Heute in den Feuilletons

Dreißig Blasen pro Sekunde

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.08.2013. Die taz fragt: Dürfen Kinder an mein Ipad? Das Smithsonian sieht sich durch wissenschaftliche Studien in seiner guten Meinung über Champagner bestätigt. The Millions und andere Blogs freuen sich den posthumen Erfolg des Autors John Williams. Die SZ-Kritiker untersuchen die Bilderflut in Schauspiel und Oper: Ist sie auch ein Zeichen der Krise? In der Literarischen Welt kann Hannes Stein nicht fassen: Peter Beinart glaubt an Demokratie. Wenn es Frieden zwischen Israelis und Palästinensern geben soll, dann müssen die Israelis die besetzten Gebiete zurückgeben, erklärt Joshua Sobol in der NZZ.

NZZ, 03.08.2013

Wenn es wirklich Frieden zwischen Israelis und Palästinensern geben soll, dann müssen die Israelis die besetzten Gebiete zurückgeben, erklärt der Schriftsteller Joshua Sobol in einem Gespräch mit der Beilage Literatur und Kunst: "Das ist meine Meinung. Und 20, 25 Prozent israelischer Juden denken so wie ich. Wenn du die arabischen Israeli hinzuzählst, das sind weitere 20 Prozent der Bevölkerung . . . Wir könnten einen politischen Block von 45 Prozent oder mehr bilden, die Mehrheit in der Knesset erringen und eine Regierung formieren, die die Situation ändert. Aber: Es gibt allein drei arabische Parteien im Parlament. Drei! Und die israelische Linke ist ebenfalls zersplittert."

Weitere Artikel: Vittorio Magnago Lampugnani plädiert für ein dauerhaftes und anspruchsvolles Bauen, das gerade in unsicheren Zeiten wichtig sei. Yahya Elsaghe untersucht die Bedeutung der ersten Komposition von Adrian Leverkühn in Thomas Manns "Doktor Faustus".

Fürs Feuilleton streift der Autor Norbert Hummelt durchs hochsommerliche Berlin. Maria Becker ist schlaflos. Alfred Zimmerlin besucht das Menuhin-Festival Gstaad.

Besprochen werden Bücher, darunter Hans Pleschinskis Roman "Königsallee", Patrick Devilles Afrika-Roman "Äquatoria" und Valentin Akudowitschs Essay "Der Abwesenheitscode", den Ilma Rakusa zum Verständnis Weißrusslands wärmstens empfiehlt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 03.08.2013

(via 3quarksdaily) Es ist nie verkehrt, sich mit Champagner zu beschäftigen. Zur Not kann man auch die Blasen im Glas einer physikalischen Analyse unterziehen, meint Marina Koren und vertieft sich für The Smithsonian in Gerard Liger-Belairs Buch "Uncorked - The Science of Champagne", das sofort Lust auf ein Gläschen macht: "Once poured, bubbles form on several spots on the glass, detach and then rise toward the surface, where they burst, emitting a crackling sound and sending a stream of tiny droplets upward. These bubble-forming hot spots launch about 30 bubbles per second. ... Once the bubbles reach the top of the flute, the tension of the liquid below becomes too great as it pulls on them. The bubbles pop in a matter of microseconds. When they burst, they release enough energy to create tiny auditory shock waves; the fizzing sound is a chorus of individual bubbles bursting."

Ok, dann los:



Es kann viel besser sein, große philosophische oder literarische Werke in einer Übersetzung zu lesen als im Original, meint der an der Columbia University lehrende Literaturprofessor Hamid Dabashi in der New York Times. Als Beispiele nennt er Heidegger und Muhammad Iqbal, einen Persisch, Englisch und Arabisch schreibenden pakistanischen Philosophen, dessen auf Arabisch verfasste Dissertation von 1908 der iranische Philosoph Amir Hossein Aryanpour 1968 ins Persische übersetzte und so eine ganze Generation von Studenten beeinflusste: "In this text we were reading a superlative Persian prose from a Pakistani philosopher who had come to fruition in both colonial subcontinent and the postcolonial cosmopolis. There was a palpable worldliness in that philosophical prose that became definitive to my generation. ... The case of 'Seyr-e Falsafeh dar Iran' was prototypical of my generation's philosophical education - we read left, right and center, then north and south from the Indian subcontinent to Western Europe and North America, Latin America and postcolonial Africa with a voracious worldliness that had no patience for the East or West of any colonial geography. We were philosophically 'in the world,' and our world was made philosophical by an imaginative geography that knew neither East nor West."

