Heute in den Feuilletons

So viele coole Sachen mit Daten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2013. Die NZZ schildert die gefährliche Lage syrischer Christen. Der Tagesspiegel untersucht das Phänomen Crowdfunding auf dem Buchmarkt. In der Welt verzweifelt der ägyptische Journalist Hani Shukrallah an seinen Kollegen. In der SZ erklärt Ladar Levison, warum er seinen Emaildienst lieber eingestellt als dem FBI offengelegt hat. In der Zeit feiert Obama-Berater Harper Reed Big Data. Eva Menasse kann dagegen nicht fassen, wie gleichgültig die Deutschen auf die Überwachung reagieren.

NZZ, 10.10.2013

Benjamin Hiller informiert über die gefährliche Lage der syrischen Christen, für die auch der Westen verantwortlich sei, wie Ishow Goriye, Präsident der oppositionellen Assyrischen Einheitspartei, ihm erläutert: "'Seit 9/11 hat Amerika, aber auch Europa die Welt in Christen und Muslime eingeteilt. Diese Zweiteilung schlägt sich jetzt negativ auf unsere Situation nieder und zerstört die alten Verbindungen zwischen uns und den Muslimen', erklärt er seine Position mit ruhiger Stimme. 'Aber wir haben uns nie ausschließlich als Christen gesehen. Das Christentum ist zwar unsere Religion, aber wir sind auch eine ethnische Gruppe, nämlich Assyrer. Doch das wird vom Westen gerne vergessen.'"

Weiteres: "Offenbar sind wir eine Gesellschaft von Hosenscheißern geworden", konstatiert Joachim Güntner angesichts verschärfter Sicherheitskontrollen bei der Frankfurter Buchmesse. Peter Hagmann berichtet von der Biennale Musica in Venedig.

Besprochen werden die Filme "Liberace" von Steven Soderbergh ("in Fragen der Ausstattung eine Glanzleistung in jedem Sinne", findet Marisa Buovolo) und "Der Schaum der Tage" von Michel Gondry sowie Bücher, darunter "Euer Lenz" des Südtiroler Dichters Oswald Egger (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 10.10.2013

Lalon Sander antwortet auf Arno Franks Artikel "Infantile Sprachmagie" über antirassistische Sprachregelungen und fragt sich anlässlich des viel diskutierten taz-Interviews mit Philipp Rösler, ob man die gleichen Fragen auch dem ersten migrantischen Ministerpräsidenten Deutschlands, David McAllister, gestellt hätte: "Vermutlich nicht, weil es unvorstellbar scheint, einen weißen Mann zu fragen, ob er gehasst wird, weil man ihm seine 'nichtdeutschen Wurzeln' ansieht."

Einen "Hauch von UNO-Vollversammlung" sah Andreas Fanizadeh bei der Feier zu Ehren des diesjährigen Gastlandes Brasilien zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse durchs Congress Center wehen. Wolf-Dieter Vogel resümiert eine Veranstaltung der Heinrich Böll Stiftung in Berlin über zivilgesellschaftliche Strategien im Umgang mit Korruption und Gewalt in Mexiko. Leider nicht online ist ein Artikel von Daniel Schulz, der über den Zustand des Bücherregals nach dem Verschwinden des gedruckten Buches nachdenkt.

Besprochen werden Atiq Rahimis Verfilmung seines Romans "Stein der Geduld", worin er auf das Innerste der islamischen Moralität ziele: die Angst vor der weiblichen Sexualität, außerdem Danis Tanovics Dokudrama "Aus dem Leben eines Schrottsammlers", das auf einer Zeitungsmeldung in Bosnien-Herzegowina basiert und die Betroffenen das Erlebte selbst nachspielen lässt, Helge Schneiders Komödie "00 Schneider. Im Wendekreis der Eidechse" sowie "Prisoners", der erste Hollywood-Thriller des Frankokanadiers Denis Villeneuve.

Und Tom.

