Heute in den Feuilletons

Jagd, Hetze und amour fou

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2013. Die taz fordert: Mehr Anerkennung für die lateinamerikanische Kunst. Der Reporter Gay Talese erklärt im  Nieman Storyboard, wie er seine berühmte Reportage "Frank Sinatra has a cold" schrieb. Die NZZ klagt Google, GPS und Twitter an: Wir können uns nicht mehr verirren. FAZ, SZ und alle anderen Zeitungen trauern um Patrice Chéreau.

TAZ, 09.10.2013

"Die südamerikanische Kunst ist in Europa grotesk unterbewertet", konstatiert Ulf Erdmann Ziegler und empfiehlt allen Buchmessen-Besucher dringend einen Besuch im Frankfurter MMK, wo das Werk des brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica zu sehen ist: "Wer bei lateinamerikanischer Kunst an Frida Kahlo denkt, wird überrascht sein, wie stark Mondrian und Schwitters noch in den Sechzigern präsent sind. Oder mit welch unbefangener Frische experimentell gebastelt wird. Wie sehr hier einer im kleinsten Detail Metaphern findet und doch furchtlos weiterschreitet zum szenischen Ganzen. Da ist natürlich Oiticica nicht allein, er ist eingebunden in einen Zirkel suchender Künstler, die sich dem 'Konkreten' verschreiben, bevor das Militär sie in die Konfrontation treibt."

Bei der Verleihung des Buchpreises an Terézia Mora hat Ulrich Gutmair in Frankfurt dagegen "Kulturprotestantismus 2.0" erlebt. Ein ausführliches Porträt widmet Ulrich Rüdenauer der Autorin. Dominik Kamalzadeh schreibt den Nachruf auf Patrice Chéreau.

Außerdem gibt es heute zur Buchmesse eine Literataz. Im Aufmacher preist Dirk Knipphals J.M. Coetzees großen Roman "Die Kindheit Jesu".

Und Tom.

Weitere Medien, 09.10.2013

(via Gawker) Fast fünf Stunden lang hat sich Elon Green für das Nieman Storyboard mit dem Journalisten Gay Talese über dessen Reportage "Frank Sinatra Has a Cold" unterhalten, die 1965 in Esquire erschienen war. Es ist ein spannendes Gespräch, mit der Reportage als Hauptstück, in die immer wieder Fragen und Antworten zum Aufbau und zu einzelnen Sätzen oder Absätzen eingefügt sind. Talese erklärt, wer ihn bei bestimmten Formulierungen inspiriert hat, wann er etwas imaginiert, und welche Bedeutung "die Stimme" einer Reportage hat. Nach einem Absatz über die Großzügigkeit Sinatras erklärt Talese, warum er hier seine Quellen nicht genannt hat: "Sinatras Großzügigkeit war gut dokumentiert, in vielen Artikeln, die ich schon vor dem Auftrag gelesen hatte. Das waren keine Neuigkeiten. Wichtig ist, wie man es benutzt. Zum Beispiel das berühmte Zitat in meinem Stück über Joe DiMaggio. Marilyn Monroe, die gerade für die Truppen in Korea aufgetreten war, sagte zu DiMaggio: 'Du hast nie solchen Jubel gehört.' 'Doch, habe ich', sagte er. Die Leute sagten, 'Oh, Gay, wo hast du das denn her? Was für ein großartiger Einfall.' Es war nicht meiner. Das Zitat war publiziert. Ich hatte es in einem Magazinartikel über Marilyn Monroe gefunden, den Maurice Zolotow geschrieben hatte. Ich kopierte ihn einfach, fügte ihn in meinen Text ein und er gewann plötzlich Bedeutung, eine Dimension. Verdammt, ich habe Marilyn Monroe nie interviewt. So übernehme ich manchmal, was im Werk anderer Leute unbedeutend erschien. Erst in einem anderen Kontext wird das Zitat zum Juwel." Damit käme er heute wohl nicht mehr durch. Die Reportage ohne die Fragen und Antworten kann man übrigens bei Esquire hier lesen.

