Heute in den Feuilletons

Ein ebensolcher Daheimbleiber

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2013. Edward Snowden fordert in einem Statement, das im EU-Parlament verlesen wurde, dass die Bürger selbst über ihren Datenschutz entscheiden. Die Welt versucht herauszufinden, was Jonathan Franzen mit Karl Kraus macht. In der taz konstatiert Ilija Trojanow: Niemand liest in Brasilien. In der FAZ verschafft Sascha Lobo Botho Strauß intellektuellen Zugang zum Netz. SZ und FAZ feiern Edgar Reitz. Zeit.de debattiert über Big Data. Das New York Times Magazine bringt einen Vorabdruck aus Dave Eggers' neuem Roman "The Circle", in dem es um Überwachung in Unternehmen geht.

Aus den Blogs, 01.10.2013

(Via Spiegel Online). Die Free-Speech-Aktivistin Jesselyn Radack hat vor einem Ausschuss des EU-Parlaments ein Statement von Edward Snowden verlesen. Auf dem Blog whistleblower.org ist es in voller Länge zitiert: "A culture of secrecy has denied our societies the opportunity to determine the appropriate balance between the human right of privacy and the governmental interest in investigation. These are not decisions that should be made for a people, but only by the people after full, informed, and fearless debate."

(Via turi2) Während deutsche Zeitungen ihre Paywalls noch hochziehen, reißen amerikanische Zeitungen sie schon wieder ein, berichtet Mathew Ingram in paidcontent.org: "When the San Francisco Chronicle said that it was demolishing its news paywall in August, we wondered whether it might be the beginning of a paywall rollback trend. Now a second metro newspaper has decided to go the same route: the Dallas Morning News announced that its news content will once again be free to all web visitors starting on Tuesday, October 1."

NZZ, 01.10.2013

Sieglinde Geisel denkt anlässlich der virtuellen Ausstellung "Künste im Exil" über den Wandel von Exil und Migration nach. Michaela Nowotnick widmet sich noch einmal dem Fall des Siebenbürger Autors und Pfarrers Eginald Schlattner, der, selbst ein Opfer der Securitate, zum "tragischen Zeugen der Anklage" wurde.

Auf der Medienseite erzählt Rolf Hürzeler, gestützt auf James Smith' Buch "British Writers and MI5 Surveillance", wie schwer sich die BBC mitunter tat, ihre Unabhängigkeit gegenüber den Geheimdiensten zu behaupten.

Besprochen werden Georg Kleins Roman "Die Zukunft des Mars" und Mirko Bonnés Roman "Nie mehr Nacht" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Zeit, 01.10.2013

Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturgeschichte in Berlin, warnt auf Zeit online vor den Gefahren von Big Data: "Daten allein ergeben weder Sinn noch Wahrheit. Sie allein machen die Welt auch nicht transparenter. Im Gegenteil, sie wirkt gespenstischer denn je. Uns fällt auch schwer, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Wir sind fast automatischen Prozessen ausgeliefert und optimieren uns, ohne wirklich zu wissen wofür."

Alexander Pschera von der PR-Agentur Maisberger erinnert dagegen in einer Antwort daran, dass Big Data durchaus einige sehr positive Seiten hat. Der medizinische Fortschritt etwa machte einen Quantensprung, als man begann, systematisch Krankheitsdaten zu sammeln. Und Big Data helfe durchaus, die Welt zu verstehen: "Die Komplexität unserer Welt ist zu groß geworden, um noch einem idealistischen, maschinenfreien Erkenntniskonzept anzuhängen, in dem Wahrheit immer subjektiv bleiben muss. Datenabwehr ist ein romantischer Verteidigungsreflex des in Bedrängnis geratenen abendländischen Denkens, das sich lieber in Obskurantismus flüchtet, als sich dem Maschinengehirn anzuvertrauen. Der Weg in die geistige Provinz ist vorgezeichnet."

Weitere Medien, 01.10.2013

Das New York Times Magazine bringt einen Vorabdruck aus Dave Eggers' neuem Roman "The Circle", in dem es um die perfiden Kontrolltechniken in der schönen neuen Arbeitswelt Kaliforniens geht. Mae hat ihren ersten Arbeitstag beim Internetgiganten Circle, und der Kollege aus der Technik war so nett, alle Daten von ihrem Laptop und Handy auf das superneue Tablet zu überspielen, das ihr von der Firma gestellt wurde: "'O.K. Now everything you had on your other phone and on your hard drive is accessible here on the tablet and your new phone, but it's also backed up in the cloud and on our servers. Your music, your photos, your messages, your data. It can never be lost. You lose this tablet or phone, it takes exactly six minutes to retrieve all your stuff and dump it on the next one. It'll be here next year and next century.' They both looked at the new devices. 'I wish our system existed 10 years ago,' he said. 'I fried two different hard drives back then, and it's like having your house burn down with all your belongings inside.' 'Thank you,' Mae said."