Tagesspiegel, 10.10.2013

Crowdfunding spielt auf dem Buchmarkt eine zunehmende Rolle, meldet Astrid Herbold und stellt verschiedene deutsche Angebote wie Startnext und das an die Münchner Verlagsgruppe angegliederte 100fans vor: "Generell lebt Crowdfunding davon, dass ein Autor für sein Buch lautstark Werbung macht. Das fängt bei Freunden und Verwandten an, geht weiter mit den Facebook-Bekannten und Twitter-Followern. Erst wenn sich im engeren Umfeld des Autors eine breite Unterstützerfront gebildet hat, besteht die Chance, dass das Projekt größere Kreise zieht. Gute Startbedingungen hat außerdem, wer als Blogger, Autor oder Journalist bereits einen Namen hat. Für unentdeckte Schreibtalente ist es ungleich schwieriger."
Stichwörter: Buchmarkt, Crowdfunding

Welt, 10.10.2013

Der ägyptische Journalist Hani Shukrallah, der erst von Mubarak, dann von den Muslimbrüdern als Chef der englischsprachigen Ausgabe von Al Ahram gefeuert wurde, zeigt sich im Interview ziemlich verzweifelt, dass die Journalisten in Ägypten mit jedem Wechsel zu Propagandisten der neuen Machthaber werden: "Ein Kollege war unter Mubarak aufs Engste mit dem Sicherheitsapparat verbunden. Als die Proteste auf dem Tahrir-Platz begannen, beschrieb er die Demonstranten als drogenabhängige, sexsüchtige, kommunistische Plage, die es zu bekämpfen gilt. Nach dem Sturz Mubaraks schrieb er Kommentare über die großartige Jugend. Er brachte Überschriften wie: 'Ägypter, schaut auf diese Sieger.' Als die Muslimbrüder kamen, erhob er sich während der Redaktionskonferenzen und sang für uns Suren aus dem Koran. Wie er ticken die meisten Journalisten."

Weitere Artikel: Manuel Brug schreibt zum 200sten von Verdi. Dirigent Riccardo Muti meint im Interview, dass man Verdi immer noch "zu sehr auf die leichte Schulter nimmt". Karl-Heinz Ott schreibt zum 100sten von Claude Simon. Philipp Kohl spießt eine Meldung auf, wonach ein orthodoxer Unternehmer die Entfernung von Ilja Repins Gemälde "Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan am 16. November 1581" aus der Moskauer Tretjakow-Galerie gefordert hat.

Besprochen werden die Uraufführung von Anne Teresa de Kersmaekers Ballett "Vortex Temporum" bei der Ruhrtriennale, die neue CD von Janelle Monáe, "The Electric Lady" sowie einige Filme, darunter Helge Schneiders Film "Im Wendekreis der Eidechse".

SZ, 10.10.2013

Dawid Danilo Bartelt, Leiter des Brasilienbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro, findet die Vorwürfe, die Auswahl brasilianischer Autoren, die zur Frankfurter Buchmesse dürfen, sei rassistisch, nicht sehr überzeugend. Klar sei allerdings, dass es in Brasilien Rassismus gibt. Er ist nur verschleierter als anderswo: "Es hat nie getrennte Parkbänke oder einen Ku-Klux-Klan gebraucht, um die Schwarzen bis heute als ein Heer unqualifizierter Schlechtbezahlter zu halten, das der weißen Mittelklasse billig den Rücken freihält. Erst seit diesem Jahr gibt es gesetzlich verbriefte Mindestrechte für (schwarze) Hausangestellte, wie einen freien Tag in der Woche und einen Mindestlohn. Bei allen Sozialindizes - vom Durchschnittseinkommen bis zur Kindersterblichkeit - klafft eine enorme Lücke zwischen Schwarz und Weiß in Brasilien, die schwarze Mittelklasse ist viel kleiner als in den USA."

