Heute in den Feuilletons

Das bildfüllende Schweigen am Esstisch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2013. In der FAZ fragt Ilija Trojanow, warum er nicht in die USA einreisen darf. Keine Antwort. Die NZZ hat das attraktivste Stadtmuseum Europas entdeckt. Es steht in Barcelona. Bei den Netzpiloten erklärt Gerard Ryle vom Recherchenetzwerk ICIJ, warum Journalismus international wird. Im Atlantic erklärt Jonathan Franzen, warum er das Internet nicht mag, und was Karl Kraus damit zu tun hat. Wie lernt man Demokratie als Erwachsener, fragt Inga Pylypchuk in der Welt. Die SZ klammert sich an Deleuzes Luftwurzeln, da sie sonst die Gravity verliert. Die Zeit feiert Yasmine Hamdan und mit ihr Asmahan und wir mit ihr und ihr und ihr.

Berliner Zeitung, 02.10.2013

Diedrich Diederichsen schwebt im Siebten Himmel. Anlass ist die neue Platte von Prefab Sprout, der Band des Pop-Exzentrikers Paddy McAloon - und aus den Lautsprechern schlägt ihm "ungebremster Überschwang" entgegen. Doch "McAloon wendet sich seiner Lieblingsdisziplin der Übertreibung und Monumentalisierung von Soul und Seelenleben (...) nicht ganz ungeschützt zu. Sein beherzter Gegenentwurf zum narzisstischen Gepiepse unserer Zeitgenossen ist überraschend konventionell - gemessen am Spätwerk - in Songarchitekturen eingelassen; gönnt sich lecker herausgearbeitete Orgelschlieren oder den digitalen Streicherschmelz nur in kleinen wohl gesetzten Dosen".

NZZ, 02.10.2013

Als das "wohl attraktivste Stadtmuseum Europas" feiert Roman Hollenstein das neueröffnete Born Centre Cultural in Barcelona vor. Unter einer imposanten Markthalle, die für sich schon "das schönste und größte gußeiserne Bauwerk Spaniens" sei, wurden zudem auch noch Ruinen aus der Barockzeit freigelegt: "Die einzigartige Ruinenlandschaft des 17. Jahrhunderts, eine Art vormodernes Pompeji, ist das Hauptexponat des neuen Museums, dessen brückenartig über die Ausgrabungen verlaufende Querachse als quartierinterne Verbindung tagsüber gratis zugänglich ist. Obwohl das freigelegte Areal nur fünf Prozent des nach dem Erbfolgekrieg zerstörten Ribera-Viertels ausmacht, veranschaulicht es dessen urbanistisches Gefüge nahezu perfekt."

Besprochen werden die Schau "Salon der Angst" in der Kunsthalle Wien, eine Ausstellung im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover zu Karl May, H. G. Adlers Essays "Nach der Befreiung" und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 02.10.2013

Gerard Ryle vom internationalen Recherchenetzwerk ICIJ, das unter anderem die "Offshoreleaks" veröffentlichte, war auf Einladung von Irights.info in Berlin. Im Gespräch mit Tobias Schwarz von den Netzpiloten erklärt er, warum er an eine Internationalisierung des Journalismus glaubt: "Heutzutage sind die meisten Geschichten länderübergreifend. Wenn zum Beispiel hier in Deutschland eine Epidemie ausbricht, wird das gleiche wahrscheinlich auch in den USA oder Kanada oder sonst wo in Europa passieren. Kombiniert man jetzt die Rechercheergebnisse der verschiedenen Journalisten aus unterschiedlichsten Ländern und jeder hat Zugang zu den spezifischen Informationen von vor Ort, wird die Geschichte im Ganzen meist besser."

TAZ, 02.10.2013

Geradezu versunken ist Anke Leweke in dem bedrückenden Deutschland des 19. Jahrhunderts, das Edgar Reitz in seiner "Anderen Heimat" entwirft: "Die schweren Kleider erscheinen eine Last beim Tragen, doch schützen sie vor Wind und Wetter. Auch wenn die Kamera in den Backstuben und Werkstätten die müden, überarbeiteten Gesichter von Jakobs Eltern aus nächster Nähe zeigt, ermöglicht das Cinemascope-Verfahren einen größeren Ein- und Überblick. Eine Welt wird durch Möbel und Werkzeuge, durch routinierte Handgriffe lebendig. Oder durch das bildfüllende Schweigen am Esstisch nach einem weiteren anstrengenden Arbeitstag. Auch durch die Sprache: einen schroffen Singsang, der heute in Deutschland nicht mehr existiert und nur in den Enklaven Hunsrücker Einwanderer in Brasilien überlebt hat."

