminismus der Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg. Die taz entlockt Jacques Derrida ein posthumes Interview. Die NZZ ist begeistert von der Kulturmetropole Kinshasa.

Welt, 15.07.2013

Dunklen Optimismus verbreitet die von Klaus Biesenbach kuratierte Ausstellung Expo 1 in New York, meint Marcus Woeller. Dabei sind Kunstwerke nur ein Teil des Programms, einige Künstler, offenbar noch unter dem Schock von Hurricane Sandy, versuchen sich vorzustellen, wie wir unter den veränderten Klimabedingungen weiterleben werden: "Das Sinnbild für 'Dark Optimism' steht in einer Baulücke neben dem MoMA in Midtown. Wie wäre es, wenn wir Einfluss auf das Wetter hätten, fragt sich die Künstlergruppe Random International und hat einen 'Rain Room' gebaut. Hier regnet es unaufhörlich von der Decke, es ist nachtschwarz. Nur ein Scheinwerfer taucht alles in grelles Gegenlicht. Sobald man den Niederschlag betritt, hört es über einem auf zu regnen und man kann das Environment durchschreiten, ohne nass zu werden."

Weitere Artikel: Slavoj Zizek sucht nach einem Erben von Lubitsch und entdeckt ihn in Panos Koutras, dessen Film "Strella" über eine Liebesbeziehung zwischen Vater und transsexuellem Sohn er vorstellt: "Diese tiefgreifende Ambiguität, diese Mischung aus Komödie und melancholischem Verlust, ist ausdrücklich europäisch: das Geschenk Europas an Hollywood." Boris Kálnoky lobt den Protest gegen die Zerstörung der Gemüsegärten von Yedikule als Beispiel für die neue türkische Bürgerkultur. Marc Reichwein buchstabiert S wie Spione. Iris Alanyali erzählt, dass J. K. Rowling einen Krimi unter Pseudonym veröffentlicht hat. 

TAZ, 15.07.2013

In einem bisher nicht veröffentlichten Interview versucht der Biograf Klaus Englert aus Jacques Derrida herauszukitzeln, warum die Franzosen Walter Benjamin so lieben, aber nichts mit Adorno anfangen konnten. Schließlich erklärt Derrida seine Vorliebe so: "In der Universität fühlte ich mich niemals wirklich zu Hause. Daher rührt meine Sympathie für Walter Benjamin, der ebenfalls mit der Universität große Probleme hatte."

Weiteres: Eva Behrendt liest die neue von Antje Ravic Strubel herausgegebene Ausgabe der Neuen Rundschau, in der ein Dutzend Autorinnen das eigene Denken und Schreiben umreißen. Besprochen werden das Berliner Performancefestival "Foreign Affairs" und ein Konzert der Hidden Cameras in Berlin.

Und Tom.

NZZ, 15.07.2013

Hellauf begeistert kehrt Renate Klett aus Kinshasa vom Festival Connexion Kin zurück: "Die Stadt hat einen schlechten Ruf, in Afrika wie im Rest der Welt: gefährlich, verdreckt, versmogt, verkommen. Aber sie ist auch eine der lebendigsten Kulturmetropolen des Kontinents, besonders was Musik, bildende Kunst und Tanz anbelangt. Kinshasa platzt geradezu vor Energie und Kreativität - noch in den unwirtlichsten Gegenden gibt es kleine private Kulturzentren, die mit wenig Geld und viel Engagement gute Arbeit leisten."

Hier ein Konzert von Bebson de la rue beim diesjährigen Festival:



Weitere Artikel: Marion Löhndorf beschreibt, wie Großbritanniens konservativer Bildungsminister Michael Gove die Leistungserwartungen wieder steigern und Schluss machen will mit einer großzügigen Vergabe guter Noten. Corinne Elsesser spaziert durch das Frankfurter Bankenviertel.

Spiegel Online, 15.07.2013

Vom New Yorker über die New York Times bis hin zur Washington Post: Die meisten amerikanischen Königsemedien überbieten sich darin, den Whistleower Edward Snowden und den Guardian-Journalisten Glen Greenwald anzuschwärzen, berichtet Marc Pritzke in einer deprimierenden Presseschau: "Die schlimmste Demütigung wäre es, wenn der britische Eindringling sich mit den NSA-Scoops auch noch einen Pulitzerpreis ergatterte. Um den dürfen sich zwar nur US-Medien bewerben. Doch schon letztes Jahr akzeptierte das Preiskomitee eine Einreichung des Guardian: Er habe in den USA 'eine unverkennbare Präsenz'.

Aus den Blogs, 15.07.2013

Markus Beckedahl ist in Netzpolitik ganz begeistert von einem Bericht der Bild-Zeitung, wonach der BND seit langem von den Prism-Abhörmaßnahmen informiert gewesen sei und Innenminister Friedrich vor allem in die USA gereist sein soll, um zu beteuern, dass man an einer Fortführung der Zusammenarbeit interessiert sei. Beckedahls Kommentar: "Nun kann es sein, dass Merkel Friedrich als Bauernopfer nach Washington geschickt hat, um davon abzulenken, dass ihr Kanzleramt und damit ihr Kanzleramtsminister Pofalla die verantwortliche Person ist, die das wissen sollte und müsste. Dann wird es mal Zeit, die Scheinwerfer mehr vom Innenministerium auf das Kanzleramt zu lenken."

