28.09.2013. Im Guardian erklärt die Reporterlegende Seymour Hersh, was wir Edward Snowden zu verdanken haben. In der Welt verrät Lech Walesa, was er von Politikern hält: "Das sind alles Langweiler." Außerdem schreibt der brasilianische Schriftsteller Paulo Scott über die Missstände in seinem Land. Die NZZ Diderot und Verdi. Die FAZ taumelt trunken vor Glück durch das Metropolitan Museum in New York. Und Die SZ sucht im deutschen Fernsehen die Gegenwart, findet aber nur eine regionale Wasserleiche.
Weitere Medien, 28.09.2013
Lisa O'Carroll hat den berühmten investigativen Reporter
Seymour Hersh in London getroffen. Er bereite gerade ein Buch über "nationale Sicherheit" vor,
schreibt sie im
Guardian, und er spricht auch über
Edward Snowden: "He is certain that NSA whistleblower Edward Snowden 'changed
the whole nature of the debate' about surveillance. Hersh says he and other journalists had written about surveillance, but Snowden was significant because he provided documentary evidence - although he is sceptical about whether the revelations will change the US government's policy." Hersh hat auch einen Vorschlag zu Verbesserung des aktuellen Journalismus: 90 Prozent der Redakteure entlassen.
Welt, 28.09.2013
Thomas Abeltshauser
unterhält sich mit dem ehemaligen Gewerkschaftsführer und polnischen Staatspräsidenten
Lech Walesa und dem Regisseur
Andrzej Wajda, der gerade einen Film über ihn gedreht hat. Im Interview verrät Walesa das
Geheimnis seines Erfolges: "Ich mag im Grunde Politik nicht und erst recht keine Politiker. Das sind
alles Langweiler, mit einer Sprache, die keiner versteht. Ich schwor mir also, nie langweilig zu sein und meine Reden hin und wieder mit einem Witz aufzulockern. Dann merken sich es die Leute auch eher. Klar waren die oft recht simpel, aber so konnte ich auch mein
Unwissen in vielen Belangen überspielen."
Weiteres: Richard Kämmerlings
schreibt zum Tod der Dichterin und Lektorin
Elisabeth Borchers. Dana Buchzik
plaudert mit
David Sedaris bei einer Tasse Milchkaffee in Berlin.
William Boyd hat ein Buch mit
James Bond in der Hauptrolle geschrieben,
berichtet Thomas Kielinger. Besprochen werden
Justin Timerlakes neues Album "The 20/20 Experience 2 of 2" (das "ganz auf den Unterleib ausgepegelt" ist, wie Harald Peters
feststellt) und ein von
Leaner Haußmann gedrehter "Polizeiruf 110", der morgen Abend in der
ARD läuft ("böse, traurig, zum Weinen komisch",
schwärmt Elmar Krekeler).
In der
Literarischen Welt geht es durchweg um das das Gastland der diesjährigen Buchmesse:
Brasilien. Aufmacher ist ein engagierter Essay, in dem der
Schriftsteller Paulo Scott die politischen und sozialen Missstände
schildert und sich von den Leistungen seiner Generation enttäuscht zeigt: "Es lässt sich auch nicht länger leugnen, dass meine Generation - geprägt von den jungen politischen
Aktivisten der Achtzigerjahre, die geschworen hatten, die Fehler der vorangegangenen Generationen nicht zu wiederholen - gescheitert ist... Tatsächlich müsste meine Generation auf die Straße gehen, um
gegen sich selbst zu protestieren - weil sie zynischerweise eine Haltung absoluter Toleranz und Nachgiebigkeit gegenüber alldem angenommen hat, was wir in unserer Jugend angegriffen haben."
