Heute in den Feuilletons

Fourage und Triage

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.08.2013. Die SZ hat das Ungeheuer von Loch Grass gesichtet. Es wirft Oskar Lafontaine schmierigen Verrat vor. Das trifft den aber nicht. Arg ab kriegen es die Grünen und die taz und viele viele andere in einem wütenden Blogposting Alice Schwarzers zur Pädophilie-Debatte. Die Welt lässt sich von mexikanischer Kunst zu Träumen über Bademode verführen. Der "Feuchtgebiete"-Trailer wird auf Facebook zensiert, meldet der Tagesspiegel. Die NZZ findet Jonathan Meese auch jenseits des Hitlergrußes jenseitig. Island bringt eine Erzählung von Teju Cole über nigerianische Mädchen. Die FAZ erschauert vorm Panorama der Völkerschlacht. Und endlich gibt es eine Kamera, die auf Großdemos jedes einzelne Gesicht identifiziert.

Aus den Blogs, 13.08.2013

Arg ab kriegen es die Grünen (und übrigens auch die taz) auf der Website von Alice Schwarzer, die zu den neuesten Berichten über die Partei in ihrer Frühzeit und die Pädophilie schreibt: "Die propädophile Ideologie von damals wirkt bis heute nach, ja ist in der grenzenlos verbreiteten Pornografie inzwischen allgegenwärtig. Dennoch: Wenn heute Wahlen wären, würden 39 Prozent aller Emma-Leserinnen die Grünen wählen. Das ergab unsere Leserinnen-Analyse 2013. Das zeigt, dass die Grünen es verstanden haben, diese dunkle Seite ihrer Politik vergessen zu machen. Honoriert wird eine gewisse Frauenpräsenz..., sowie die Übernahme feministischer Forderungen, die Finanzierung von Projekten wie Frauenhäuser etc. Doch in der Sexualpolitik, dem Kern des Feminismus, sieht es bei näherem Hinsehen schon ganz anders aus." Schwarzer verlinkt auch auf ein Gespräch, das sie mit dem "Sexfront"-Autor Günter Amendt just im Jahr 1980 zum Thema Pädophilie führte.

In Fortschritt der Überwachungstechnik weist Dirk Meiner auf der Achse des Guten ein. Das Neueste: eine Kamera, die Fotos mit 2100 Megapixeln aufnimmt (normal sind 16 Megapixel). Perfekt, um auf Panoramafotos von Großdemos jedes einzelne Gesicht zu identifzieren. Hier können Sie beliebig zoomen.

Jean Ziegler, der ehemalige Sprecher des "Moammar Qaddafi Human Rights Prize", setzt seine Menschrechtskarriere beim Uno-Menschenrechtsrat fort, meldet das Blog der NGO UN Watch.

Und hier "Dinge, die Pofalla für beendet erklärt".

Welt, 13.08.2013

Hans-Joachim Müller besucht in der Londoner Royal Academy eine Ausstellung über mexikanische Kunst, die in den Jahren 1910 bis 1940 ganz eigene Wege ging: "Überaus spannend erzählt die Ausstellung, wie die mexikanische Malerei den Volkston beibehält, auch da, wo sie sich modernisiert. Es ist Malerei weniger für den bürgerlichen Bedarf als zur republikanischen Selbstvergewisserung. Volkspädagogische Unterweisung, so wie einmal das christliche Bildprogramm in der Kirche der Belehrung und Erbauung diente. Antonio Ruiz stellt ein nicht gerade zahlungskräftig aussehendes Arbeiterpaar vor ein Schaufenster, in dem Bademode zu Träumen verführt, die man nicht träumen darf." (Bild: José Chávez Morado: Carnaval en Huejotzingo, 1939)

Weiteres: Marko Martin freut sich, dass die russischen Touristen in Karlsbad so ruhig sind. Für Uwe Müller verdichten sich die Hinweise, dass Suhrkamp kein Interesse an einer Beteiligung von dtv hat, sondern "allein auf ein Engagement des Ehepaars Ströher" setzt, die jetzt erst mal die ausstehenden Autorenhonorare bezahlen. Harald Peters mokiert sich über Robin Thicke, der Songtexte schreibt wie "I got a gift for yah / I got this for yah, / A little Thicke for yah / A big kiss for yah, / I got a hit for yah / Big dick for yah, / Let me give it to yah" und damit einen Riesenerfolg hat.