Auf der Medienseite erklärt der Ein-Mann-Unternehmer Ladar Levison, der seinen Emaildienst lieber eingestellt hat, als dem FBI die Daten seiner Kunden zu überreichen, was an der jetzigen Situation so gefährlich ist: "Wenn sie vorab heimlich verschlüsselte Daten abgegriffen haben, können sie sie theoretisch danach mit den Zertifikaten entschlüsselt und gelesen haben. Ich glaube, dass sie das getan haben. Aber ich habe kein einziges Dokument gesehen, das es ihnen erlaubt hätte. ... Sie könnten auch eine richterliche Befugnis haben, die sie geheim halten. Das ist das Problem, wenn Teile des Justizverfahrens geheim sind. Theoretisch können allerlei Dinge heimlich genehmigt und damit legal gemacht werden. Wir vermuten, dass die Agenten heimlich abgehört und gespeichert haben."

Weitere Artikel: Evgeny Morozov scheint ein Dauerabo in deutschen Zeitungen zu haben! Heute sorgt er sich in der SZ um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den er nicht durch staatliche Überwachung, sondern durch neoliberale Internetfirmen gefährdet sieht. Volker Breidecker besucht auf der Frankfurter Buchmesse den italienischen Stand, an dem nichts mehr an die Glanzzeiten der Achtziger erinnert, als das Land auf der Buchmesse noch umjubelt wurde. Reinhard J. Brembeck schreibt in aller Ausführlichkeit über Giuseppe Verdi, der gestern oder heute vor 200 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden die große Lucian-Freud-Schau im Kunsthistorischen Museum Wien (links: "Reflection with Two Children (Self Portrait)", 1965, © The Lucian Freud Archive / The Bridgeman Art Library), Noah Haidles in Kassel uraufgeführtes Stück "Lucky Happiness Golden Express", Gregor Schnitzlers Film "Spieltrieb" und Bücher, darunter eine direkt aus dem Japanischen übertragene Übersetzung von Haruki Murakamis Roman "Südlich der Grenze, westlich der Sonne", der unter dem Titel "Gefährliche Geliebte" bislang nur als Übersetzung der amerikanischen Ausgabe vorlag (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 10.10.2013

So begeistert ist Andreas Platthaus von Alfonso Cuaróns "Gravity", dass die FAZ ihn den Film eine Woche nach Kinostart nochmal besprechen lässt, beschleicht ihn hier doch in der Weite des Alls und des Kinosaals das "Gefühl eines großen Friedens zwischen Zuschauer und Kino" (unsere Kritik hier). Martin Lindinger stellt die drei Chemie-Nobelpreisträger Martin Karplus, Michael Levitt und Arieh Warshel vor (mehr). Kerstin Holm berichtet von den Gedenkfeiern zu Ehren der vor sieben Jahren ermordeten, russischen Journalistin Anna Politkowskaja. Felix Johannes Enzian ist nach dem Berliner Konzert der Pixies sicher: "Frank Black ist der einzige Rocksänger, der dem frühen Iggy Pop das Wasser reichen kann." Der französische Kinostart von Adbellatif Kechiches neuem, in Cannes prämiertem Film "La Vie d'Adèle" (ein internationaler Pressespiegel) wird von allerlei Skandälchen begleitet, berichtet Jürg Altwegg.

Auf der Medienseite porträtiert Josef Oehrlein den argentinischen Journalisten und härtesten Kritiker der Kirchner-Regierung Jorge Lanata: "In Lanatas Sendungen traten Gewährsleute auf, die bezeugten, Frau Kirchners verstorbener Gatte Néstor und einige Helfershelfer hätten Geld in so großem Umfang ins Ausland transferiert, dass es nicht mehr gezählt, sondern gewogen worden sei."