NZZ, 09.10.2013

Google, GPS und Twitter haben es unmöglich gemacht, sich zu verirren oder etwas nicht zu wissen, klagt der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider. Dabei lebe die Weltliteratur vom Nichtwissen: "Gibt es Erkenntnis ohne Irrtum? Hat sich Kant niemals geirrt? War Einstein niemals auf dem Holzweg? Und die Helden der Literatur? Hätte sich der Erzähler der 'Göttlichen Komödie' nicht am Karfreitag des Jahres 1300 in einem dunklen Wald verirrt, nie hätte er die drei Jenseitsreiche bereisen können, und nie wäre er der Erleuchtung in den obersten Himmelsregionen teilhaftig geworden. Gewiss ist die astronomische Karte des Ptolemäus längst überholt, aber die platonischen Sphären, die Dante auf seinem Weg durch das Jenseits durchmaß, lassen sich heute angeblich von jedem Rechner aus ansteuern."

Marc Zitzmann schreibt den Nachruf auf Patrice Chéreau und sieht die "Quintessenz seiner Inszenierungskunst" in den Stücken des Dramatikers Bernard-Marie Koltès : "Im Raum nehmen die Spannungsverhältnisse zwischen zwei Körpern Form an, die einander anziehen oder abstoßen gemäß Regeln, die mit Magnetismus zu tun haben scheinen oder mit Kinetik. Ein Skorpionen-Kampf im Zwielicht."

Zum Auftakt der Buchmesse bemerkt Joachim Güntner, dass der Kampf um Aufmerksamkeit härter wird. Peter Hagmann stellt die künftige Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich, Ilona Schmiel, vor.

Besprochen werden Werner Dahlheims Geschichte "Die Welt zur Zeit Jesu" und Karl Marlantes' Vietnam-Reflexion "Was es heißt, in den Krieg zu ziehen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Tagesspiegel, 09.10.2013

Sehr schön schreibt Rüdiger Schaper in seinem Nachruf über Patrice Chéreau und ruft noch einmal seine immense Intellektualität, seine Melancholie und seine größten Regiewerke in Erinnerung: "Es grenzt an eine Beleidigung zu sagen, Chéreau sei ein vielfältiger Künstler gewesen. Weil es den Kampf unterschlägt, die Spannung, die er aushielt, der er nachgab. Im Film, hat er vor einigen Jahren gesagt, 'kann ich über mich sprechen, über die Welt um mich herum. Im Film kann ich mich zeitgenössisch ausdrücken.' Vielleicht auch persönlicher werden. Der Film 'L' homme blessé' (1983) führt in die Welt der Stricher und Spanner und erzählt von einer homosexuellen Anziehung, die das gewalttätige Wesen der Sexualität umkreist. Es steckt ein Fatalismus in Chéreaus Filmen, den man nur zärtlich nennen kann."

Außerdem gibt es ein ganzes Dossier zur Buchmesse.

Welt, 09.10.2013

Elmar Krekeler porträtiert die Buchpreisgewinnerin Terézia Mora. Richard Kämmerlings kommentiert die Preisvergabe: "Eine Preisentscheidung, gegen die, anders als mitunter in der Vergangenheit, rein gar nichts einzuwenden ist." Holger Ehling berichtet in einem informativen Artikel über den Buchmarkt in Brasilien, dessen Umsatz allein in den ersten acht Monaten 2013 um 11 Prozent gestiegen ist. Thomas Hummitzsch unterhält sich mit dem Comicautor Florent Silloray über dessen Band "Auf den Spuren Rogers", der den Spuren seines Großvaters als Kriegsgefangener in Deutschland folgt. Hanns-Georg Rodek meldet die Uraufführung von Orson Welles' bisher als verschollen geltendem ersten Filmversuch "Too Much Johnson" beim Stummfilmfestival im norditalienischen Pordenone. Manuel Brug schreibt den Nachruf auf Patrice Chéreau.