Besprochen werden Konzerte mit Zubin Mehta und Mariss Jansons in Salzburg und Sofia Coppolas Film "The Bling Ring".

Tagesspiegel, 13.08.2013

Der Trailer der "Feuchtgebiete"-Verfilmung wird auf Facebook zensiert, meldet Marc Röhlig im Tagesspiegel: "Im Trailer wird die Protagonistin Helen (gespielt von Carla Juri) unter anderem bei der Selbstbefriedigung oder Intimhygiene gezeigt - allerdings stets so, dass das Explizite erst im Kopf des Zuschauers entsteht. Der nun zensierte Trailer suggiert mehr, als tatsächlich gezeigt wird." Im Perlentaucher würde der Trailer allenfalls gezeigt, wenn der Verleih für die Reklame bezahlt, aber beim Tagesspiegel ist er in HD.
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NZZ, 13.08.2013

Roman Bucheli weiß zwar noch nicht, wie sich die Richterin im Prozess um Jonathan Meeses Nazi-Hampeleien aus der Affäre ziehen wird, die Öffentlichkeit aber hat sich schon jetzt blamiert, findet er: "Man schaue sich bloß einmal die Videoaufzeichnung der sogenannten Performance an der Kasseler Universität an. Neunzig Minuten lang hören sich die Zuschauer Meeses Suada über die 'Diktatur der Kunst' oder über den 'Selbstvernichtungskreislauf der Demokratie' an, als würde ihnen gerade das Evangelium der Kunstfreiheit verkündet: atemlos, gebannt, Beifall klatschend, in Gelächter ausbrechend."

Carsten Hueck bespricht noch einmal William T. Vollmans Mammutroman "Europe Central", nein, er preist ihn in höchster Verzückung: "Seine schönen, abgründigen Sätze - so erschreckend wie lakonisch, zynisch und poetisch - vollziehen miteinander einen ausgedehnten Beischlaf. Vollmann gestaltet eine Orgie imaginierter Szenen und minuziös recherchierter Fakten, in denen sich beseeltes, zartes Fleisch mit stählernen Vernichtungsmaschinen vermengt, göttliche Kunst und menschenverachtende Ideologie Wange an Wange miteinander tanzen." (Hier eine Leseprobe)

Die Medienseite gibt einen Überblick über alte Medienmogule in West- und neue Medienbarone in Osteuropa.

Besprochen werden eine Schau zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung im Washingtoner Newseum, eine Ausstellung zum Ingenieurbüro Bollinger und Grohmann im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt und Albertine Sarrazins Kultbuch "Astragalus" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 13.08.2013

Auf den Tagesthemenseiten erinnert sich Jan Feddersen, wie sich die organisierten Pädophilen mit erpresserischer Hysterie bei den Grünen breitzumachen versuchten: "Unter den schwulen Politikinteressierten aus der alternativen und linken Szene gab es meist kein besonders lobbyistisches Interesse, dem Werben von Pädogruppen zu folgen. Nicht einmal aus einer ausdifferenzierteren Überzeugung heraus. Pädos, das waren so komisch-seifige Männer, die irgendwie immer besonders lieb und gewaltfrei wirkten. Olaf Stüben etwa, ein Hamburger Aktivist, der sich aus seiner eigenen Biografie, aufgewachsen als Heimkind, besonders um jugendliche Treber kümmerte - und sein erotisches Interesse nicht verhehlte. Aber der hatte mit 'Mitschnackern', bösen, geilen Männern hinterm Gebüsch nichts zu tun."

