Heute in den Feuilletons

Lesen Sie Munro! Lesen Sie Munro!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2013. Alle Zeitungen freuen sich über den Literaturnobelpreis für Alice Munro. Es war ein weiter Weg für die Autorin, der Anfang der Sechziger noch vorgeworfen wurde, nicht attraktiv genug zu sein, erzählt Margaret Atwood im Guardian. Die NZZ war dabei, als Japans höchste Gottheit Amaterasu Omikami ihren neuen Schrein bezog. Die Welt erstarrt vor dem späten Braque im Pariser Grand Palais. In der FAZ erklärt Roberto Saviano, warum er sein Buch "Gomorrah" heute nicht mehr schreiben würde.

Welt, 11.10.2013

Literaturnobelpreis für Alice Munro? Elmar Krekeler ist begeistert: "Die Auszeichnung der Kanadierin Alice Munro jedoch ist nichts als die Nobilitierung einer schieren Erzählerin. Einer Schriftstellerin, die literarisch einflussreicher ist als die Mehrzahl der Nobelpreisträger der vergangenen Jahre."

Andere schließen sich an: "Lesen Sie Munro! Lesen Sie Munro!", wird Jonathan Franzen zitiert. "Sie ist ein Genie darin, die einzigartige und eigenartige Atmosphäre von Beziehungen heraufzubeschwören, den unausgesprochenen Druck, die Erwartungen", lobt Allan Hollinghurst in einem kleinen Potpourri aus internationalen Stimmen. Nur Martin Walser sagte: "Null - ich kenne sie nicht."

Weitere Artikel: Die deutsche Huffington Post stand gestern noch keine fünf Minuten im Netz, da hagelte es schon hämische Kommentare, doch Vorsicht, warnt Marc Reichwein: Die HuffPo, die vor acht Jahren in den USA startete, ist dort jetzt Nummer zwei unter den Nachrichtenportalen - "hinter CNN, vor allen Tageszeitungen". Helge Schneider erklärt im Interview über seine Filmvorbereitungen: "Ich sag mal so: Ein Charakterdarsteller ist bei mir nicht ganz richtig am Platz. Sehr wohl aber ein Charakter."

Besprochen werden eine große Braque-Ausstellung im Pariser Grand Palais (Bild: Georges Braques "Femme à la palette", 1936), ein Konzert von Darkside im Berghain, die Uraufführung von Ethan Coens Theaterstück "Women or Nothing" in New York und Friedrich Anis Krimi "M".

Weitere Medien, 11.10.2013

Die kanadische Autorin Margaret Atwood freut sich im Guardian über den Nobelpreis für Alice Munro, die einen langen Weg zurückgelegt hat, seit sie als Autorin begann: "Back in the 1950s and 60s, when Munro began, there was a feeling that not only female writers but Canadians were thought to be both trespassing and transgressing. Munro found herself referred to as 'some housewife', and was told that her subject matter, being too 'domestic', was boring. A male writer told her she wrote good stories, but he wouldn't want to sleep with her. 'Nobody invited him,' said Munro tartly. When writers occur in Munro stories, they are pretentious, or exploitative of others; or they're being asked by their relatives why they aren't famous, or - worse, if female - why they aren't better-looking."

TAZ, 11.10.2013

Absolut verdient findet Katrin Bettina Müller den Literaturnobelpreis für die kanadische Schriftstellerin Alice Munro, die ihr vor allem deshalb ans Herz wuchs, weil ihre Geschichten so oft vom Aushalten des Unglücks erzählen: "Nie ist ihr Ton dabei pathetisch oder sentimental, sondern von einer Lakonie, einem Unterlaufen des Großen und Schweren geprägt. Gerade das macht ihre Geschichten so trostreich und so hilfreich ... Vielleicht ist es auch das, was nach ihren Geschichten so süchtig machen kann: dass die eigene Vorstellungskraft so viel zu tun bekommt."