In Jezebel findet Katie J.M. Baker allerdings einige Ähnlichkeiten mit dem 2012 erschienenen Buch der Facebook-Mitarbeiterin Kate Losse, "The Boy Kings": "I reached out to Eggers for comment, but haven't heard back and don't expect I will, since he hasn't made a peep since Losse began pointing out the similarities between the two books earlier this month. Losse (whom I've met) said she's equally outraged by the mainstream media's ignorance as she is with Eggers for possibly appropriating her story." Die Leserkommentare zeigen sich nur halb überzeugt von den Ähnlichkeiten.

Welt, 01.10.2013

Wieland Freund deutet Jonathan Franzens bisher nur auf Englisch erschienenes Buch "The Kraus-Project" als Essay über einen doppelten Vatermord: "Franzen hat sich mit den Essays 'Heine und die Folgen' und 'Nestroy und die Nachwelt' Kraus' berühmteste 'Erledigung' und andererseits eine seiner schönsten 'Rettungen' zur Übersetzung ausgesucht. Er deutet Kraus' wüste Attacke auf Heine als Vatermord und die leidenschaftliche Nestroy-Rauspauke als Versuch, einen Vater zu finden. Und damit wird aus dem 'Kraus-Projekt' ein Spiegelkabinett: Was über dem Strich geschieht - die Abgrenzung gegen Heine, die Annäherung an Nestroy - wiederholt sich unten, wo der Apparat explodiert und zur Erzählung wird: Plötzlich steht da die Geschichte des zwanzigjährigen angehenden Romanciers Jonathan Franzen zu lesen, der einen Vater zu morden und einen Vater zu finden hat."

Weitere Artikel: Michael Pilz unterhält sich mit Rammstein-Sänger Till Lindemann über dessen Gedichte, die jetzt in einem Buch herauskommen. Hanns-Georg Rodek möchte in der Tatsache, dass der iranische Filmregisseur Mohammad Rasoulof bei seiner Ankunft in Teheran nicht verhaftet wurde, als "kleines Zeichen der Hoffnung sehen, wie das der Freilassung der Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh, die eine elfjährige Haftstrafe verbüßte". Matthias Kamann besucht Hans Küng, der gerade seine Autobiografie abgeschlossen hat. Kai Luehrs-Kaiser meldet, dass die New York City Opera pleite ist, in Deutschland die Kultur jedoch derzeit Konjunktur hat.

Besprochen wird die Uraufführung von Robert Lepages Schauspiel "Playing Cards. Hearts" bei der Ruhrtriennale.

TAZ, 01.10.2013

Ilija Trojanow möchte niemanden die Freude an Brasiliens Gastauftritt bei der Buchmesse verderben, muss aber doch berichten, dass Bücher in dem Land selbst kaum eine Rolle spielen. "Niemand liest, nicht einmal flüchtig in Zeitungen oder Zeitschriften", hat er beobachtet: "An den Strand geht man doch nicht, um zu lesen, erklärte mir ein junger Brasilianer, sondern um zu schwatzen oder zu spielen. Wir sind ein visuelles und ein musikalisches Volk, behauptete eine literaturaffine Dame. Aber reicht das aus, um zu begründen, wieso es in der 3-Millionen-Stadt Salvador, der drittgrößten Metropole Brasiliens, abgesehen von einigen wenigen Läden in den gewaltigen Shoppingmalls weit und breit keine Buchhandlung gibt?"

Weiteres: Micha Brumlik denkt in seiner Kolumne über das neue Konzept der Grünen Gerechtigkeit nach, will aber nicht glauben, "dass schlecht bezahlte, prekäre Arbeiten bei guter Luft und mildem Klima eher zu ertragen sind als bei Hitze und Dreck." Thomas Abeltshauser berichtet vom Filmfestival San Sebastian.

Besprochen werden Andrea Breths "Hamlet" in der Wiener Burg ("Diese Dänen sind unglaublich distinguierte Leute", lernt Uwe Mattheiss), eine Performance von Sasha Waltz im Karlsruher ZKM und Alfonso Cuaróns Weltraum-Abenteuer "Gravity" mit Sandra Bullock und George Clooney.

Und Tom.

SZ, 01.10.2013

Die ganze erste Feuilletonseite ist Edgar Reitz' neuem, vierstündigen Film "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht" gewidmet, mit dem der Regisseur seinem Fernsehklassiker "Heimat" (hier eine umfangreiche Fansite) ein 80 Jahre vor diesem situiertes Prequel voranstellt. Philipp Stadelmaier musste im Kino bei einer besonders traurigen Szene leise schluchzen: "Alles ist Abschied. Würden nicht die eigenen Tränen die Sicht auf diese Liebesszene trüben, eine der unvergesslichsten des deutschen Kinos, man sähe: Es ist der Film selbst, der weint."

