Heute in den Feuilletons

Er redigiert nicht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.07.2013. Collectors Weekly erzählt die Geschichte der lesbischen Bluessängerinnen Anfang des 20. Jahrhunderts. In der Welt singt der Rapper Mohammed al-Deeb ein Loblied auf die dritte Phase der ägyptischen Revolution. Die taz lernt von Steve McQueen, was radikale Blickführung ist. In der SZ findet Jan-Werner Müller Populismusvorwürfe elitär. In der FAZ erinnert Evgeny Morozov: Niemand ist gezwungen, Google zu benutzen.

Weitere Medien, 24.07.2013

Lisa Hix lässt sich für Collectors Weekly von dem Filmemacher Robert Philipson die Geschichte der lesbischen oder bisexuellen Bluessängerinnen in den 10er und 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erzählen: Gertrude "Ma" Rainey, Bessie Smith, Ethel Waters (Foto) und Alberta Hunter. "Sie tranken, sie trugen auffallende glitzernde Kleider', sagte Philipson. 'Sie waren in keinster Weise Männern gegenüber unterwürfig, und das war nicht das Modell postviktorianischer Weiblichkeit, das die Mainstreamkultur um die Jahrhundertwende voraussetzte. 'All diese Frauen kamen aus der Arbeiterklasse oder sogar noch ärmeren Verhältnissen in einer Zeit der schlimmsten Rassentrennung in der amerikanischen Geschichte', fährt er fort. 'Aber sie machten Geld und Karriere in einer Zeit, in der das für schwarze Frauen sehr ungewöhnlich war.'"

"It's true I wear a collar and a tie, … Talk to the gals just like any old man" - Gertrude "Ma" Rainey singt den "Prove it on me"-Blues:


Welt, 24.07.2013

Der ägyptische Rapper Mohammed al-Deeb betrachtet im Interview die Absetzung Mursis nicht als Militärputsch sondern als "Volksaufstand". Die Ägypter lernen gerade ganz gewaltig aus ihren Fehlern, meint er weiter: "Wissen Sie, was die erste Amtshandlung von Mursis Kultusminister war? Er verbot das Ballett, die Oper und den modernen Tanz. Die gefeuerten Tänzer, Sänger und Operndirektoren aber wehrten sich mit einem Sit-in vor dem Eingang des Kultusministeriums. Sie sangen dort, führten auf der Straße Ballett und modernen Tanz auf - zum ersten Mal in ihrem Leben verließen sie ihre Kulturtempel. Und eine große Menschenmenge versammelte sich, um das zu erleben. Es war, als ob der Versuch, diese Kunst abzuschaffen, ihr erst Leben eingehaucht hätte."

Weitere Artikel: Gerhard Gnauck zündet ein kleines Freudenfeuerwerk zum 100. Geburtstag von Witold Lutoslawski in diesem Jahr. Boris Johnson (im Telegraph) und Alan Posener (hier) finden Berlin zu provinziell, um sich davor zu fürchten. Außerdem nimmt Posener die Meldung aufs Korn, wer dem Papst auf Twitter folge, erhalte einen Ablass. Manuel Brug berichtet von Umstrukturierungen bei den Klassiklabels. Ralf Krämer freut sich, dass Jacques Rivettes 773-minütiger Filmklassiker "Out 1" jetzt auf DVD erschienen ist.

TAZ, 24.07.2013

Bei einer Retrospektive zum Film- und Videokünstler Steve McQueen im Schaulager Basel hat Carmela Thiele gelernt, was "radikale Blickführung" bedeutet. Zum Beispiel bei der Diaprojektion "7th Nov." aus dem Jahre 2001: "Wir sehen nicht viel mehr als die von einer Narbe durchzogene Kopfhaut eines liegenden, dunkelhäutigen Mannes. Wir hören seine Stimme und haben den Eindruck seinen Gedanken zu lauschen, die um ein unwiderrufliches Geschehen umkreisen, den durch seine Unachtsamkeit verursachten Tod des Bruders."