Im Interview mit Katharina Borchardt spricht der Schriftsteller Arnon Grünberg über seine tragikomische Satire "Der jüdische Messias", in dem der Enkel eines KZ-Aufsehers zum großen Tröster aller Juden wird. Den Sinn fürs Groteske, meint Grünberg, hat er von seiner Mutter geerbt: "Wahrscheinlich weil meine Mutter selbst immer sehr trocken über den Holocaust geredet hat. Sie war in Westerbork, Theresienstadt, Auschwitz und anderen KZs, und sie hat immer gesagt: Da gab es auch nette Leute. Sie bekam zum Beispiel oft Komplimente von den Nazis. Einmal sagte sie: 'Ich war sehr schön im KZ. Das hat mir das Leben gerettet.' Und wenn meine Schwester und ich nicht gehorchten, schimpfte sie: 'In Auschwitz war ich glücklicher als bei euch.'"

Besprochen werden Olivier Dubois' Choreografie "Tragédie" auf dem Sommerfestival von Kampnagel in Hamburg und Neuerscheinungen zu den Nürnberger Militärtribunalen.

Und Tom.

Weitere Medien, 13.08.2013

Der pakistanische Autor Mohsin Hamid spricht im Interview mit Bloomsberg Businessweek über fruchtbares Falschlesen, seinen neuen Roman "How to Get Filthy Rich in Rising Asia" und die Überwachungskultur, die in Pakistan noch schlimmer ist als anderswo: "In der populären Vorstellung ist die Überwachung sehr präsent, wegen der Drohnen. Es gib eine enorme Ablehnung der Drohnen in der Bevölkerung. Dass irgendjemand einfach in unsere Gesellschaft kommen und Leute exekutieren kann - einfach da oben hockt, uns beobachtet und ab und zu jemanden tötet - das ist unglaublich nervtötend und destabilisierend für eine Gesellschaft."

Im Guardian ist Kate Kellaway hin und weg von Deborah Levys Essay "Things I Don't Want to Know", mit dem sie auf George Orwells "Why I Write" (1946) antwortet: "In 'Warum ich schreibe' erklärt George Orwell höchst unterhaltsam: 'Alle Schriftsteller sind eitel, egoistisch und faul, und das wahre Motiv für ihre Arbeit bleibt rätselhaft. Ein Buch zu schreiben ist ein grausamer, aufreibender Kampf, wie eine lange schmerzhafte Krankheit.' Er unterschied die Gründe fürs weiterkämpfen in 'blanken Egoismus', 'ästhetischen Enthusiasmus', 'historisches Interesse' und 'politische Zwecke'. Wie Orwell ist Levy höchst unterhaltsam und macht aus seinen Kategorien Kapitelüberschriften. Aber anders als Orwell ist sie nicht so organisiert. Sie ist ein Macher, nicht ein Enthüller von Mysterien. Und sie ist ein Flüchtling. All das gibt dem Buch seine subtile, unvorhersehbare, überraschende Atmosphäre."

(via berfrois) Das Magazin Island hat aus seiner neuen Ausgabe eine Geschichte von Teju Cole über nigerianische Mädchen online gestellt: "Modern Girls", so der Titel. Hier ein Auszug:"Das Köngliche College für Mädchen war in Omu und Omu war wirklich die Mitte von Nirgendwo. Verglichen damit waren kleinere Städte in der westlichen Region, Städte wie Ikorodu und Odogbolu interessante Reiseziele. Omu bestand - bevor die Gründung der Schule ihm etwas Prestige verlieh - aus einigen kleinen Farmen, einer Ansammlung von Lehmhäusern mit Blechdächern, einem Bach, einem Stammesführer. Die Bewohner von Omu waren zumeist Muslime, was bedeutete, dass sie nicht Teil der kulturellen Elite waren. Wir, die Studenten des Royal Colleges, waren zumeist Christen. Die Mehrheit waren Anglikaner, aber es gab auch ein paar Methodisten. Nur zwei Mädchen in unserer Klasse waren Muslime."

SZ, 13.08.2013

Perfekt fürs Sommerloch: Die SZ bringt einen Vorabdruck aus einem Gesprächsband mit Manfred Bissinger und Günter Grass, in dem die beiden fast schon nekrologisch in der Geschichte der SPD wühlen. Durch die Presse geht vor allem, dass er Oskar Lafontaine "schmierigen Verrat" an der Sozialdemokratie vorwirft. Lafontaine hat bereits reagiert, berichtet die SZ online: Wer seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS verschwiegen habe, sollte "sich zu Charakterfragen besser nicht mehr äußern". Grass, bekanntlich König der Bescheidenheit und Demut, hat aber auch den Journalisten einiges mitzuteilen: Er wundert sich nämlich, warum diese "so wenig zu Selbstkritik in der Lage sind."