Weiteres:
Abgedruckt ist die bisher unveröffentlichte Erzählung "Heimliches Glück" der Autorin, Diplomatin und feministischen Ikone
Clarice Lispector. Besprochen werden außerdem mehrere Bücher von und über
Lispector sowie
David Galeras Roman "Flut",
Chico Buarques Roman "Vergossene Milch",
Ernst Jüngers Brasilienbericht "Atlantische Fahrt",
Ursula Prutschs und
Enrique Rodrigues-Mouras Kulturgeschichte Brasiliens und die von
Hanns Zischler,
Sabine Hackethal und
Carsten Eckert herausgegebenen Reisedokumente des Naturkundlers
Friedrich Sellow.
NZZ, 28.09.2013
Sehr gelehrt widmet sich
Literatur und Kunst heute den beiden Titanen
Verdi und
Diderot, die vor zweihundert respektive dreihundert Jahren geboren wurden. So
zeichnet der
Musikwissenschaftler Anselm Gerhard nach, wie der angeblich einfache "Komponist schöner Melodien" von Anfang an in Konkurrenz zum vermeintlich intellektuelleren Wagner stand: "Die an der internationalen Avantgarde orientierten Aristokraten und die wenigen kunstbeflissenen Großbürger in Italien wussten genau, dass sie Meisterwerke wie 'Rigoletto', 'La traviata' und 'Il trovatore' trotz deren vermeintlich einfacher Faktur nicht einfach verdammen konnten. So fanden sie eine Formel, die es ihnen erlaubte,
Wagner zu verehren und dennoch nicht als Vaterlandsverräter dazustehen: Verdi bekam seinen Platz als 'Komponist der
italienischen Revolution', in den vom Adel kontrollierten Theatern wie in Bologna wurde aber weit mehr Wagner gespielt. Selbst in Verdis Mailand wählte
Arturo Toscanini im Dezember 1898 für die Wiedereröffnung der Scala nach einjähriger Schließung - 'Die Meistersinger von Nürnberg'." Peter Gisi
macht sich zudem an eine tonartliche Neuinterpretation von Verdis Werk.
Der französische
Literaturwissenschaftler Jean Starobinski schwärmt im Interview mit Martin Zingg vom dynamischen Denken des großen Aufklärers: "In den meisten Texten zeigt Diderot
eine Fröhlichkeit, einen großen Elan, er improvisiert. In den großartigen 'Salons', seinen Berichten über die Kunstausstellungen der Königlichen Akademie der Künste, macht er jeden Augenblick Entdeckungen. Und selbst dort, wo die Gemälde von geringer Bedeutung sind, gibt es
ein Glück der Entdeckung, ein Glück der Überraschung. Er formuliert bisweilen sehr genaue und tiefe Überlegungen, und plötzlich landet er wieder ganz woanders." Ulrich Kronauer
führt in Leben und Werk ein.
Im Feuilleton
zeigt sich Angela Schader nicht ganz überzeugt von
Thomas Pynchons neuem Roman, der ihr etwas zu nonchalant den 11. September hinter sich lässt. Marion Löhndorf erklärt die immer wieder aufbrandende Debatte um den Londoner Fußballclub
Tottenham Hotspurs, dessen Fans sich - in Umkehrung des alten Schmähbegriffs - die "
Yid Army" nennen.
Besprochen werden der
Ballettabend "Absolut Dansa" in Basel und
Hannes Steins Roman "Der Komet" (siehe auch unsere
Bücherschau ab 14 Uhr).
Aus den Blogs, 28.09.2013
Am 10. Oktober soll die deutsche
Huffington Post an den Start gehen. Noch sucht sie allerdings Blogger und Autoren, die bereit sind, für sie kostenlos zu arbeiten. Wie etwa
Stefan Niggemeier melden kann: "Auch ich habe eine Anfrage aus München bekommen, ob ich nicht
als '
Kontributor' für ein Online-Angebot schreiben möchte. Ich könnte so, dank der großen Reichweite des Burda-Portals, meine Themen noch bekannter machen und einem großen Leserkreis präsentieren, dürfte für mich werben und auf mein Blog und Bücher oder ähnliches verlinken."