Als John Williams Roman "Stoner" 1965 erschien, nahm ihn kaum jemand zur Kenntnis. Vor einigen Wochen jedoch platzierte sich der Roman in den Niederlanden auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Was war passiert? "Dass ein gutes Buch veröffentlicht und ignoriert wird, das seiner Zeit etwas voraus ist, ist nichts ungewöhnliches", meint Claire Cameron in The Millions. "Aber wenn ich mir die Geschichte hinter Stoner ansehe, dann finde ich genau das Gegenteil. Es ist überraschend, eben weil dieses Buch nicht übersehen wurde. Dies ist die Geschichte eines Romans, der so außerordentlich ist, dass man ihn nie vergessen hat." Ein längeres Porträt von Williams hier. Und hier unser Vorgeblättert zu "Stoner".

Welt, 03.08.2013

In der afrikanischen Publikation Chimurenga Chronic hat der renommierte Filmemacher Jean-Pierre Bekolo kürzlich in einem ziemlich sarkastischen Interview für eine Rekolonisierung Afrikas plädiert, berichtet Wolf Lepenies. "Für die heimischen Kleptokraten, die im Augenblick der Unabhängigkeit anfingen, Afrika erneut auszurauben, hat Bekolo nur Spott und Verachtung übrig. Voller Lob dagegen ist er für die Leistungen der Weißen: 'Wenn es gelingen sollte, negative Erscheinungen wie Ausbeutung und Unterdrückung abzustellen, wird die Idee der Re-Kolonisierung bei den Afrikanern gut ankommen. Sie wissen einfach nicht mehr weiter. Selbst wenn es darum geht, unsere Kulturen zu bewahren, sind es Weiße, die sich wirklich um sie kümmern. Als ob sich seit den Zeiten der Sklaverei nichts geändert hätte! Wir sollten Jacques Chirac für das Musée Branly dankbar sein: Dort zumindest wird unser Erbe bewahrt.'"

Weitere Artikel: Kolja Reichert besucht den pakistanischen Künstler Imran Qureshi in dem sich rasant entwickelnden Lahore. Charlene Rautenberg empfiehlt nach den Wahlen in Simbabwe Tendai Huchus Roman "Der Friseur von Harare" zum Verständnis des Landes. Sören Kittel bittet Max Raabe zu Tisch. Torsten Krauel porträtiert den Fotografen Josef Darchinger als "Bonner Königsmacher". Besprochen wird C. S. Foresters Krimi "Tödliche Ohnmacht".

In einem "Streitgespräch" für die Literarische Welt bescheinigt Hannes Stein dem amerikanischen Journalisten und Israelkritiker Peter Beinart, "eine sehr verwöhnte Haltung" und einen "beinahe süßen", "blauäugigen" Glauben an die Demokratie, für den ihn "jeder Neapolitaner", "jeder Kopte" in Ägpyten und in Syrien die Sunniten, die Alawiten, die Christen "auslachen" würden.

Weitere Artikel: Es gibt einen Vorabdruck von Ernst Haffners vor 80 Jahren entstandenem Roman "Blutsbrüder". Jan Küveler macht sich angesichts einer Neuübersetzung von Ernest Hemingways "Fiesta" Gedanken zum Generationsroman. Besprochen werden u.a. Jakob Augsteins Buch "Sabotage", Juan Gabriel Vásquez' Erzählband "Die Liebenden von Allerheiligen, Alex Capus' Roman "Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer" sowie Bruce Bégouts Essay "Motel". Im politischen Teil forschen Claudia Kade und Stefan Laurin weiter zu den Pädophilie-Debatten bei den Grünen in den achtziger Jahren.

TAZ, 03.08.2013

Ausführlich geht Sebastian Kempkens der Frage nach, ob man seine Kinder schon frühzeitig an den iPad lassen soll und welche Folgen damit einher gehen könnten. Zu Wort kommen dabei gleichermaßen Euphoriker und Apokalyptiker. Im beistehenden Gespräch erklärt sich der Medienphilosoph Frank Hartmann die Technologieskepsis der Deutschen mit deren Kulturpessimismus: "Immer soll die humanistische Kultur verteidigt werden. ... In Deutschland gibt es immer noch Glaubenssätze: Sein Brot isst man auf und, wenn es um Tablets geht, ein Buch ist immer besser als ein Bildschirm."