Besprochen werden die Louise-Lawler-Ausstellung im Museum Ludwig in Köln (links ihr "Portrait" von 1982, © Louise Lawler, Metro Pictures, Sprüth Magers), Helge Schneiders neuer Kinofilm "00 Schneider - Im Wendekreis der Eidechse" (Bert Rebhandl attestiert in grenzenloser Begeisterung "Kunst von einem eigenen Planeten, den wir aus praktischen Gründen Mülheim an der Ruhr nennen wollen"), Dieter Hallervordens neuer Film "Sein letztes Rennen" und Bücher, darunter Claude Simons "Archipel/Nord" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 10.10.2013

"Man kann so viele coole Sachen mit Daten machen", schwärmt der Hacker Harper Reed, der Barack Obama im vergangenen Jahr mit seinen präzisen Datenanalysen zur Wiederwahl verhalf, im Interview mit Kerstin Kohlenberg: "Je mehr Daten es da draußen gibt, desto bessere Produkte gibt es. Google sammelt unsere Daten und macht damit sein E-Mail-Programm Gmail besser. Das ist doch toll. Wir können uns sicher eine hypothetische Zukunft vorstellen, in der Daten alles ruinieren werden... Aber wir müssen uns nicht selbst in die Endzeitecke drängen. Unsere Welt kann schön sein."

Warnende Töne kommen dagegen von Eva Menasse, die zusammen mit anderen Schriftstellern unlängst Angela Merkel in einem offenen Brief zu einer angemessenen Reaktion auf die NSA-Affäre aufgefordert hat. In einem engagierten Beitrag im Feuilleton geißelt sie die Passivität der Bürger hinsichtlich ihrer umfassenden Überwachung: "Hier ist ein System am Werk, das milliardenfach mehr kann als Gestapo und Stasi zusammen. Aber da wir es nicht spüren, noch kaum spüren, wehren wir uns nicht. Die Schreckstarre, in die Deutschland seit Snowdens Enthüllungen gefallen ist, ist, to say the least, überraschend. Vor dreißig Jahren noch halbe Volksaufstände wegen ein bisschen Volkszählung, heute: nichts. Ruhe im Karton."

Weiteres: Elisabeth von Thadden schreibt einen Essay über den nächste Woche 200jährigen Georg Büchner. Ijoma Mangold unterhält sich mit Christian Kracht, dessen Film "Finsterworld" nächste Woche in die Kinos kommt. "Ich habe mit Menschen meines Alters nichts zu schaffen", verrät Cher im Interview mit Christoph Dallach. Adam Soboczynski stellt die Nähe der frühen Grünen zu Pädophilen in den Kontext einer Zeit, in der sexuelle Befreiung als antifaschistische Vergangenheitsbewältigung galt. Daniel Bahrenboim schreibt den Nachruf auf Patrice Chéreau. Nicht die Konkurrenz durchs Internet ruiniert die Buchhandlungen, sondern ihr eigenes "Desinteresse am Buch", glaubt Jens Jessen. Auf Zeit Online spricht Astrid Hebrold mit Sascha Lobo über seine neue Buchhandelsplattform Sobooks.

Besprochen werden Dmitri Tschernjakows Inszenierung von Rimski-Korsawkows "Zarenbraut" in Berlin (bei der Christine Lemke-Matwey mitgerissen begreift, "wie sehr die gute alte Oper doch Opium ist"), Luk Parcevals Inszenierung von Michael Frayns "Der nackte Wahnsinn" in Hamburg, die Filme "Aus dem Leben eines Schrottsammlers" von Danis Tanovic (dessen "Sogwirkung" auf Ursula März "geradezu rätselhaft wirkt"), "The Butler" von Lee Daniels und "Prisoners" von Denis Villeneuve, außerdem neue Alben von Ralph Alessi, Christian Thielemann, Wladimir Horowitz und Willis Ears Beal sowie Bücher, darunter Stephen Hawkings Autobiografie "Meine kurze Geschichte" (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

Die Jugend wendet sich vom Fernsehen ab, die Stars dieser Generation agieren auf Youtube - Aline Fichter stellt im Wirtschaftsteil einige von ihnen vor. In Glauben & Zweifeln berichtet Janek Schmidt über atheistische Sonntagsmessen in London. Im Dossier stellt Stefan Koldehoff ein in der Schweiz aufgetauchtes Dokument von 1938 vor, in dem sich Emil Nolde zu seinem "Glauben" an den "großen deutschen Führer Adolf Hitler" bekennt.