Heute in den Feuilletons

Schicksalhafte Hebel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.08.2013. Der Lebenspartner des Guardian-Journalisten Glenn Greenwald, der Edward Snowdens Papiere veröffentlichte, wurde am Flughafen Heathrow neun Stunden lang festgehalten - unter angeblichem Terrorverdacht. Eine Einschüchterungsmaßnahme gegen Journalisten, vermuten Andrew Sullivan in The Daily Dish und Greenwald selbst im Guardian. In der NZZ erklärt der Sänger und Produzent Ben Zabo, warum Musik in Mali so wichtig ist. In der SZ kritisiert Orhan Pamuk den Westen, der nicht gegen die Absetzung der ägyptischen Muslimbrüder eingeschritten ist.

Weitere Medien, 19.08.2013

Glenn Greenwald, der Edward Snowdens Dokumente veröffentlich hat, erzählt im Guardian, wie sein Lebenspartner, David Miranda, am Flughafen Heathrow unter angeblichem Terrorverdacht festgehalten und stundenlang verhört wurde: "They obviously had zero suspicion that David was associated with a terrorist organization or involved in any terrorist plot. Instead, they spent their time interrogating him about the NSA reporting which Laura Poitras, the Guardian and I are doing, as well the content of the electronic products he was carrying. They completely abused their own terrorism law for reasons having nothing whatsoever to do with terrorism." Mehr dazu auch hier.

Andrew Sullivan kommentiert die Maßnahme gegen Greenwalds Lebenspartner in The Daily Dish als Einschüchterung: "They held him for three hours before informing his spouse and another six hours thereafter. I can see no reason for those extra six hours (or for that matter the entire nine hours) than brute psychological intimidation of the press, by attacking their families. More to the point, although David was released, his entire digital library was confiscated - including his laptop and phone. So any journalist passing through London's Heathrow has now been warned: do not take any documents with you."

Auch Spiegel Online berichtet über die Geschichte. Außerdem meldete Spon am Wochenende: Das süddeutsche Apothekenrechenzentrum VSA in München verkauft Millionen von Patientendaten in unzureichend verschlüsselter Form an Marktforschungsunternehmen: Bei der Lieferung von Rezeptdaten an den amerikanischen Konzern IMS Health "wird die Identität der Patienten lediglich durch einen 64-stelligen Code verschleiert, der sich leicht auf die tatsächliche Versichertennummer zurückrechnen lässt, wie vertrauliche Dokumente belegen, die dem Spiegel vorliegen."

NZZ, 19.08.2013

Jonathan Fischer durfte nach Bamako und hat sich dort von dem gerade sehr angesagten Ben Zabo durch die malische Musikszene führen lassen: "Die Militärmütze ist das Markenzeichen des schlaksigen Musikers. Auf seiner Tarnjacke steht: Ben Zabo. Sohn der Bo. Die meisten Menschen in Bamako verstehen die Sprache seines Stammes nicht. Doch warum sollte das ein Problem sein? 'Musik war schon immer der Kitt im Vielvölkerstaat Mali, dank ihr können sich die achtzig verschiedenen Ethnien verständigen.' Zabo wundert es deshalb auch nicht, dass die Islamisten in Nordmali als Erstes die Musik verboten. Mit ihr stehe und falle der soziale Zusammenhalt."

Hier sein Afrobeat-Hit "Wari Vo":



Weiteres: Martin Walder nimmt es als programmatisch hin, dass der goldene Leopard von Locarno ausgerechnet an den sperrigsten Film des Festivals ging, an Alberto Serras Casanova-Geschichte "Historia de la meva mort". Einen Festival-Auftakt voller Liebe hat Peter Hagmann in Lucerne mit Claudio Abbado erlebt.

TAZ, 19.08.2013

Frankreichs neue Kulturministerin Aurélie Filippetti hat die Jagd auf die Platzhirsche im Kulturbetrieb eröffnet, berichtet Rudolf Balmer, natürlich zum missfallen des männlichen Establishments: "Fast 90 Prozent der Staatsbühnen werden von Männern geleitet, nur gerade 3 Prozent der Konzertsäle haben Direktorinnen."