David Steinitz hat sich unterdessen mit Edgar Reitz getroffen, der trotz seiner bald 81 Jahre gar nicht daran denkt, altmodisch zu werden: "Die bemerkenswert plastischen Schwarz-Weiß-Bilder (...) hätten er und sein Kameramann Gernot Roll (...) ohne die modernen hochauflösenden Kameras nicht hinbekommen. Also keine Nostalgie, wie bei so manchem Hollywood-Dinosaurier, der dem physischen Filmmaterial und seinem Flimmerzauber hinterherweint? 'Das Filmkorn wurde immer bekämpft, solange es Filmmaterial gab - und jetzt soll es plötzlich ein ästhetischer Vorteil sein? Nein, wirklich nicht.'"

Außerdem hat Burkhard Müller eine Konferenz der Deutschen Akademie in Budapest besucht, die dort mit den Intellektuellen vor Ort in Dialog treten wollte. Nochmal deutlich wurde ihm dabei das Dilemma im Umgang mit der nationalistischen Orbán-Regierung, die allerdings demokratisch legitimiert ist: " Der Westen ist es gewohnt, die 'demokratischen Grundrechte' als ein unaufschnürbares Gesamtpaket zu behandeln."

Besprochen werden eine Ausstellung über den Schriftsteller Warlam Schalamow im Literaturhaus Berlin, Caspers neues Album "Hinterland" ("mehr Springsteen als Jay Z, voll von Referenzen an Americana, Folk und Rock'n'Roll", staunt Davide Bortot), Luigi Nonos "Intolleranza 1960" am Stadttheater Augsburg, der Saisonauftakt am Schauspiel Köln und Bücher, darunter Leon de Winters neuer Roman "Ein gutes Herz" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 01.10.2013

Dass es nicht der Tagebuch schreibende Erzähler ist, der am Ende von Edgar Reitz' "Heimat"-Prequel nach Brasilien auswandert, sondern sein praktisch veranlagter Bruder, erscheint Andreas Kilb nur plausibel: "Der erste Dichter, der nach dem mythischen Homer ins Licht der Geschichte tritt, der Grieche Hesiod, war ja ein ebensolcher Daheimbleiber, er fütterte mit grimmigem Neid seine Ochsen, während seine umtriebigeren Landsleute das Mittelmeer befuhren. Die Bücher aber, die Hesiod zu Hause verfasste, 'Werke und Tage' und die 'Theogonie', sind der Anfang der schriftlichen Überlieferung im Abendland..."

Sascha Lobo setzt sich in einem längeren Essay mit internetkritischen Äußerungen Günter Grass' und Botho Strauß' auseinander, dem er immerhin ein intellektuelles Gewicht zugesteht: Aber "Strauß beklagt, dass es keine Avantgarde mehr gebe, kaum noch 'neue unzugängliche Gärten' existierten. Er übersieht, dass es beides gibt. Er hat nur offenbar keinen eigenen Zugang mehr dazu."

Weitere Artikel: Hannah Lühmann unterhält sich mit Leon de Winter über dessen Theo van Gogh-Roman "Ein gutes Herz". Jürg Altwegg schildert die Alptraumszenarios der helvetischen Armee ("Die Sozialisten haben Frankreich ruiniert, es zerfällt in verschiedene Teile. An der Grenze zur Schweiz hat sich die Provinz 'Saônia' gebildet"). Gemeldet wird, dass sich jetzt auch Rechtsanwälte gegen die Totalüberwachung aussprechen. Kerstin Holm bringt weitere besorgniserregende Nachrichten über "Pussy Riot"-Gefangene Nadeschda Tolokonnikowa, die sich im Hungerstreik befindet. Gina Thomas erkundet einen von Zaha Hadid entworfenen neuen Ausstellungsort für die Serpentine Gallery. Auf der Medienseite schildert Patrick Bahners die (vor der Enthüllung natürlich bestrittene) Aufarbeitung von Telefonüberwachungsdaten durch die NSA. Nina Rehfeld berichtet ausführlich über das Ende von "Breaking Bad". Und Oliver Jungen berichtet über die Jahrestagung der Dokumentarfilm-Initiative.

Besprochen werden Luigi Nonos Oper "Intolleranza 1960" in Augsburg, eine "Amphitryon"-Bearbeitung Karin Henkels im Zürcher Theater, das Videospiel "Grand Theft Auto 5", eine Aufnahme mit Cello-Sonaten von Bernhard Romberg (einem Jugendfreund Beethovens) eingespielt von Davit Melkonyan und Mikayel Balyan und Bücher, darunter Dietrich-Alex Kochs "Geschichte des Urchristentums" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).