Heute in den Feuilletons

Nichts trocknet, nichts verdunstet

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2013. Der Freitag sieht die Wunderkinder der Literatur, Hege- und Kehlmann als kongeniale Chronisten des Scheiterns einer Generation. Teju Cole erstellt ein Dictionnaire des Idées Reçues mit künftig verbotenen Aperçus, Sottisen und vornehmen Ersatzvokabeln fürs eigentlich Komische. Edgar Reitz' in Venedig gezeigtes "Heimat"-Prequel beeindruckt die Kritikerinnen. Alex Ross empfiehlt und wir embedden ein Ensemble aus den "Meistersingern" mit den genialen Sängern Elisabeth Schumann, Lauritz Melchior und anderen. Die NZZ aber zergeht in der Hitze Japans.

NZZ, 30.08.2013

Während sich hierzulande der Sommer allmählich verabschiedet, schildert der Schriftsteller Martin Kubaczek Szenen aus der japanischen Hitze: "Kein Transpirieren bringt dann noch Kühlung, wenn die Luft so gesättigt ist, dass sie keine Feuchtigkeit mehr aufnehmen kann. Nichts trocknet, nichts verdunstet. Alles bleibt feucht, schmierig. Innen und außen unterscheiden sich nicht mehr, wie Plankton treiben die Eindrücke, Partikeln der Wahrnehmung im Netz des Bewusstseins. Der Körper wird durchlässig."

"Der Mittlere Osten wirkt zerrissener denn je", stellt Mona Sarkis in ihrer Analyse des arabischen Hip-Hop fest, der längst nicht mehr nur revolutionäre Botschaften verbreitet. Botschaften anderer Art bringt der Musikstil Elektro-Sha'abi, eine Mischung aus elektronischer Musik und Folklore, die gerade die ägyptische Pop-Szene erobert, wie Thomas Burkhalter berichtet: "Sie besingen nicht - wie in ägyptischen Liedern üblich - Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Verlust in poetischen Worten, sondern sie fluchen, werfen unvermittelt Slogans wie 'Nieder mit dem Militär' ein, um im nächsten Atemzug ironisch von den wahren Problemen der Leute zu singen: 'Die Leute wollen fünf Pfund Telefon-Kredit' etwa oder: 'Scheiße, ich habe meine Pantoffeln verloren. Scheiße, das waren doch Badelatschen. Die waren doch noch neu. Wie gehe ich jetzt in den Klub?'"

Weiteres: Hoo Nam Seelmann informiert, dass Südkorea vom komplizierten kolonialen Adresssystem auf das internationale System mit Straßen und Hausnummern umsteigt. Besprochen werden der TV-Film "Eine mörderische Entscheidung" (heute Abend bei Arte, am Mittwoch in der ARD) und eine Ausstellung über Zerstörung und Städtebau in Hamburg.

Aus den Blogs, 30.08.2013

(via The rest is noise) Falls Sie heute morgen Engelsstimmen brauchen: Eine Aufnahme des "Meistersinger"-Quintetts von 1931, mit Elisabeth Schumann, Lauritz Melchior, Friedrich Schorr, Gladys Parr, Ben Williams und London Symphony Orchestra unter John Barbirolli.



TAZ, 30.08.2013

Cristina Nord hat in Venedig Edgar Reitz' vierstündiges Filmepos "Die andere Heimat" gesehen, das außer Konkurrenz lief, diesmal Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist und dessen Erzählung "schön plätschert". "Auf einer schlichten, politischen Ebene verrichtet der Film ein gutes Werk, indem er daran erinnert, dass Deutsche vor nicht allzu langer Zeit dazu gezwungen waren, ihr Glück in der Ferne zu suchen. Man könnte sich glatt wünschen, diejenigen, die sich in diesen Tagen in Berlin-Hellersdorf oder Duisburg-Rheinhausen über syrische oder rumänische Nachbarn aufregen, mögen den Film schauen und einen Augenblick innehalten. Aber das ist natürlich ein einfältiger Wunsch."

Außerdem: Juliane Streich porträtiert die Erfurter Garagenpunk-Band Zentralheizung of Death. Und Frank Schäfer gratuliert dem Comic-Zeichner Robert Crumb zum 70. Geburtstag.

Christian Ihle stellt unter der Überschrift "Lichte Momente beim englischen Patienten" neue Alben der britischen Gitarrengruppen Franz Ferdinand, Arctic Monkeys und Babyshambles vor, besprochen wird außerdem das zweite Soloalbum des Tomte-Sängers Thees Uhlmann.

Und Tom.

Aus den Blogs, 30.08.2013

Teju Cole hat sich, inspiriert von Flaubert, in den letzten Tagen auf Twitter an einem eigenen "Dictionnaire des Idées Reçues" versucht. In einem Blog im New Yorker hat er die dümmsten modernen Phrasen zusammengestellt:
"GERMANS. When watching football, 'never rule out the Germans.'
HARVARD. Source of studies quoted on BBC. Never say 'I went to Harvard.' Say 'I schooled in the Boston area.'
HAUTE COUTURE. Always declare that it is made by gay men for boyish girls. Wait hours to see fashion exhibits at the Met.
HEAT. Antonym of humidity.
HILARIOUS. Never simply say 'funny.'
..."