Besprochen werden Ernst Haffners wiederaufgelegter Roman "Blutsbrüder" von 1932 und Wayne McGregors Gastspiel "FAR" beim Hamburger Kampnagel-Festival.

Auf einer Tagesthemenseite interviewt Daniel Zylbersztajn den britischen Menschenrechtsanwalt Michael Mansfield zu Arroganz, Rassismus und Überwachungspraktiken bei Justiz, Geheimdiensten und Polizei.

Und Tom.

Welt, 19.08.2013

Sven Clausen und Uwe Müller entschlüsseln den Insolvenzplan von Suhrkamp und fürchten eine "kalte Enteignung" Hans Barlachs. Die beiden wundern sich auch, dass das Angebot von dtv nirgends erwähnt wird: "Ein Blick in bislang noch unveröffentlichte Geschäftszahlen macht deutlich, dass der Verlag auch operativ durchaus Nachhilfe gebrauchen könnte. Ulla Unseld-Berkéwicz ist immer wieder für das Programm gelobt worden, das sie seit zehn Jahren verantwortet. Rein wirtschaftlich betrachtet, verliert der Verlag im Vergleich zu Konkurrenten wie dtv kontinuierlich an Bedeutung. ... Laut Insolvenzgutachten hat Suhrkamp im vergangenen Jahr nur einen Umsatz von 23,9 Millionen Euro erzielt. Es ist der niedrigste Wert seit Jahren, noch 2010 waren es 27,7 Millionen Euro. Das Ergebnis ist nach den Sonderverkäufen erneut rot, der Verlust beläuft sich auf 105.000 Euro."

Weiteres: Michael Pilz erklärt, warum nach amerikanischem Recht peu à peu bald wieder die einst an Michael Jackson verkauften Urheberrechte an den Beatlessongs an Paul McCartney zurückfallen. Marc Reichwein buchstabiert in seiner Kolumne B wie Boccaccio. Inga Griese schreibt den Nachruf auf den Journalisten Claus Jacobi. Besprochen wird James Vances und Dan E. Burrs Graphic Novel "Auf dem Drahtseil".

Im Forum erinnert Inga Pylypchuk daran, dass die Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit in Russland, die unter Stalin und jetzt wieder unter Putin einen Höhepunkt erlebte, zwischenzeitlich mal kräftig abgeflaut war: "In der Musikszene der Nullerjahre gründeten sich mehrere einflussreiche Lesben-Bands. Den größten Erfolg hatte das Duo t.A.T.u im Jahre 2000 mit seiner - zugegeben schlechten - lesbischen Inszenierung."

Ach, so schlecht waren die gar nicht. Zur Erinnerung:


FAZ, 19.08.2013

Bestürzt kommt Andreas Kilb aus der Ausstellung "Die erwartete Katastrophe" in der Freien Akademie der Künste in Hamburg, die zeigt, dass Architekten seit den dreißiger Jahren den Bombenkrieg förmlich herbeisehnten, damit sie endlich ihre luftigen Visionen von der modernen Stadt verwirklichen konnten: "Schon 1935 hatte Le Corbusier in seiner Studie über die 'Ville Radieuse', die 'strahlende Stadt' der Moderne, im Luftkrieg den 'schicksalhaften Hebel zur Durchführung der notwendigen Maßnahmen' erblickt. Diese Maßnahmen fasste er in zwei Worten zusammen: 'Niederreißen und zusammenfegen'."

Weitere Artikel: Dirk Schümer glossiert die Pläne des römischen Bürgermeisters, die Innenstadt für Autos zu sperren. Marco Schmidt resümiert das Filmfestival von Locarno. Emanuel Derman mokiert sich in seiner Kolumne über all jene, die von Edward Snowden verlangen, er möge sich freiwillig der amerikanischen Justiz stellen. Dieter Bartetzko fürcht den Abriss der Kant-Garagen in der Berliner Kantstraße, der 1929 gebauten ersten Hochgarage der Welt. Die Gegenwartsseite veröffentlicht ein verschwörungstheoretisches Gebräu des von deutschen Medien unbegreiflicherweise hofierten ägyptischen Autors Chalid al-Chamissi.

In Bayreuth sind außerdem noch Karten zu haben. Nicht vorenthalten wollen wir Perlentaucher-Leser diese Stopper-Anzeige aus dem FAZ-Feuilleton.

Besprochen werden eine Ausstellung über deutsche Opfer des Stalin-Terrors (meist handelt es sich um Emigranten, die vor Hitler geflohen waren) in Potsdam, Ereignisse des Berliner Festivals "Tanz im August" und Bücher, darunter Goran Petrovics Roman "Ein Sternenzelt aus Stuck" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

offenbar nur online stellt Jürg Altwegg das Buch "Les Amazones de la République" des Medienjournalisten Renaud Revel (Auszüge) vor, das das reiche und korrupte Sexleben der französischen Politik schildert - von Mitterrans bis Strauss-Kahn: "Das Buch wird vom Verlag mit dem Slogan 'Sex und Journalistinnen im Elysée' beworben und steht auf den Bestsellerlisten dieses Sommers. Obwohl es in den Medien kaum erwähnt und von den seriösen Zeitungen nicht besprochen wurde. Offensichtlich funktioniert die Omerta, an deren Beendigung man nach den Affären um Strauss-Kahn glauben durfte, wieder bestens."

SZ, 19.08.2013

Thomas Giesen, ehemaliger sächsischer Datenschutzbeauftragter(!), fordert in einem Meinungsartikel auf der Seite 2: "Das Internet muss der Rechtsaufsicht des Staates unterstellt werden, weil es real wirksam und keineswegs 'virtuell' ist. ... Dem staatlichen Gewaltmonopol - es ist eine mühsam erkämpfte Errungenschaft - ist das 'Wissensmonopol' hinzuzufügen, also die Netzkontrolle zur Sicherung des rechtsstaatlichen Einflusses und zum Schutz des Persönlichkeitsrechts."

Im Feuilleton unterstellt ein verärgerter Orhan Pamuk dem Westen Teilnahmslosigkeit angesichts der aktuellen Geschehnisse in Ägypten: Der Schriftsteller fragt sich "ob die Ideale von Demokratie und freier Meinungsäußerung noch etwas gelten, wenn sich die Bevölkerung eines Landes gegen eine politische Nähe zu den westlichen Ländern entscheidet. Kann der Westen eine Demokratie dulden, in der sich die Wähler für eine nicht-westlich gesonnene Partei entscheiden?"

Weitere Artikel: Rudolf Neumaier ärgert sich, dass die Kölner Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Verfassungsschutz wegen Vernichtung von Unterlagen zum NSU-Fall mit Verweis auf die mit dem Archivgesetz unvereinbare "Praxiswirklichkeit" des Verfassungsschutzes eingestellt hat. Niklas Hofmann findet Nicholas Carrs Thesen zu den abflachenden Wachstumsraten im E-Book-Segment unter Rückgriff auf Nate Hoffelders Darlegungen nicht völlig überzeugend. Joachim Hentschel befragt Wim Wenders zu dessen Plattenlabel, auf dem der Filmemacher gerade das neue Album von Infamis veröffentlicht hat. Beim Rolling Stone gibt es das aktuelle, kurzfilmartige Musikvideo der Band.

Besprochen werden die Ausstellung "Nur Skulptur" in der Kunsthalle Mannheim, Thomas Arslans Berliner-Schule-Western "Gold" (siehe dazu etwa auch dieses Videogespräch mit dem Regisseur bei Cargo), die Oper "American Lulu" in Bregenz und Bücher, darunter neue Erzählungen von Joseph Zoderer (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).