Außerdem: Volker Hummel unterhält sich mit dem Krimi-Autor James Sallis unter anderem über das Handwerk des Schreibens und die Gewalt in amerikanischen Hardboiled-Romanen. Waltraud Schwab unterhält sich mit der Schriftstellerin Jeanette Winterson. Nina Apin spricht mit Klaus Farin, der das Berliner Archiv der Jugendkulturen betreibt. Andreas Hartmann stellt die Berliner Initiative "Haben und Brauchen" vor, die eine höhere Beteiligung der freien Kunstszene an den Erträgen aus der geplanten City Tax fordert. Sehr beeindruckt ist Michael Braun von der Konsequenz zum Reformwillen, den Papst Jorge Mario Bergoglio an den Tag legt. Frederik Caselitz stellt die peruanische HipHop-Combo Radikal People vor.

Besprochen werden die feministischen Künstlerinnen gewidmete Ausstellung "Der feine Unterschied" im Kunstverein Langenhagen, Vincent Dieutres Film "Jaurès" und Bücher, darunter Thomas Braschs gesammelte Gedichte (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 03.08.2013

Morten Freidel beschreibt die neuen Smartphones als "freiwillige Fußfessel von morgen". Das Moto X etwa könne sogar im Ruhezustand "auf Sprachbefehle reagieren. Spricht sein Besitzer den Befehl 'Ok Google now', schaltet das Mikrofon vom Standby-Modus in den aktiven um. Es ist also stets eingeschaltet - selbst wenn der Benutzer das Gegenteil glaubt."

Außerdem: Jan Brachmann hörte wissenschaftliche Vorträge über Nachhaltigkeit und Konzerte beim Kammermusikfestival in Hitzacker. Marco Schmidt unterhält sich mit dem Kabarettisten und Musiker Georg Ringsgwandl über Prügel in der Schule und geldgierige Künstler.

Besprochen werden Nestroys "Lumpazivagabundus", den der Wiener Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann inszeniert hat (Gerhard Stadelmaier ist so sauer, dass er nicht mal seinen Namen nennt), eine Aufführung von Walter Braunfels' Oper "Jeanne d'Arc" bei den Salzburger Festspielen und Bücher, darunter Ulrike Draesners Essayband "Heimliche Helden" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Wolfgang Schneider ein Gedicht von Georg Britting vor:
 
"Was hat, Achill

Unbehelmt,
Voran der Hundemeute,
Über das kahle Vorgebirge her
Auf ihrem Rappen eine,
Den Köcher an der bleichen Mädchenhüfte.
..."

SZ, 03.08.2013

Die Grenzen zwischen Oper und Theater verwischen zusehends, beobachten die Kritiker: Während das Schauspiel mehr und mehr zur Sprechrolle erstarrt, sehen sich die Sänger nun damit konfrontiert, neben dem Singen auch noch spielen zu müssen. Den modernen Schauspielern attestiert Christopher Schmidt "mimetische Askese". Dafür tritt die Bühne hervor, mit zwiespältiger Wirkung: "Die Dominanz der Bühne ist .. nicht nur Tribut an eine zunehmend visuell geprägte Kultur, sondern auch Symptom einer Krise."

Auch der Oper attestiert Helmut Mauró eine Bildsucht, die droht, die eigentliche Kunst - den gesanglichen Ausdruck - abzuwerten. Trotzdem will er von Askese nichts wissen: Die Oper braucht "so viel Bilderzählung wie möglich, so viel Sängertheater wie möglich, so viel Schöngesang wie möglich, so viel Orchesterklangnebel und gleichzeitig Durchhörbarkeit wie möglich, so viel Märchenverzauberung und intellektuelle Herausforderung wie möglich."

Weitere Artikel: Michaela Metz bringt Hintergründe zum in Brasilien herrschenden Rassismus, der bei der Frankfurter Buchmesse, wo Brasilien Gastland ist, wahrscheinlich nicht angesprochen werden wird. Der Soziologe Hans Joas schreibt den Nachruf auf seinen mit Religion befassten Kollegen Robert N. Bellah.

Besprochen werden Matthias Hartmanns Salzburger Inszenierung des "Lumpazivagabunds", die Salzburger Konzertaufführungen von Harrison Birtwistle und Walter Braunfels, die Ausstellung "Paper Weight" im Münchner Haus der Kunst, die allein nach der Jahrtausendwende gegründete Magazine vorstellt, sowie Tagebücher und Briefe von Hedwig Pringsheim, der Schwiegermutter Thomas Manns (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende stellt Kurt Kister den Schriftsteller Patrick Leigh Fermor und dessen Bücher vor. Außerdem gibt es ein ausführliches Gespräch mit Nina Hoss, deren neuer Film "Gold" demnächst in die Kinos kommt (hier unsere Berlinalekritik). Auf Seite 3 porträtiert Hilmar Klute den Lieblingssänger der Deutschen, Reinhard Mey.