Auch Anne Haeming begrüßt Munros Auszeichnung in ihrem Kommentar, sieht in ihr allerdings "auch eine Ohrfeige für ihre weitaus berühmtere Kollegin Margaret Atwood, die gefühlt seit Jahrzehnten als Nobelpreiskandidatin gehandelt wird." Ulrich Gutmair unterhält sich mit Sabine Dörlemann, die die ersten Erzählbände Munros publizierte.

In der Buchmessenkolumne stellt Tania Martini die neue Verkaufsplattform Sobooks des Bloggers Sascha Lobo vor, für den E-Books nur das sind, was die Digitalisierung aus dem Buch gemacht habe. Jetzt gehe es um den nächsten Schritt: Sobooks steht für für Social Books, "und wie der Name sagt, soll man nicht bloß Bücher kaufen können, sondern sie auch in den sozialen Medien diskutieren". Wie eine Zeitreise in die 90er Jahre, urteilt Jürn Kruse auf der Medienseite über den Start der deutschen, von Cherno Jobatey herausgegebenen Ausgabe der Huffington Post. Wilfried Urbe spricht mit Roberto Saviano über die Fernsehserie, die nach seinem Buch "Gomorrha" entstand und in Cannes vorgestellt wurde.

Besprochen werden das Album "Ich habe mir noch nie viel aus dem Tag gemacht" des Autors und Musikers Eric Pfeil, das erste außerhalb Syriens produzierte Studioalbum "Wenu Wenu" des Sängers Omar Souleyman, der traditionellen arabischen Folk mit Elektro mischt, und der Interviewband "Talking Fashion" des Berliner Journalisten Jan Kedves, in dem er 25 Modemacher zu Wort kommen lässt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 11.10.2013

Nach einer Jahrtausende alten Tradition wird die höchste Gottheit Japans, Amaterasu Omikami, alle zwanzig Jahre in ihren neu errichteten Schrein übergeführt. Daniela Tan hat dem Ritual beigewohnt: "Auch wenn der archaisch wirkende Holzbau in ewiger Frische erstrahlt, darf darob nicht vergessen werden, dass er stets nach exakt denselben überlieferten Handwerksregeln wieder aufgebaut wird. Die Zimmerleute unterstehen strengen Tabus und sind Meister ihrer Kunst. Beginnend bei einer Zeremonie zum Fällen der für den Neubau benötigten Bäume, die aus allen Provinzen Japans herbeigeschafft werden, bis hin zur Weihe der Opfergaben untersteht jeder Schritt genauen Regeln."

Weiteres: Der Literaturnobelpreis für Alice Munro ist die "würdige Krönung dieses einzigartigen Lebenswerks", findet Thomas Leuchtenmüller. Joachim Güntner beschleicht bei Suhrkamps Kritikerempfang auf der Buchmesse der Verdacht, dass sich Hans Barlach als Rainald Goetz verkleidet eingeschlichen haben könnte. Samuel Herzog stellt die italienische Künstlerin Marinella Senatore vor, die derzeit im piemontesischen Castello di Rivoli mit einer großen Einzelausstellung gefeiert wird.

Besprochen werden Janelle Monaes zweites Album "Electric Lady" und Bücher, darunter die Graphic Novel "Das Erbe" von Rutu Modan (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 11.10.2013

Thomas Steinfeld würdigt die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro, die sich in ihren spezifisch amerikanischen Kurzgeschichten den Alltagssituationen gewöhnlicher Menschen widmet: "Alice Munro ist deswegen oft mit Anton Tschechow verglichen worden. An diesem Vergleich ist etwas dran, nicht nur, weil die ästhetische Konzentration auf das Alltägliche, seine Verwandlung in einen erzählenswerten Gegenstand nicht zu haben ist, ohne dass dieses dadurch einen elegischen Zug annähme. Sondern auch, weil diese Konzentration einen scheinbar ebenso unbeteiligten wie allwissenden Erzähler verlangt, einen Berichterstatter, der mit der von ihm erzählten Welt einen sehr abgründigen Frieden geschlossen haben muss." Unseren Überblick über die deutschen Feuilletonrezensionen von Alice Munros Büchern finden Sie hier.