Besprochen werden eine Ausstellung über die dynastischen Verbindungen der Romanows mit dem Haus Württemberg im Stuttgarter Landesmuseum Württemberg und die Tage der russischen Musik in Berlin.

Aus den Blogs, 09.10.2013

Wer hätte jemals gedacht, dass Shane MacGowan Mitglieder der Pogues überleben würde? Aber nun ist es passiert, Gitarrist Philip Chevron ist im Alter von 56 Jahren an Krebs gestorben. Hier zeigen die Jungs, was sie konnten:


Stichwörter: Alter, Krebs, Macgowan, Shane, Pogues

SZ, 09.10.2013

Joseph Hanimann und Reinhard J. Brembeck trauern um den am Montag an Lungenkrebs gestorbenen Patrice Chéreau: "Nie war für diesen Regiemeister, der die Mittel des Bühnenraums wohl doch virtuoser beherrschte als die komplexe Maschinerie des Filmstudios, ein Bewegungsablauf, ein Tonfall, ein Beleuchtungseffekt endgültig gefunden."

Außerdem: Volker Breidecker empfiehlt den Besuch des brasilianischen Gastlandpavillons auf der Frankfurter Buchmesse, der dieses Jahr "licht und leicht" daherkommt. Harald Eggebrecht berichtet von der Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Radebeul. Stephan Speicher gratuliert dem Kunsthistoriker Peter-Klaus Schuster zum 70. Geburtstag.

Für die Seite Drei hat Peter Richter eine Reportage über die Pleitestadt Detroit geschrieben, wo er auf eine vitale, improvisationsfreudige Kunst- und Musikszene stieß. Handelt es sich dabei um "die trügerische Euphorie, die man von Todgeweihten kennt? Vielleicht ist es ja so, dass das Wesen von Veränderung, von Rhythmen und Zyklen zu einem Wissen gehört, das den Künsten nun mal innewohnt. Bemerkenswert ist aber, wie entschieden das Kunstwollen zwischen den Ruinen blüht. Und wie wichtig das genommen wird in der Stadt."

Besprochen werden Lee Daniels' Film "The Butler", ein Berliner Konzert von Gidon Kremer, zwei Aufführungen von Friedrich Hebbels "Die Nibelungen" am Schauspiel Frankfurt und am Schauspielhaus Bochum und Bücher, darunter Juli Zehs Skript ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 09.10.2013

Gerhard R. Koch verabschiedet sich von Regisseur Patrice Chéreau. Dieser war "kein Künstler, dem es nur um ein Thema ging, wohl aber durchzieht ein Doppeltopos sein Schaffen: Jagd, Hetze und amour fou. Die Figuren seiner Filme wie Bühneninszenierungen sind zumeist Verfolger und Verfolgte, und Liebe ist bei ihm allemal kälter als der Tod." Online gibt es einen Nachruf von Eleonore Büning.

Weitere Artikel: Matthias Rüb stellt anlässlich der Buchmesse den brasilianischen Literaturbetrieb dar, der einerseits durch hochfliegende Zukunftspläne - eine Bibliothek samt Bibliothekar an allen Schulen -, andererseits durch darbende Autoren gekennzeichnet ist. Evgeny Morozow liest eine neue Studie zum politisch bewussten Konsumverhalten, die nahelegt, dass Sachinformationen den Menschen am Ende doch mehr beeinflussen als die These vom geizigen homo oeconomicus glauben machen lässt. Manfred Lindinger würdigt die eben für ihre Grundlagenarbeit mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Physiker Peter Higgs und Francois Englert.

Besprochen werden eine Ausstellung über Queen Mary im National Museum of Scotland, der neue Kinofilm "The Butler" mit Forest Whitaker, eine Ausstellung über die Kelheimer Befreiungshalle im Archäologischen Museum Kehlheim und Bücher, darunter Florian Werners "Verhalten bei Weltuntergang" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).