Besprochen werden Steven Soderberghs Fernsehdrama über den schwulen Frauenschwarm und exzentrischen Entertainer "Liberace", Michel Gondrys Verfilmung von Boris Vians "Der Schaum der Tage" und Barry Levinsons Horror-Mockumentary "The Bay" auf DVD. Außerdem empfiehlt Thomas Groh eine Berliner Filmreihe zum amerikanischen Independentkino.

Silke Burmester warnt angesichts jüngster Vorkommnisse bei Verfassungsschutz und Nachrichtenmagazinen vor den Gefahren der Verwechslung: "Hallo, taz-Medienredaktion! Verwechselst du auch manchmal Leute? Kommt es vor, dass du an den Empfang gehst und fragst, ob du den freien Autoren endlich mehr Geld zahlen kannst, und dann fällt dir hinterher auf, der Typ hinter dem Tresen war gar nicht Ines, die Chefredakteurin? Nee?"

Und Tom.

Weitere Medien, 02.10.2013

Im Gespräch mit Joe Fassler vom Atlantic erklärt Jonathan Franzen, warum er das Internet nicht mag und Karl Kraus ihm dabei geholften hat: "The groupthink of the Internet and the constant electronic stimulation of the devices start to erode the very notion of an individual who is capable of, say, producing a novel. The phrase I reached for to describe all this was 'an infernal machine.' Something definitionally consumerist, something totalitarian in its exclusion of other ways of being, something that appears in the world and manufactures our desires through its own developmental logic, something that does damage but just seems to keep perpetuating itself. The sentence that summed this up for me owed a lot to Kraus's writing: 'Techno-consumerism is an infernal machine.'"

Welt, 02.10.2013

Eine Revolution macht noch keine Demokratie, das hat Inga Pylypchuk in der Ukraine selbst gelernt. Und auch in Russland ist es nicht anders, wo trotz einiger Erfolge der Demokratiebewegung Nadeschda Tolokonnikowa großen Mut braucht, um die Bedingungen im Arbeitslager öffentlich zu machen: "Wer eine Fremdsprache im Erwachsenenalter lernt, kann vielleicht verstehen, was es heißt, Demokratie im Erwachsenenalter zu lernen. Unmöglich ist es nicht. Aber es holpert mal an der Aussprache, mal am Verständnis der Begriffe. Und es braucht einfach viel mehr Zeit."

Im Feuilleton kann Iris Alanyali es nicht fassen, welchen Mist das deutsche Fernsehpublikum freiwillig guckt. Manuel Brug kommentiert die Ergebnisse der jährlichen Best-of-Umfrage der Zeitschrift Opernwelt. Der Rabbiner Walter Rothschild trauert den Landser-Heften hinterher. Dirk Peitz schreibt den Nachruf auf den "Breaking Bad"-Helden Walter White. Gerhard Gnauck berichtet über einen juristischen Streit zwischen dem Erben des "Pianisten" Wladyslaw Szpilman und der Biografin Wiera Grans: es geht um Vorwürfe der Kollaboration mit den Nazis.

Besprochen werden Edgar Reitz' Film "Die andere Heimat" und der Bildband "Farbe für die Republik" über den Alltag in der DDR.

FAZ, 02.10.2013

Dem Autor Ilija Trojanow, der zusammen mit Juli Zeh den bekannten Aufruf zum NSA-Skandal verfasste, wurde die Einreise in die USA verweigert - und er wurde nicht zum ersten Mal von amerikanischen Einreisebehörden schikaniert. "Es ist mehr als ironisch", schreibt er, "wenn einem Autor, der seine Stimme gegen die Gefahren der Überwachung und des Geheimstaates im Staat seit Jahren erhebt, die Einreise in das 'land of the brave and the free' verweigert wird. Gewiss, ein kleiner Einzelfall nur, aber er illustriert die Folgen einer desaströsen Entwicklung und entlarvt die naive Haltung vieler Bürger, die sich mit dem Mantra 'Das betrifft mich doch nicht' beruhigen."

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier kommentiert jüngste Mikrotheaterskandale um Stücke von Daniel Kehlmann und Dea Loher. Hermann Parzinger von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz erklärt, warum ein Museum der Kunst des 20. Jahrhunderts am Berliner Kulturforum eine gute Sache sein wird. Matthias Grünzig erkundet das vom Berliner Architekten Reiner Becker entworfene Bildungsforum in Potsdam (Bilder). Der Blogger Emran Feroz beklagt den Wahlerfolg der FPÖ. Aus der amerikanischen Zeitschrift The Baffler übernimmt die FAZ einen Artikel Michelle Sterlings, die als eine der ersten Ausländerinnen erkannt hat, dass Berlin nach innen gar nicht so hip ist, wie es nach außen tut. Auf der Medienseite führt Sandra Kegel in die neueste Staffel der dänischen Serie "Borgen" ein, die ab morgen auf Arte läuft.

Sascha Lobos gestrige Kritik an Botho Strauß' kürzlich beim Spiegel veröffentlichten Essay "Der Plurimi-Faktor" steht jetzt online.

Besprochen ein Folk-Revival-Abend in New York werden zwei Ausstellungen brasilianischer Künstler in Frankfurt, Michel Gondrys Verfilmung von Boris Vians Roman "Der Schaum der Tage", Ereignisse des Festivals "Klangspuren" in Schwaz und Bücher, darunter Gabriela Adamesteanus Roman "Der gleiche Weg an jedem Tag" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 02.10.2013

Völlig losgelöst schwebt die SZ heute mit Alfonso Cuaróns neuem Science-Fiction-Film "Gravity" durchs All. Fritz Göttler greift im Orbit zu italienischer Filmkunst und französischer Filmtheorie: "'Gravity' ist Kino der Zukunft - von solch einem SF-Film hat womöglich auch Antonioni immer geträumt -, er erinnert an die Zirkulation als einer natürlichen Qualität des modernen Kinos und an seine Dialektik, die, so schrieb Deleuze, nicht mehr aus der Zeit das Maß der Bewegung macht, sondern aus der Bewegung eine Perspektive der Zeit."

Regisseur Alfonso Cuarón steht unterdessen Tobias Kniebe Rede und Antwort und schwärmt dabei von der tödlichen Allmacht des Weltraums: "Es gibt auch bei uns dieses Gefühl des großen Loslassens, das im All zwar tödlich ist, das einen aber auch mit Glück erfüllen kann, mit der ultimativen Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit im Universum."

Außerdem: Dem Schriftsteller Ilija Trojanow wurde die Einreise in die USA verwehrt, meldet die SZ: "Trojanow ist überzeugt, dass die Schikane mit seinen Stellungnahmen gegen die staatliche Überwachung und die NSA zu tun hat." Michael Stallknecht fegt beim Besuch des 17. Philosophicums in Lech zusammen, was vom Ich geblieben ist. Annette Reschke vom Verlag der Autoren verteidigt im Gespräch mit Peter Laudenbach die Verlagsentscheidung, weitere Bremer Aufführungen von Dea Lohers "Unschuld" wegen zu starker Texteingriffe - so wurde eine zentrale Figur komplett gestrichen - zu untersagen. Ursula Pia Jauch erinnert an Diderots Geburt vor 300 Jahren. Und Thomas Steinfeld besucht die Baden-Badener Ausstellung "Kindheit".

Außerdem jetzt online: Alex Rühles Lob auf Twitter aus der Wochenendausgabe.

Zeit, 02.10.2013

In der Musikbeilage interviewt Thomas Groß die libanesische Sängerin Yasmine Hamdan, die den brüchigen Gesangsstil von Neil Young und PJ Harvey ebenso bewundert wie die Koloraturen von Asmahan, einer unwahrscheinlich glamourösen ägyptisch-syrischen Sängerin aus den vierziger Jahren. Das erste mal habe sie Asmahan in Beirut gehört, erzählt Hamdan, in einer Bar, wo sie "wie verrückt tanzte. Als dann zwischen dem ganzen westliche Pop plötzlich ein Stück von ihr lief, fühlte ich mich wie vom Blitz getroffen. Diese Frau klang so selbstbewusst, so modern, so ... intellektuell." Das Stück inspirierte Hamdan, eine CD mit traditionellen Liedern aufzunehmen und etwas ganz neues daraus zu machen. Hier singt sie "Ya Habibi Taala":



Und hier das gleiche Stück von Asmahan:



Von einem ähnlichen Erweckungserlebnis wie Yasmine Hamdan berichtet die weiße amerikanische Singer/Songwriterin Jana Herzen, als sie nach einer Tour durch Japan, Bali, Australien zurück in Kalifornien afrikanische Reggaemusiker traf: "'All diese Polyrhythmen zu hören, das hat mein Gehirn neu eingestellt', so beschreibt sie die Wirkung dieser neuen musikalischen Erfahrungen: 'Zu begreifen, wie die verschiedenen Stimmen ineinandergreifen, der Bass, die Trommeln und die Gitarre - so etwas gibt es im Folk nicht.'" Herzen hat inzwischen ihr eigenes sehr erfolgreiches Label Motéma gegründet, das Stefan Hentz vorstellt. Hier was zum Hören.

Außerdem: Carolin Pirich stellt den Pianisten Kit Armstrong vor, der zur Entspannung Mathematikaufgaben löst und nur knapp dem Wunderkind-Schicksal entkommen ist: Er hat jetzt eine CD mit Werken von Bach, Ligeti und einer eigenen Bach-Fantasie eingespielt, die er hier erklärt und vorspielt. Volker Hagedorn rühmt den Pianisten Igor Levit: auch wenn ihm dessen Einspielung der späten Klaviersonaten Beethovens nicht hundertprozentig gefällt - Levits Vortrag von Frederic Rzewskis 36 Variationen über die Polithymne "The people united will never be defeated" bei den Kunstfestspielen Herrenhausen war der Hammer! (Hier kann man den Komponisten selbst hören) Besprochen werden weiter ein Beethoven-Zyklus von Mariss Jansons und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, CDs von Prefab Sprout und dem Jazz-Ambient-Duo Nils Petter Molvaer und Moritz von Oswald.

Im Feuilleton macht Moritz von Uslar einen Spaziergang mit Rammstein-Sänger und Dichter Till Lindemann. Thomas Assheuer wüsste gern, wie Putinfreund Gerhard Schröder über die grausamen Lagerbedingungen denkt, gegen die das Pussy-Riot-Mitglied Nadeschda Tolokonnikowa gerade mit einem Hungerstreik protestiert. Iris Radisch und Nina Pauer liefern Beiträge zur "Frauendebatte": Radisch wundert sich über das spießige Frauenbild vieler Deutscher und vor allem Journalisten, die offenbar nur Mädels und Muttis kennen. Und Pauer fragt, warum junge Frauen nur als Repräsentantinnen "der Jugend" wahrgenommen werden. Iris Berben erklärt im Interview die Bedeutung des anstehenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Abgabepflicht von Kinos für die deutsche Filmförderung, gegen die UCI geklagt hatte. Evgeny Morozov, noch etwas mitgenommen von Henry Farrells Attacke in Democracy, kritisiert alle anderen Internet-Intellektuellen. Martin Klingst meldet eine Renaissance unabhängiger Buchläden in Kleinstädten Amerikas. Christine Lemke Matwey schreibt zum 200sten von Verdi, Andreas Isenschmid zum 100sten von Claude Simon. Michael Skasa schreibt den Nachruf auf den Schauspieler Walter Schmidinger.

Besprochen werden Andrea Breths "Hamlet"-Inszenierung (gescheitert, findet Peter Kümmel, aber Hauptdarsteller August Diehl ist ganz groß), Edgar Reitz' Film "Die andere Heimat" und Steven Soderberghs "Liberace"-Biopic mit Michael Douglas und Matt Damon.

Außerdem gibt's heute die Buchmessenbeilage: Jens Jessen durfte für den Aufmacher Brasiliens Starautoren in Rio und Sao Paulo besuchen.

Das Dossier beginnt mit einer Zeit-Serie über die "Welt der Daten". Im ersten Teil geht's um die Facebook-Lobbyistin Erika Mann, die in Brüssel das neue Datenschutzgesetz entschärfen will, und um den Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht, der genau das verhindern will.