Heute in den Feuilletons

Im Maschinenraum der Sprache

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2013. In der NZZ beschreibt der Schriftsteller Luiz Ruffato die institutionalisierte Barbarei in Brasilien. Die FR würdigt Diderot als Netizen im Geiste. Die taz fragt, wer eigentlich die antirassistischen Sprachregeln festlegt. In der SZ klagt Christopher Schmidt den deutschen Literaturbetrieb an: Er sei eine Konformismusmaschine. FAZ und NZZ haben heute ihre Buchmessenbeilage in der Zeitung, beide machen mit nicht-literarischen Titeln auf.

NZZ, 05.10.2013

Die Beilage Literatur und Kunst ist ganz dem Buchmessengastland Brasilien gewidmet. So zeichnet der Schriftsteller Luiz Ruffato ein ungeschminktes Bild der aufstrebenden Wirtschaftsnation Brasilien: "Zweifellos ist unser Land ideal darauf vorbereitet, in den Kreis der Ersten Welt aufgenommen zu werden. Unser Boden birgt fast grenzenlose Ressourcen, Landwirtschaft, Viehzucht und Industrie sind diversifiziert, Produktion und Konsum versprechen ein enormes Wachstumspotenzial. Allerdings sind wir im Alltag noch immer mit einer institutionalisierten Barbarei konfrontiert, die sich nicht nur in einer konstanten physischen Bedrohung, sondern auch in der Korruption und in der absoluten Missachtung des menschlichen Lebens äußert."

Außerdem: Patrick Straumann erzählt, wie Brasilien lernte, sein ethnisch gemischtes Erbe zu akzeptieren. Cejana Di Guimarães stellt zwei brasilianische Diven vor: Rio de Janeiro und São Paulo. Kersten Knipp führt uns in die brasilianische Literaturgeschichte ein.

In der Buchmessenbeilage widmet Martin Meyer den Aufmacher dem Briefwechsel Hans Blumenberg - Jacob Taubes.

Im Feuilleton resümiert Susanne Ostwald die Zürcher Filmfestspiele. Ronald D. Gerste sieht in Amerika kurz vor dem 50. Jahrestag der Ermordung John F. Kennedys schon die JFK-Nostalgie heraufziehen. Thomas Veser würdigt die Ende des 19. Jahrhunderts von einem Textilhersteller angelegte Arbeitersiedlung Crespi d'Adda im bergamaskischen Capriate San Gervasio als "städtebauliches und architektonisches Juwel". Besprochen werden Bücher, darunter Yasar Kemals wiederaufgelegter Roman "Auch die Vögel sind fort" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 05.10.2013

Recht angeregt schreitet Hans-Joachim Müller durch die große Baselitz-Schau im Dresdner Residenzschloss. Der Maler setzt sich dort mit Gemälden auseinander, die er aus seiner Dresdner Kindheit kannte und die nun in großen Drucken neben seinen eigenen Variationen hängen: "Der Maler geht ja weder zum Staunen noch zum Kopieren ins Museum. Er erinnert sich mehr noch an seine Prägung durch die Bilder als an die Bilder selber. Es sind ferne Referenzen. Bilder, die ihre rätselhafte Wirkung getan haben, die mit irgendeinem Detail hängen geblieben sind und beim Malen mehr oder weniger Regie geführt haben."

Außerdem verteidigt Wieland Freund im Feuilleton die französische Lex Amazon, die es dem Online-Händler verbietet, preisreduzierte Bücher ohne Versandkosten anzubieten. Tilman Krause geht mit Mirko Bonné essen (und zwar im Beira Rio, Hamburg).

Besprochen werden Soderberghs "Liberace"-Film und Nikolai Rimsky-Korsakows Oper "Zarenbraut" an der Berliner Staatsoper (eine Wiederentdeckung, so Manuel Brug).

In der Literarischen Welt denkt Adolf Muschg über die Apokalypse nach. Hans Ulrich Gumbrecht schreibt über Brasilien. Richard Kämmerlings porträtiert seine Buchpreis-Favoritin Marion Poschmann. Dana Buchzik sucht in Berlin nach talentierten Literaten. Gemeldet wird, dass Jonathan Franzen den Welt-Literaturpreis erhält.

Besprochen werden in der messebedingt leicht dickeren Ausgabe unter anderen Per Olov Enquists "Buch der Gleichnisse", Volker Ullrichs tausendseitige Hitler-Biografie, Susan Sontags Tagebücher und ein Bildband über den vergessenen Wissenschaftsautor und Erfinder der Infografik Fritz Kahn.