Mit von Philosophie und Ästhetik imprägniertem Wohlwollen orakelt sich Peter Richter angesichts der Popularisierung von 3D-Druckern und deren Anwendungsmöglichkeiten allen Online-Apokalyptikern zum Trotz einen zweiten Frühling der Haptik herbei: "Print ist also einerseits tot, anderseits gehört Print die Zukunft. ... Es gehört nicht viel Prophetie dazu, sich vorzustellen, dass der 3D-Druck mit seinem bislang noch etwas öden Produkten aus Plastik-Granulat eine Welle der Materialforschung, eine Material-Euphorie nach sich ziehen wird. Die Erfahrung lehrt, dass gipserne Ideenabgüsse Hunger auf das Fleisch der Dinge machen."

Andreas Zielcke glaubt, die Gründe zu kennen, warum Suhrkamp den Avancen von dtv bislang reserviert begegnet: Und zwar "zum einen, weil Suhrkamp mit einer Beteiligung von dtv von einem Konkurrenten abhängig würde. Zum anderen, weil die Verbindung zwischen Barlach und dtv allzu offensichtlich ist; Gespräche Barlachs mit einem der Miteigentümer von dtv, Thomas Ganske, stehen fest."

Besprochen werden die Ausstellung "Main und Meer" in der Kunsthalle Schweinfurt (Bild: Vergrößerung einer historischen Postkarte, um 1911), die in Salzburg aufgeführte, frühe Wagner-Oper "Rienzi" und Bücher, darunter eine Überarbeitung von Karl-Ernst Georges lateinischem Wörterbuch, das Rudolf Neumaier verzückt seufzen lässt: "Ach, Latein. Der Erkenntnisgewinn im Durchmessen dieser Sprache delektiert immer wieder" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 13.08.2013

Andreas Platthaus, der gerade selbst ein Buch über die "Völkerschlacht" vorgelegt hat, besucht Ausstellungen zum Thema in Dresden und Leipzig, darunter ein digital animiertes Panorama (Bild) in Leipzig: "Man sieht das Chaos in den Gassen, und nur in unmittelbarer Umgebung von Napoleon, den man im Gewimmel aus Abertausenden von Figuren erst einmal entdecken muss, herrscht noch so etwas wie Ordnung. Sonst wird Fourage und Triage gemacht, auf offener Straße werden Tote beseitigt und Gliedmaßen amputiert."

Weitere Artikel: Melanie Mühl, Spezialistin für die Themen des "Modernen Lebens" in diesem Feuilleton, besucht einen Elterntag an der Uni Osnabrück, wo die Kinder erstmals ihren Fahrradhelm absetzen. Jürgen Kesting schreibt den Nachruf auf die legendäre "Carmen" Regina Resnik, die im Alter von neunzig Jahren gestorben ist.



Nikolas Hill, Staatsrat der Hamburger Kulturbehörde, singt sowohl eine Hymne auf die Kreativwirtschaft als auch über das segensreiche Förderwesen der Hamburger Politik in diesem Gebiet. Timo John inspiziert neue Bauten der katholischen Kirche in Baden-Württemberg.

Auf der Medienseite schreibt Jürg Altwegg über einige Sommerskandälchen, die die Schweiz in den Ruch des Rassismus stellten - unter anderem weigerte sich eine Verkäuferin angeblich, Oprah Winfrey eine Krokodilledertasche für 35.000 Franken zu zeigen (sie war orange und von Tom Ford, weiß Bild). Außerdem wird eine Doku über Angela Merkel heute Abend im ZDF empfohlen.

Besprochen werden zwei neue Kohlhaas-Verfilmungen, das Science-Fiction-Drama "Elysium" mit Jodie Foster, eine CD der Soulsängerin Josephine Oniyama, Ereignisse in Salzburg, und Bücher, darunter eine neue und offenbar nicht übermäßig kritische Biografie über Hermann Kant (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).