Weitere Artikel: Ira Mazzoni lobt die Zusammenarbeit mehrerer Museen und Provenienzforscher, die auf dem Portal alfredflechtheim.com die komplexe Geschichte des von den Nazis verfolgten Galeristen Alfred Flechtheim transparent und mit den netztypischen Mitteln des Querverweises offenlegen - auch wenn die Website von den Flechtheim Erben stark kritisiert wird. Joachim Hentschel schreibt zur Ästhetik des Schauspiels in Miley Cyrus' konzertierter Nuditäten-Offensive in den vergangenen Monaten und attestiert dem ehemals braven Disney-Kinderstar darin mithin selbstparodistische Qualitäten. Lothar Müller lässt sich bei Suhrkamps Buchmesse-Empfang von Sibylle Lewitscharoff aus ihrem kommenden Roman vorlesen.

Besprochen werden der Theaterabend "Ende" der Gruppe She She Pop am Berliner HAU (Mounia Meiborg langweilte sich schrecklich: "gendertechnisch ganz interessant, aber ... platt, didaktisch und unterkomplex" seien die vorgetragenen Ideen gewesen), die Ausstellung "Lightopia" im Vitra Design Museum in Weil am Rhein, die HBO-Dokumentation "Manhunt" über die Jagd auf Osama Bin Laden, die im Berliner Kino Babylon Premiere feierte, und Eugen Freunds Krimi "Der Tod des Landshauptmanns" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 11.10.2013

"Den Anteil des Zufalls an unserem Schicksal hat (...) niemand besser dargestellt als Alice Munro", würdigt Tilmann Spreckelsen die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin und veranschaulicht deren literarische Qualitäten anhand der Titelgeschichte des Erzählungsbandes "Tricks": "Eindeutigkeit der geschilderten Person ist bei dieser Autorin am allerwenigsten zu haben, auch wenn wir die gesamte Konstellation der jeweiligen Geschichte oft genug als durchscheinend wahr erleben, in dem Sinn, dass wir keinen Grund haben, eine außerliterarische Realität als diesen Texten überlegen anzusehen. Es geht ums Ganze, jederzeit." Online gibt es einen Text von Jochen Hieber.

Außerdem: Joseph Croituro liest die erste Ausgabe der neuen, von der frisch gegründeten und Assad-kritischen "Syrian Writers Association" (mit wenig internationaler Website, Facebook ist minimal kommunikativer) herausgegebenen Zeitschrift Awraq. Andreas Rossmann freut sich darüber, dass die Uni Münster Digitalisate aus ihren Archivbeständen online kuratiert. Janina Reibold besucht einen Vortrag des Verfassungsrichters Andreas Voßkuhle über Kleists Novelle "Michael Kohlhaas". Carsten Germis schreibt eine Reportage über den gesellschaftlichen Pessimismus im überalterten Japan. Jürgen Dollase erläutert Strategien zur Codierung und Decodierung kulinarischer Genüsse.

Auf der Medienseite spricht Ursula Scheer mit dem italienischen Journalisten und Autor Roberto Saviano, dessen Buch "Gomorrah" nach einer Verfilmung (unsere Kritik) nun auch als TV-Serie umgesetzt wurde. Das Buch, das ihm Weltruhm und ein Leben unter ständiger Überwachung beschert hat, würde er heute definitiv nicht mehr schreiben. Es "hat mir zu viel Einsamkeit gebracht und den Menschen, die mir nahestehen, zu viel Leid. ... Ich hoffe, eines Tages wieder ein freier Mann zu sein. Ohne diese Perspektive könnte ich überhaupt nicht existieren. In Neapel läuft ein Prozess, in dem (...) die Bosse verurteilt werden könnten, die mich bedroht haben."

Besprochen werden eine von Jorge Luis Borges inspirierte Lichtinstallation in Buenos Aires, das neue Album der Manic Street Preachers, die Verfilmung von Juli Zehs Roman "Spieltrieb", die Verfilmung von Atiq Rahimis Roman "Stein der Geduld", eine Aufführung von Wolfgang Rihms Oper "Die Eroberung von Mexiko" in Madrid und Bücher, darunter David Eggers' gerade in den USA erschienener Roman "The Cycle" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).