(via BoingBoing) Reporter von Le Monde haben bestätigt, dass die syrische Armee Giftgas gegen die Rebellen einsetzt: "Reporters for Le Monde spent two months clandestinely in the Damascus area alongside Syrian rebels. They describe the extent of the Syrian tragedy, the intensity of the fighting, the humanitarian drama. On the scene during chemical weapons attacks, they bear witness to the use of toxic arms by the government of Bashar al-Assad."

Lukas Foerster hat bei Cargo drei Blogeinträge zum Filmfestival von Locarno geschrieben. Der dritte Teil ist vor allem der George-Cukor-Retrospektive gewidmet: "Besonders fasziniert hat mich eine Reihe von New-York-Filmen, die in den Jahren unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg entstanden, in den späten Vierzigern und frühen Fünfzigern. ... Eine Serie eher kleinerer Produktionen, oft in Zusammenarbeit mit dem Autorenteam Ruth Gordon / Garson Kanin entstanden, die in einem New York spielen (mit vielen Szenen, die on location entstanden sind), in dem junge Frauen in engen Single-Appartments großen Träumen nachhängen, die stets als Rückseite kleinbürgerlicher Existenzängste lesbar bleiben; in dem sie jedoch auch ein freieres Leben beginnen können, wenn sie die engen Appartments für einmal hinter sich lassen und sich hinaus trauen und sich im Central Park oder in den kleinen, engen Bars auf Zufallsbekanntschaften einlassen."

Tagesspiegel, 30.08.2013

Anne-Sophie Mutter, die heute das Musikfest Berlin mit Witold Lutoslawskis Violinkonzert "Chain II" eröffnet, erzählt im Interview, dass sie lange Zeit "den Sprung ins Zeitgenössische" nicht so recht schaffte, auch aus Desinteresse: "Ich selber empfand das nicht als Lücke - einer meiner Mentoren aber, der Schweizer Mäzen Paul Sacher, sah das anders. Darum überreichte er mir im August 1985 ohne große Vorankündigung die Geigenstimme zu 'Chain II'. Ich war geschmeichelt und geschockt gleichermaßen, und habe dann den ganzen Herbst verzweifelt an dem Stück gearbeitet. Nicht über den Notentext habe ich das Stück letztlich für mich erschlossen, sondern über die Sinnlichkeit der Musik. Lutoslawski hat ein unglaublich subtiles Verständnis der Geige mit ihren schier unerschöpflichen Klangmöglichkeiten."

Außerdem: Nana Heymann porträtiert die Sängerin Elif Demirezer, die ihr erstes Deutschpop-Album veröffentlicht hat. Besprochen werden eine Ausstellung der Kandidaten für den Preis der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof.

Welt, 30.08.2013

Seite 1 des Feuilletons widmet sich greisen Heroen der Pop-Ära. Matthias Heine gratuliert dem großen Comicautor und -zeichner Robert Crumb zum Siebzigsten. Und Michael Pilz hört sich "Another Self Portrait" an, eine CD mit bisher unveröffentlichten Versionen von Bob-Dylan-Songs, die den Flop "Self Portrait" aus dem Jahr 1970 in neuem Licht erscheinen lässt. In seiner Kolumne "J'accuse" warnt Alan Posener vor Doppelmoral beim Thema Pädophilie und Grüne. Barbara Möller bespricht ein Doku-Drama über die Vorfälle von Kundus, das heute Abend auf Arte läuft. Besprochen wird außerdem eine kleine Ausstellung mit Schätzen aus dem Ricordi-Archiv in der Berliner Bertelsmann-Repräsentanz.

Freitag, 30.08.2013

Jana Hensel liest die neuen Romane der beiden Wunderkinder der deutsch-österreichischen Literatur Helene Hegemann ("Jage zwei Tiger") und Daniel Kehlmann ("F"), verhehlt ihre Bewunderung für beider Talente keineswegs und fragt dann nochmal nach Gemeinsamkeiten der beiden Romane: "Die Figuren beider Bücher, allesamt sind sie Kinder geblieben und ins Scheitern verliebt. Sie erzählen sich von ihren Eltern her und wollen diesen nicht entfliehen. Sie versuchen nicht einmal, ihnen zu entkommen, sich von ihnen wegzuerzählen. Obwohl ihr Scheitern schon in der Kindheit besiegelt wird, büßt es im Laufe des Lebens nichts an Reiz ein."