Weiteres: Ganz hingerissen ist Barbara Schweizerhof von Paolo Sorrentinos Film "La grande bellezza" über einen alternden Partylöwen: "Ein Film voller rätselhafter, skurriler und rührender Momente, die sich nie zu einer ermüdenden Botschaft addieren." Sonja Vogel porträtiert den schottischen Autor Martin Walker, der mit seinen Krimis aus dem Périgord einen Beststeller nach dem anderen produziert. Sebastian Heiser hält den neuesten Gerichtsentscheid im Streit um Suhrkamp für "eine ziemliche Klatsche für Unseld-Berkéwicz".

Als Anfang vom Ende des politischen Islams feiert Abdel M. Husseini auf der Meinungsseite die Absetzung von Ägyptens Präsident Mursi: "Die islamistische Führung hat auf allen Ebenen, politisch, wirtschaftlich und sozial, total versagt. Über eine politische Vision für die Entwicklung Ägyptens verfügt sie nicht. Die Losung, der Islam sei die Lösung, konnte das Fehlen eines politischen Programms nicht kompensieren."

Und Tom.

NZZ, 24.07.2013

Die Brit-Folklore erlebt wieder einmal eine ihre gefürchteten Eruptionen. Marion Löhndorf kann vom erfolgreichen Nation-Branding ein Lied singen, das irgendwann zwischen Richard II. und Mister Darcy anfängt und mit dem Royal Baby nicht aufhört: "Die 'Last Night of the Proms' mit ihrem 'Land of Hope and Glory', Royal Ascot, die Henley Regatta, Wimbledon, das Bootsrennen zwischen Cambridge und Oxford, Gurkensandwiches und Pimm's. Country-Idyll und Großstadtfeier. Die Beatles."

Besprochen werden die Ausstellung "Tanz & Tod" im Kasseler Museum für Sepulkralkultur, die Ausstellung "Utopie beginnt um Kleinen" der Triennale Kleinplastik in Fellbach, Josef Foschepoths Studie "Überwachtes Deutschland" und Beppe Grillos Politschrift "5 Sterne" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 24.07.2013

Sascha Lobo hat nach dem Prism-Skandal verschiedene Gemütsbewegungen durchlaufen und ist jetzt beim Ekel angelangt, meldet er auf Spiegel online: "Ich ekele mich vor einem Innenminister, dessen intellektuelle Kapazität nicht ausreicht, um schon den Begriff 'Supergrundrecht' als verfassungsschädlich zu erkennen. Ich ekele mich vor der Bundesregierung, die nicht nur an meinen, sondern an ihren eigenen Maßstäben entlangversagt. Und zuallererst ekelt mich Angela Merkel dafür an, dass unsere Freiheit zwar am Hindukusch verteidigt wird. Aber nicht auf unseren Laptops."

Bei Gawker ist Justin Elliott leicht überrascht, dass die NSA ausgerechnet aus technischen Gründen nicht fähig ist, seine Fragen zu beantworten: "The agency turns its giant machine brains to the task of sifting through unimaginably large troves of data its surveillance programs capture. But ask the NSA, as part of a freedom of information request, to do a seemingly simple search of its own employees' email? The agency says it doesn't have the technology."

SZ, 24.07.2013

Wer missliebige Meinungen mit dem Vorwurf des Populismus diskreditiert, macht es sich selbst zu einfach, findet der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller. In ihrem argumentativen Kern spalteten populistische Bewegungen die Bevölkerung zwar auf in ein "wahres Volk" und Eliten, gegen die Populisten dann anzutreten vorgeben. Doch "viele andere neue Bewegungen und Parteien wollen nicht, dass allein das wahre Volk regiert, sie wollen nur eine andere Politik. Ihre Kardinalfrage ist nicht: "Wer gehört wirklich dazu?", sondern "Was sollen wir tun?" Und es kann nicht sein, dass etwa jede Kritik an der Euro-Rettungspolitik oder gar an der Gemeinschaftswährung als populistisch diffamiert wird; es kann nicht sein, dass jeder mehr oder weniger dezente Hinweis auf die Defizite politischer Systeme als Demagogie abgetan wird."