TAZ, 28.09.2013
Warum begehren die Menschen weltweit auf, nur nicht in
Deutschland, wo doch um die Jahrtausendwende ebenfalls noch (globalisierungskritische) Aufbruchstimmung herrschte,
fragt sich Martin Kaul, der berufsmäßige
Globetrotter-
Aktivisten bei ihrer Arbeit beobachtet hat. "Alles was es [hierzulande] gibt, sind Strategien. Plena, Gesprächsrunden, Telefonkonferenzen. Es gibt Hunderte Kleingruppen, Vereine und Verbände. Es gibt
Kletteraktivisten und Ankettaktivistinnen und Bauern, die mit ihren Treckern Straßen blockieren. Es gibt Bewegungsprofis, die dafür bezahlt werden, Internetkampagnen zu entwerfen ... In Deutschland gibt es ein Wort für diese Aktivistenszene, die irgendwie zusammengehört, aber ganz sicher auch irgendwie nicht:
Mosaiklinke."
Außerdem:
Rezzo Schlauch ergründet die Wahlschlappe der
Grünen. Bettina Rühl
protokolliert die Erinnerungen des Kriegsreporters
Mohamed Abdi an seine Erlebnisse in Mogadischu. Frauke Vogel
porträtiert Serkan Deniz und
Erol Yildiz, die in Berlin ein
türkisches Metalfestival auf die Beine stellen. Thomas Winkler
spricht mit dem Berliner
Konzertveranstalter Berthold Seliger. Jens Uthoff
berichtet vom Weltmusik-Festival im
Nordkaukasus, das nur unter Polizeischutz stattfinden konnte. Frank Keil
besucht den
Schriftsteller Arno Surminski auf ein Gespräch. Jan Freitag
führt durch das
Programm des Hamburger
Comic-
Festivals.
Besprochen werden
Young Jean Lees auf Kampnagel aufgeführte
Performance "Untitled Feminist Show" und Bücher, darunter
Susan Sontags Tagebücher von 1964 - 1980 (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
Und
Tom.
SZ, 28.09.2013
Sehr böse, wie Alexander Gorkow kurz vor der Verleihung des
Deutschen Fernsehpreises auf der Meinungsseite das hiesige
Fernsehen und seinen Biedersinn trotz relativer Quotenfreiheit
aufspießt. "Jede Gegenwart braucht Erzählungen, um nicht
böser Banalität anheimzufallen. Soll also die deutsche Gegenwart tagein, tagaus durch Kommissare erzählt werden, die auf eine
jeweils regionale Wasserleiche starren? ... Während Produzenten in den USA also ein altes Medium wie das Fernsehen und die Distributionsmöglichkeiten des Internet für eine Renaissance des Erzählens
nutzen, stehen in Deutschland Sendeanstalten herum, deren Organigramme aussehen wie die von
mittelgroßen Ländern."
Im Feuilleton nimmt Heribert Prantl den Deutschen ihre Angst vor einer vemeintlich schwachen
Minderheitsregierung: "Fast alle großen politischen Weichenstellungen in der Geschichte der Bundesrepublik wurden in kleinen Koalitionen getroffen ... Eigentlich müsste nicht die Minderheitsregierung, sondern die große Koalition einem Demokraten etwas
suspekt sein. Eigentlich. Denn die große Koalition
entwertet die demokratische Wahl, schwächt die Opposition".
Weiteres: Alexander Hosch würdigt den 2007 verstorbenen Künstler
Ettore Sottsass als Netzwerker und Vordenker einer Pop-Postmoderne. Reinhard J. Brembeck stellt den Dirigent
Pablo Heras-
Casado vor (
hier im Porträt des
br). Diedrich Diederichsen
würdigt die
Goldenen Zitronen in seiner Besprechung ihres neuen Albums als "
Meister der schnarrenden, schneidenden, höhnischen, bösen, sarkastischen, beleidigenden, aber auch
beleidigten Aufzählung". Eine Kostprobe:
"Nicht das Internet bedroht den
Journalismus im 21.Jahrhundert - sondern Pessimismus", schreibt Thorsten Schmitz auf der Medienseite in einer Reportage über
glücklich werkelnde Printredaktionen.
Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von
Hélio Oiticica im
MMK Frankfurt,
Johan Simons Inszenierung von "Dantons Tod" an den
Münchner Kammerspielen,
Ethan Coens in New York uraufgeführtes Stück "Women or Nothing" und Bücher, darunter
Imre Kertészs Tagebücher aus den Jahren 2001 bis 2009 (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
In der
SZ am Wochenende kann
@Alex Rühle nur die Augen verdrehen angesichts der Abscheu, die das Feuilleton nun nach dem Wahldebakel der
Piraten gegenüber dem
Internet und
Twitter demonstrativ
zur Schau stellt: "Von außen auf
Twitter zu schauen, das ist, als würde man bei einer Universität das Dach abnehmen und von oben reinschauen - meine Güte, wird da
durcheinandergequasselt. Als Student aber sucht man sich ja nacheinander seine Professoren".
Weiteres: Detlef Esslinger zeichnet die Krisengeschichte des
Liberalismus in Deutschland nach. Katharina Riehl porträtiert die Schauspielerin
Hannah Herzsprung. Helmut Martin-Jung bringt in Erfahrung, welcher Aufwand nötig ist, um
Computer-
Fußballspiele immer noch realistischer zu gestalten. Außerdem spricht Joachim Hentschel mit
Metallica-Drummer
Lars Ulrich über das Älterwerden und sein Verhältnis zu seinen Eltern.
FAZ, 28.09.2013
Beim Durchgehen der neu angeordneten Sammlung des
New Yorker Metropolitan Museum staunt Patrick Bahners geradezu Bauklötze. Insbesondere von
Keith Christiansen, den Kurator, spricht er in höchsten Tönen, hat dieser doch die ausgestellten Werke in den architektonischen Gegebenheiten zueinander gelungen ins Verhältnis gesetzt. "Christiansen, aus jahrzehntelanger Vertrautheit mit der Sammlung schöpfend, hat diese Chancen virtuos genutzt. Durchblicke holen Entferntes heran,
verblüffende Korrespondenzen lassen Raum und Zeit zusammenschnurren. An Vermeers Eckzimmer schließen sich die flämischen Säle an. In der Mittelachse des Gangs hängt ein Frauenkopf Vermeers ohne allegorischen Zierrat. Die
Augen scheinen größer zu werden, wenn man sich entfernt."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel
erzählt, auf welche verzwickte Art und Weise ein bislang nur aus Reproduktionen bekanntes
Georg-
Büchner-
Porträt seinen Weg im Original von Frankreich zurück nach Deutschland fand. Kerstin Holm schreibt ihrer neuen, alten Heimat Deutschland nach der Heimkehr von 22 Jahren Korrespondentinnendasein in
Moskau geradezu einen Liebesbrief: Die gute Luft, die vernünftige Stadtplanung und die freundlichen Polizisten stimmen sie "noch immer
fast euphorisch". Oliver Tolmein verspricht sich von einer möglich
schwarz-
grünen Koalition zumindest in bioethischer Hinsicht einiges Potenzial. Außerdem
beantworten die
Autorin Ingrid Noll und ihr Enkel Ruben Gullatz der
FAZ jeweils die selben Fragen.
Auf der Medienseite erklärt Produzent
Jan Mojto Michael Hanfeld, warum die deutschen Produktionen "Borgia" und "Unsere Mütter, unsere Väter" so hervorragend sind.
Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von
Khaled Hafez in der Berliner
Galerie Naimah Schütter, eine Aufführung von "Danton Tods" an den
Münchner Kammerspielen, der
Saisonauftakt an der
New Yorker Met und Bücher, darunter
Stephen Kings "Shining"-Fortsetzung "Doctor Sleep" (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
In der
Frankfurter Anthologie druckt die
FAZ Marcel Reich-
Ranickis bereits 1997 veröffentlichte
Hommage an
Heinrich Heines Gedicht "Ein Jüngling liebt ein Mädchen" ab:
"Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen andern erwählt;
Der andre liebt eine andre,
Und hat sich mit dieser vermählt ..."