Weitere Medien, 30.08.2013

In der Presse spricht der Künstler Hermann Nitsch, der gestern 75 Jahre alt wurde, im Interview über mystische Naturerfahrungen in Prinzendorf und darüber, was sein Alterswerk ist: "Die bevorstehende Verwirklichung des Sechs-Tage-Spiels. Und ich habe heuer im Sommer malenderweise Urlaub gemacht, und da ist wohl auch etwas herausgekommen, was man als Alterswerk bezeichnen könnte."
Stichwörter: Nitsch, Hermann, Urlaub

SZ, 30.08.2013

Wolfgang Büchners Personalie Blome war lediglich der letzte Tropfen, der das Fass beim Spiegel endgültig zum Überlaufen gebracht hat, schreiben Claudia Fromme, Alexander Gorkow und Ralf Wiegand auf Seite Drei in einem (fast schon genüsslichen) Porträt des Nachrichtenmagazins mitten in der Krise: Seine privilegierte Position in der Öffentlichkeit habe der Spiegel mittlerweile eingebüßt, die Auflage sinke stetig und Print- und Onlineredaktion stünden einander gegenüber wie Kolonialherren und Kolonisierte: "Wenn Büchner Print und Online vereinigen wolle (...), müsse er Leute, die drei Texte täglich schreiben und 40.000 Euro im Jahr verdienen, an einen Schreibtisch setzen mit solchen, die vier- bis fünfmal so viel verdienen, aber nur einen Text im Monat abliefern. ... Wolfgang Büchner hat in einer Online-Konferenz gesagt, dass er 'Nord- und Südkorea' beim Spiegel vereinen will. Print ist Nordkorea. Eine Diktatur selbstbesoffener Meinungen." Und bei der SZ verdienen die Online-Leute also genauso gut wie die Herren vom Print?

Im Feuilleton: Beim Lucerne Festival dämmert Michael Stallknecht der Grund für die ungebrochene Aktualität der Gattung des Streichquartetts: Diese "scheint gerade deshalb nicht an ihr Ende zu gelangen, weil sie gewissermaßen aus lauter Enden besteht". Beim Filmfestival in Venedig begeistert sich Tobias Kniebe für die Kinofortsetzung von Edgar Reitz' Fernsehklassiker "Heimat". Till Briegleb erfreut sich beim Sommerfestival in Hamburg erst am "Sieg des Infantilen über die Autorität" und besucht dann einen "staubtrockenen Avantgarde-Gottesdienst". Die freie Kulturszene Berlins professionalisiert ihre Lobbyarbeit, berichtet Peter Laudenbach. Christoph Haas gratuliert dem Comicmeister Robert Crumb zum 70. Geburtstag. Der BBC hatte dieser einst einiges zu beichten:



Auf der Medienseite berichtet Joachim Hentschel von einem Treffen mit Vince Gilligan, dem Drehbuchautor und -regisseur der Serie "Breaking Bad", deren letzte Episode Ende September ausgestrahlt wird, was weltweit für Wallungen sorgt: "Vermutlich, weil noch keine Fortsetzungsshow der Fernsehgeschichte mit so viel gebremster Wucht, solchem existenzphilosophischem Aplomb, so viel heißer, schluchttiefer Verhängnisliebe auf ihr eigenes Ende zugesteuert ist, von der ersten Episode an."

Besprochen werden eine Friedrich-Bury-Werkschau im Historischen Museum Schloss Philippsruhe in Hanau, die Filmkomödie "Hasta la vista, Sister!", das neue Album des Rappers Thebe Neruda Kgositsile und Bücher, darunter T.C. Boyles neuer Roman "San Miguel" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 30.08.2013

Nach dem Auftauchen von 13 Kisten mit Korrespondenzen von Thomas Mann, die inhaltlich nicht erschlossen, geschweige denn katalogisch erfasst sind, befindet sich das Thomas-Mann-Archiv in Zürich derzeit in arger Erklärungsnot, berichtet Tilmann Lahme. Allein, es findet sich keiner, der Auskunft zu geben imstande ist: "Die Verantwortlichen des TMA möchten am liebsten gar nicht über die peinliche Sache sprechen, zumal es juristisch offene Fragen und auch persönliche Verwerfungen zu geben scheint. Aus der Handvoll langjähriger Mitarbeiter des Archivs (...) ist einer, der ehemalige Leiter, seit anderthalb Jahren fort, eine andere ist die neue Leiterin, der Arbeitsvertrag einer dritten wird gerade aufgelöst. Derzeit bemüht man sich im TMA, die Herkunft der aufgetauchten Briefbestände zu rekonstruieren - auch das führt auf dunkle Pfade."

Weiteres: Trotz Online-Konkurrenz und einknickender Ketten-Buchkaufhäuser: Die Traditionsbuchhandlung Osiander expandiert, berichtet Hannes Hintermeier. Nadja Küchenmeister erinnert sich an ihre Jugend in den 90ern in Berlin-Hellersdorf zwischen Platte und Nazis. Außerdem bringt die FAZ einen Auszug aus Raphael Gross' Buch über die Pogrome im November 1938, die er als zentrale Zäsur in der deutsch-jüdischen Geschichte begreift: "Durch ihren öffentlichen Charakter stellten sie in gewisser Weise den sichtbarsten Teil dessen dar, was später Holocaust oder Shoah genannt wurde."

Besprochen werden neue Schallplatten, darunter ausführlicher der zehnte Teil aus Bob Dylans Bootleg-Serie, Michael Winterbottoms neuer Film "The Look of Love" und Bücher, darunter Martin Walsers "Die Inszenierung" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).