Udo Vetter empört sich in seinem lawblog über den "edlen Zweck", der laut Innenminister Friedrich die Mittel heiligt: "Es ist anmaßend, wenn sich ein Innenminister herausnimmt, 'edle' Zwecke zu definieren. Das ist nicht seine Aufgabe, sondern die des Bundestages und der europäischen Institutionen. Diese stecken - innerhalb der grundrechtlichen Schranken - den Rahmen des Zulässigen ab, und als Korrektiv wirken Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte."

Stefan Niggemeier berichtet über den Fortgang seines Streits mit der VG Wort, dieser Gema für Texte, die einen Großteil ihrer Ausschüttungen allerdings nicht den Urhebern, sondern den Verwertern gibt.

FAZ, 15.07.2013

Eine Handvoll amerikanischer Kongressmitglieder und Senatoren, so Jordan Mejias, wendet sich noch gegen das Wuchern der Geheimdienste und beklagt etwa folgenden Umstand: "Als der nach den Anschlägen von 2001 verabschiedete 'Patriot Act' mit seinen Einschränkungen der Bürgerrechte vor zwei Jahren verlängert wurde, konnten die Senatoren, wie die Huffington Post meldet, den neuen Text lediglich in einem streng abgesicherten Raum einsehen, durften sich dort keine Notizen machen und später keinerlei Auskunft geben. Mitarbeiter von Senatoren, die nicht dem Geheimdienstausschuss angehörten, erhielten keinen Zugang." Mejias warnt allerdings: Auch diese Politiker interessieren sich ausschließlich für die Überwachung von Amerikanern, auf Anfragen der FAZ zu Europa antworten sie nicht einmal.

Interessant auch ein Artikel im Wirtschaftsteil, wo der Deutschlandsprecher von Microsoft, Christian Illek, mit Kritik an der deutschen Debatte zu Prism zitiert wird - und das, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Microsoft hingebungsvoll an diesem Programm mitarbeitet. Die Kritik daran, so Illek könnte dem Wirtschaftsstandort Deutschland schaden: "So könnte die Bereitschaft von Unternehmen gebremst werden, Teile ihrer Informationstechnologie in die Datenwolke des Internet ('Cloud') auszulagern."

Weitere Artikel: Patrick Bahners erklärt dem Zeit-Kommentator Carsten Luther, der behauptet hatte, schon Wilhelm von Humboldt hätte Sicherheit über Freiheit gestellt, was Humboldt wirklich meinte. Mark Siemons porträtiert den chinesischen Autor Guo Jingming, der mit seinen Romanen über das Aufsteigermilieu Millionen macht.

Besprochen werden eine große Ausstellung über "Die ewige Diva" Kleopatra in der Kunst in Bonn, Ereignisse des Rossini-Festivals in Wildbad (das Rossini mit Helmut Lachenmann konfrontierte), Konzerte des Rolandseck-Festivals und Bücher, darunter neue Gedichte von Doris Runge (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Bereits am Samstag meldete die FAZ, dass die ehemalige Herausgeberin der Literarischen Welt, Rachel Salamander, nun für die FAZ ein Literaturforum organisieren und einen Reich-Ranicki-Preis für Essay und Kritik betreuen soll.

SZ, 15.07.2013

Richard Beck bietet einen Überblick über die Kontroversen um das Buch "Lean In" (mehr) der Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg, die darin für einen karrierefixierten Feminismus plädiert und dafür enormen Gegenwind erhielt: "Sandberg behauptet allerdings auch, dass die Frauen nicht ganz unschuldig daran sind, dass sich an den Machtverhältnissen nichts ändert: Weil sie die Grenzen, die eine sexistische Weltordnung errichtet hat, akzeptieren. Weil es 'an Selbstbewusstsein mangelt, weil wir uns verstecken, und weil wir einen Rückzieher machen, wenn wir uns richtig reinhängen müssten'. 'Lean in' - nicht verstecken, sondern sich aus der Deckung wagen -, diese Formulierung taucht immer wieder auf im Buch."

Weitere Artikel: Bernd Graff besucht eine Tagung über Datenspionage. Dokumentiert wird außerdem ein bei der phil.Cologne geführtes Streitgespräch zwischen dem Philologen Jürgen Trabant und dem Ökonomen Philippe van Parijs über Sprachgerechtigkeit: Während ersterer seinen Standpunkt bekräftigt, dass das Deutsche zunehmend zur Vernakularsprache verkomme, begrüßt der zweitere eine breitere Durchsetzung des Englischen als neue lingua franca.

Auf der Medienseite stellt Dirk von Gehlen die vom Pirate-Bay-Gründer Peter Stunde konzipierte App Heml.is vor, die es ermöglichen soll, abhörsicher über Smartphones zu kommunizieren.

Besprochen werden Rachel Harrisons Ausstellung "fake titel" in der Kestner-Gesellschaft in Hannover (Bild: Incidents of Travel in Yucatan, 2011), eine Aufführung von Benjamin Brittens Oper "The Turn of the Screw" in Mannheim, Daniela Löffners Inszenierung von Peter Handkes "Die schönen Tage von Aranjuez" am Bayerischen Staatsschauspiel und Bücher, darunter Donald Ray Pollocks Roman "Knockemstiff" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).