Auf der Forumsseite seufzt Thomas Schmid mit Blick auf Silvio Berlusconi voll Hoffnung:"Vielleicht ist sein Stern wirklich untergegangen." Und Cora Stephan bekennt ihre Skepsis vor aller Revolution.

Weitere Medien, 05.10.2013

In der FR würdigt Otto A. Böhmer den vor 300 Jahre geborenen Aufklärer und Enzyklopädisten Diderot, den er sich heute gut unter den Netizens vorstellen könnte: "Vielleicht wäre Diderot sogar Mitarbeiter bei Wikipedia geworden, das er, möglicherweise, für eine verdienstvolle Unternehmung gehalten hätte, in der Liebhaberei, Dilettantismus, spielerische Leichtigkeit, bemühter Ernst und erstaunliche Gelehrsamkeit zusammenfinden." Passagenweise ist die Würdigung diesem deutlich umfangreicheren Auszug aus Böhmers Buch über "Sternstunden der Literatur" entnommen.
Stichwörter: Wikipedia

TAZ, 05.10.2013

Ulrike Fokken und Edith Kresta unterhalten sich mit dem Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit über den realen Hintergrund klassischer Mythen und die fragmentierten Körper beziehungsunfähiger Männer, die deshalb zu Kriegern oder Daddlern werden: "Männer brauchen offensichtlich das Gefühl des Zusammenwachsens mit dem Gerät, um zu einer körperlichen Ganzheit zu kommen. Das geht nicht nur mit Waffen, sondern dem ganzen elektronisch-technologischen Brimborium, das heute die Körper zur 'Ganzheit' komplettieren muss."

Arno Frank macht sich Gedanken über das Für und Wider antirassistischer Sprachregelungen. In der Sache teilt er zwar die gute Absicht, hält aber den moralischen Duktus insbesondere vor den sich regelmäßig wandelnden Begriffsmoden für verfehlt: "Welches Wort ist gerade in Quarantäne? Welches hat Freigang? Das ist Herrschaftswissen, und entsprechend schnöselig klingen die Zurechtweisungen. ... In der Moderne ist noch jedes ideologische Projekt bei dem Versuch gescheitert, einen Homo novus zu schaffen. Und nun sollen wir das hohe Ziel durch ein paar läppische Manipulationen im Maschinenraum der Sprache plötzlich selbst herbeipalavern können? Wirklich?"

Cristina Nord freut sich, dass sich im Kino Arsenal die seltene Möglichkeit bietet, einen Film von Lav Diaz zu sehen, dessen oft mehrere Stunden dauernde Werke sich mit den Problemen der philippinischen Bevölkerung befassen: "Indem Diaz seine Plots nicht auf 90 Minuten staucht, sondern auf mehrere Stunden ausdehnt, nähert er sich dem, was Paul Schrader in seinem berühmten Essay über den transzendentalen Stil einmal als 'Stasis' beschrieben hat." Bereits vor längerem hatte Cargo ein ausführliches Videointerview mit Diaz geführt.

Außerdem: Dirk Knipphals berichtet von Dreharbeiten vor seiner Haustür im Norden von Berlin-Schöneberg, die dessen Idyll zwar auf den Punkt bringen, am Ende aber doch "dem falschen Narrativ" folgen. Der Berliner Clubbetreiber Sascha Disselkamp erklärt Konrad Litschko und Gesa Steeger, warum sich der Berlinhype als negativ für sein Gewerbe herausstellen könnte. Rudolf Walther schreibt zum 300. Geburtstag des Aufklärers Diderot. Außerdem fragt die taz, ob die Gruppe Femen reaktionär ist.

Besprochen werden die Ausstellung "Dionysos - Rausch und Ekstase" in Hamburg, Lee Daniels' neuer Film "The Butler", das Berliner Konzert von MGMT, die Aufführung eines "Parsifal" in Braunschweig und Bücher, darunter Marion Poschmanns Roman "Die Sonnenposition", in den wir bereits an dieser Stelle vorgeblättert haben (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 05.10.2013

Sehr lesenswert: In der SZ am Wochenende macht Christopher Schmidt seinem Ärger über die hiesige Literaturkritik gehörig Luft. Wo er auch hinschaut: Mittelmaß. Zum einen befördere seiner Ansicht nach das Literaturpreissystem ausgewachsene Subventionskarrieren wenig lesenswerter Autoren, auf der anderen Seite stehen wegen ihrer eigenen Betriebsverbändelungen um präzise Urteile verlegene Rezensenten. Zunehmend teilt er die Sorge des NZZ-Kritikers Roman Bucheli: "Der Literaturbetrieb ist an einem Punkt angelangt, an dem er jede Abweichung vom Konformismus unterdrückt. ... Wo (...) Emphase zum Pflichtprogramm wird, möchte man doch eher nicht dabei sein. Und dass sie es längst ist, beweist das Gute-Laune-Kartell, das die Literaturseiten mittlerweile beherrscht. ... Zu großen Teilen ist Kritik inzwischen zu einer bloßen Gehilfin der Einfühlung geworden, einer nur sensibleren Form von Verkaufsprosa."