Weitere Artikel: Die Tanz-Avantgarde hat sich in Form florierender Sommerfestivals etabliert, konstatiert Eva-Elisabeth Fischer. Henning Klüver schwärmt von den neuen U-Bahnhöfen in Neapel und insbesondere von der Stazione Toledo, einer "der schönsten von ganz Europa" (einige Eindrücke).

Auf der Medienseite verteidigt Pat Blashill, selbst ehemaliger Autor des Magazins, den Rolling Stone und stellt dessen aktuellen, umstrittenen Titel, der den mutmaßlichen Terroristen Dschochar Zarnajew zeigt, in die lange Tradition politisch kontroverser Reportagen des Musikblattes (siehe dazu auch unsere gestrige Magazinrundschau). Sebastian Krass geht der verzwickten Frage nach, ob der rechtsextremen Verbindungen nahestehende Deutschlandradio-Redakteur Bernd Kallina (mehr bei der taz) für einen öffentlich-rechtlichen Sender tragbar ist. Eine Antwort darauf findet er zwar nicht, will aber in Erfahrung gebracht haben, dass Kallina intern mehr oder weniger kalt gestellt sei: "Er habe seit Jahren keinen inhaltlichen Einfluss mehr auf das Programm ... Stattdessen organisiere K. Gesprächsteilnehmer für Diskussionsveranstaltungen. Außerdem produziere er Beiträge, "aber er redigiert nicht"."

Besprochen werden neue Jazz-CDs, Robert Redfords neuer Film "The Company You Keep", eine Jo Baer gewidmete Ausstellung im Museum Ludwig in Köln und Bücher, darunter Erzählungen von Angelika Meier (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 24.07.2013

Evgeny Morozov appelliert angesichts des Prism-Skandals an die Politik aber auch an die einzelnen Bürger, diesen ganzen "digitale Kram" ernst zu nehmen: "Politiker irren, wenn sie glauben, die Kommerzialisierung von Daten durch Gesetze verhindern zu können. Kommerzialisierung geschieht ja nicht gegen die Wünsche der Bürger, sondern, weil sie es so haben wollen. Niemand wird gezwungen, Googles E-Mail und Amazons Kindle zu nutzen. Die Leute tun es freiwillig. Gesetze können wir vergessen. Nur durch politische Kampagnen und entschiedene Kritik an der Ideologie des Datenkonsums werden wir die unausweichliche Katastrophe verhindern können."

Weitere Artikel: Barbara Zuber berichtet von den Herrenchiemsee-Festspielen. Tilman Allert begutachtet das Erscheinungsbild von Mops und Pudel unter dem Gesichtspunkt menschlicher Modevorlieben. In Russland gilt Edward Snowden Regierung und Regierungskritikern gleichermaßen als Naivling, berichtet Kerstin Holm. In Istanbul verloren Dutzende von Medienmitarbeitern ihren Job, weil sie dem Druck der Regierung während der Proteste im Gezi-Park widerstanden haben, berichtet Karen Krüger. Vivien Trommer erzählt, wie György Fekete, Präsidenten der Ungarischen Akademie der Künste, eine rechtsnationale Kulturpolitik in Ungarn vorantreibt. Auf der Medienseite beschreibt Joseph Croitoru die Probleme der Medien im neuen Libyen, wo eine unabhängige Berichterstattung nach wie vor kaum möglich sei.

Beprochen werden Robert Redfords Film "Die Akte Grant" und Bücher, darunter Jiri Mordechai Langers Buch "Die neun Tore" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).