Auf zwei Feuilletonseiten feiert die SZ die materiellen Qualitäten gedruckter Bücher im Zeitalter der Durchmischung des analogen und digitalen Alltags - wodurch manche Verlage wieder ein besonderes Augenmerkt auf Materialität und Haptik bei der Gestaltung und Konzeption ihrer Veröffentlichungen setzen. So etwa auch Hans Magnus Enzensberger mit seinem 'Album', freut sich Lothar Müller: Dieses "inszeniert seine physische Gestalt als das Originalformat, dem gegenüber jede E-Book-Variante wie eine abgeleitete Version wirkt. Es verkörpert die berühmteste Einsicht des Medientheoretikers Marshall McLuhan: 'The medium is the message.' ... Seine Einsicht, dass es eine Illusion ist zu glauben, man könne einen Inhalt (...) durch alle möglichen Medienformate jagen, ohne dass dieser Inhalt dadurch berührt wird, ist nicht zuletzt ein Argument für die Zählebigkeit des gedruckten Buches."

Jo Lendle, Schriftsteller und ab kommendem Jahr Leiter des Hanser Verlags, beteuert unterdessen im Gespräch mit Thomas Steinfeld, dass sich die Digitalisierung von Literatur und Musik kaum miteinander vergleichen lässt: Schallwellen "scheren sich recht wenig darum, woher sie kommen. Beim Lesen dagegen haben wir das Trägermedium der Buchstaben die ganze Zeit vor der Nase; wir sehen jede Differenz. Daher glaube ich: Man kann sich aus guten, praktischen Gründen dafür entscheiden, einen Text auf dem Reader zu lesen - mit der Lektüre eines Buchs wird man es so schnell nicht verwechseln."

Außerdem: Peter Münch erinnert an den Jom-Kippur-Krieg und dessen Auswirkungen bis heute. Meike Fessmann gratuliert dem Autor Louis Begley zum 80., Tim Neshitov dessen Berufskollegen Yasar Kemal zum 90. Geburtstag. Für die Medienseite hat sich Cornelius Pollmer mit dem Politiker Martin Sonneborn getroffen, dem ZDF.Neo eine eigene Satiresendung einrichtet.

Besprochen werden Ron Howards neuer Film "Rush", Dmitri Tcherniakovs von Daniel Barenboim dirigierte Inszenierung der "Zarenbraut" in Berlin und Georg Kleins Roman "Die Zukunft des Mars", den wir an dieser Stelle bereits vorgeblättert haben (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 05.10.2013

Edo Reents gratuliert dem Schriftsteller Louis Begley zum Achtzigsten. Nils Minkmar nimmt Joachim Gauck vor seinem Biografen in Schutz. Gideon Kremer erklärt im Interview, welche Botschaft er mit seinem Berliner Konzert "To Russia with love" an all die senden will, die unter der mangelnden Rechtsstaatlichkeit Russlands leiden: "Ich leide mit dir. Es ist schlicht das Mitgefühl für jene, die in eine lebensbedrohende, inhumane Situation geraten sind. Ein kleines Zeichen." Michi Strausfeld stellt im Interview die Literatur des Buchmessengastlandes Brasilien vor.

Im Aufmacher der Buchmessenbeilage vergleicht Andreas Platthaus Karl Marlantes' Buch "Was es heißt, in den Krieg zu ziehen" mit Ernst Jüngers "In Stahlgewittern".

Besprochen werden die Ausstellung "Außer Kontrolle? Leben in einer überwachten Welt" im Frankfurter Museum für Kommunikation, Rimskij-Korssakows antizaristische Oper die "Zarenbraut" an der Berliner Staatsoper im Schillertheater und Ethan Coens Theaterstück "Women or Nothing" in New York.

In der Frankfurter Anthologie deutet Marcel Reich-Ranicki sein Lieblingsgedicht von Goethe:

"Alles geben die Götter"

Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz."