Heute in den Feuilletons

Die Genauigkeit ist unmenschlich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2013. David Cameron droht den britischen Zeitungen inzwischen offen mit Zensurmaßnahmen, falls sie die Berichte über die Geheimdienste fortsetzen, meldet der Guardian. Nicht der Erste Weltkrieg war die Urkatastrophe der Moderne, sondern das Trauma der napoleonischen Kriege, meint Götz Aly in der Berliner Zeitung. Open Culture präsentiert einen Dokumentarfilm, den Lou Reed über seine hundertjährige Kusine Red Shirley gemacht hat. Für die FAZ lässt sich Ranga Yogeshwar abhören. Außerdem verlinken wir das einzige Interview mit Robert Capa.

Guardian, 29.10.2013

David Cameron hat britischen Zeitungen (und da ist natürlich der Guardian gemeint) mit Zensurmaßnahmen gedroht, falls sie nicht aufhören, peinliche Geheimdienst-Dokumente zu publizieren, berichtet Nicholas Watt im Guardian: "In a statement to MPs on Monday about last week's European summit in Brussels, where he warned of the dangers of a 'lah-di-dah, airy-fairy view' about the dangers of leaks, the prime minister said his preference was to talk to newspapers rather than resort to the courts. But he said it would be difficult to avoid acting if newspapers declined to heed government advice." Mehr dazu auch bei zeit.de.

Nur wenige Tage zuvor berichtete der Guardian, dass der britische Geheimdienst GCHQ seine Überwachungsmethoden um jeden Preis geheim halten wollte, weil er wusste, dass sie zum Teil - das betrifft besonders die "Zusammenarbeit" mit den Telekommunikationsriesen - illegal sind: "The most recent attempt to make intelligence gathered from intercepts admissible in court, proposed by the last Labour government, was finally stymied by GCHQ, MI5 and MI6 in 2009. A briefing memo prepared for the board of GCHQ shortly before the decision was made public revealed that one reason the agency was keen to quash the proposals was the fear that even passing references to its wide-reaching surveillance powers could start a 'damaging' public debate."

Berliner Zeitung, 29.10.2013

Nicht der Erste Weltkrieg war die Urkatastrophe der Moderne - zumindest in Deutschland -, sondern die napoleonischen Kriege, meint Götz Aly in seiner vierten Kolumne über den Jahrestag der Völkerschlacht. Eine ihrer Folgen: "Mit der erbarmungslosen Härte seiner Kriege und Besatzungsherrschaft hatte Napoleon neben dem materiellen ein schweres, bis heute nachwirkendes ideelles Unglück bewirkt: In Deutschland brachte er die revolutionären Ziele individueller Freiheit und Gleichheit in Misskredit. Aus der Gleichheit des Einzelnen vor dem Gesetz wurde hierzulande die Vorstellung von der kulturellen Gleichheit, bald von der geschichtlich gewachsenen und damit exklusiven Einheit des Blutes."

Aus den Blogs, 29.10.2013

Open Culture präsentiert (leider nicht einbettbar) einen halbstündigen Dokumentarfilm, den Lou Reed vor drei Jahren über seine hundertjährige Kusine Red Shirley gemacht hat. "At 19, she journeyed to Canada without her parents, thus escaping the fate of relatives during World War II. ('Hitler took care of them,' she curtly remarks in the film.) Leaving Canada, which she deemed 'too provincial,' Ms. Novick joined thousands of immigrants in New York City's garment industry." Später machte sie sich einen Namen als Gewerkschaftlerin und Aktivistin in der Bürgerrechtsbewegung.

Welt, 29.10.2013

Was in der Print-Welt steht, wissen wir heute nicht. Online unterhält sich ein hochbewegter Wolfgang Büscher mit dem Maler Neo Rauch über dessen neue Bilder, die Gestaltung der Welt, die man offenbar morgen bewundern kann, und über die Wespenattacke, die den Maler mehrere Monate lang lähmte: "Ein allergischer Schock machte mich regelrecht zur Schnecke. Machte mich im Grunde genommen handlungsunfähig in Bezug auf die Aktivitäten, die sich bis dahin eigentlich wie von selbst abspulten. Plötzlich war alles ganz anders. Ich fühlte mich blockiert und vorgealtert und abgeschnitten von meinen inspirativen Quellgründen, fortgetrieben von ihnen."

Weitere Artikel: Gegen Spionage und gegen Whistleblower hilft nur totale Transparenz, empfiehlt Henryk M. Broder den Politikern: "Dann gäbe es keine gezielten 'Indiskretionen', keine zufälligen 'Leaks', keine Jobs für Whistleblower." Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein Lexikon der schlimmsten Politiker-Floskeln zusammengestellt. Hanns-Georg Rodek berichtet vom Filmfestival in Hof. Dirk Peitz schreibt den Nachruf auf Lou Reed. Eine Meldung informiert uns, dass Matthias Matussek vom Spiegel zur Welt wechselt.

Besprochen werden zwei Bücher zur Geschichte der Bundesliga und die Warlam-Schalamow-Ausstellung im Literaturhaus Berlin.

NZZ, 29.10.2013

Bei Ebay ist das einzig erhaltene Interview mit dem Kriegsfotografen Robert Capa aufgetaucht, berichtet Andrea Köhler. Erworben hat es das New Yorker International Center of Photography, auf dessen Homepage es nun zu hören ist: "Zwar klingt manches, was Capa in dieser Morning-Talkshow erzählt, ziemlich phantastisch; etwa die Story, wie er mit John Steinbeck anlässlich einer Reportage für die Herald Tribune direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Wochen lang gänzlich unbemerkt durch die Sowjetunion reiste... Was in diesem Tondokument jedoch evident wird, ist eine tiefere Wahrheit: dass nämlich der Kriegsfotograf, schon weil er ungerührt 'losschießen' muss, selber ein Krieger ist." (Oben: "Der fallende Soldat", 1936)

Weiteres: Für Joachim Güntner war das Highlight der Herbsttagung der Deutschen Akademie in Darmstadt nicht etwa die Verleihung des Büchner-Preises, sondern die Debatte über das Wechselverhältnis von Orient und Okzident. Frank Schäfer schreibt den Nachruf auf Lou Reed. Die Medienseite widmet sich der vierteiligen Filmreihe "Die Schweizer", mit der die SRG eine Debatte über Geschichtsbilder losgetreten hat; Rainer Stadler bemängelt darin einen Hang zur Verklärung und Banalisierung: "Adressat der Filme ist offensichtlich ein Zuschauer, der von der Schweizer Geschichte kaum eine Ahnung hat."

Besprochen werden eine Inszenierung von Wagners "Ring der Nibelungen" an der Oper Linz (mit der Peter Hagmann szenisch sowie gesanglich nicht zufrieden ist) und Bücher, darunter Sefi Attas Roman "Nur ein Teil von dir" (in dessen Protagonistin Almut Seiler-Dietrich eine "afrikanische Weltbürgerin" erkennt; mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

TAZ, 29.10.2013

"Das deutsch-amerikanische Verhältnis ist und war nun mal keine Freundschaft, sondern ein Zweckbündnis", warnt Barbara Dribbusch vor einer allzu emotionalen Reaktion auf die jahrelange Überwachung Angela Merkels durch die NSA. Deren Zweck mag sich Dribbusch allerdings auch nicht recht erschließen: "Für die USA wird nicht einfach zu erklären sein, was der Kampf gegen die internationale Terrorgefahr nun genau mit dem Abhören von Merkels Handy zu tun hat."

Weiteres: Ronald Berg berichtet über ein Gerangel zwischen Bauhaus-Direktor Philipp Oswalt und Stiftungsratspräsident Stephan Dorgerloh in Dessau. Nach der Buchmesse ist vor der Buchmesse: Andreas Fanizadeh gibt einen kleinen Vorgeschmack auf Finnland, das Gastland des kommenden Jahres. Karl Bruckmaier trauert um Lou Reed.

Besprochen werden der Paganini-Film "Teufels Geiger" (der zwar "schauerlich missglückt" ist, was laut Josef Winkler aber nicht an Schauspieldebutant David Garrett liegt), eine Ausstellung der Kunstsammlung des Uranbergbauunternehmens Wismut in Chemnitz ("ein erstrangiges Dokument der DDR-Industrie- und Kulturgeschichte", meint Ingo Arend; hier im Bild "Seilfahrt" von Lutz R. Ketscher, 1985) und eine große Dürer-Ausstellung in Frankfurt.

Weitere Medien, 29.10.2013

Neben Deutschen, Franzosen und Italiener werden auch die Spanier ausspioniert, melden Guardian und Zeit. Bundeskanzlerin Merkel kümmert das wenig. Sie hat gerade das geplante Datenschutzabkommen der EU mit ausgebremst, berichtet Spon. Statt "im nächsten Jahr" soll das Abkommen jetzt "rasch", also irgendwann, verabschiedet werden: "Auch Merkel habe nicht auf Eile gedrängt, was manche ihrer Amtskollegen sehr überraschte. Die Kanzlerin schien nach Einschätzung von Teilnehmern weit interessierter am 'Five Eyes'-Abkommen, in dem die USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada organisiert sind. Dieses exklusive Abkommen, 1946 zwischen London und Washington begonnen, sieht vor, dass Verbündete erster Klasse einander nicht ausspionieren, sondern Informationen und Ressourcen teilen." Tatsächlich spionieren sich die Verbündeten gegenseitig aus, aber mit Wissen und gegenseitigem Einverständnis. Nur Merkels Handy wäre dann sicher.

Johanna Bruckner berichtet auf SZ online von einer Kampagne der UN gegen Sexismus im Netz. Dabei geht es um die Autocomplete-Funktion der Google-Suche: "Eingegeben sind Satzanfänge wie 'Frauen können nicht ...', 'Frauen sollten nicht ...', 'Frauen sollten ...' und 'Frauen müssen ...'. Die mutmaßlichen Ergebnisse der Google-Vervollständigung sind ebenfalls angezeigt: Sie sind im besten Fall sexistisch - im schlimmsten Fall frauenverachtend. Frauen können nicht Auto fahren, ist da zu lesen. Oder auch: Frauen sollten nicht wählen. Dafür schlägt die Autocomplete-Funktion vor, 'Frauen sollten in der Küche bleiben' und 'Frauen sollten Sklaven sein'. Den Satzanfang 'Frauen müssen ...' vollendet Google mit 'diszipliniert werden'."

Hier unser Suchergebnis für "Women should":


SZ, 29.10.2013

Peter Richter wird auch schon alleine deshalb nach Lou Reeds Tod sanft wehmütig, da das in Reeds Musik besungene und kartografierte New York so heute nicht mehr aufzufinden ist. Doch "das macht nichts. Der Stadtplan, den die Lieder von Lou Reed für immer vor die inneren Augen derer gepinnt haben, hat eine irgendwie gültigere Evidenz."

Außerdem: Willi Winkler empört sich darüber, dass der Theodor-Eschenburg-Preis nun nach langen Kontroversen (etwa hier) um die Vergangenheit des Politologen abgeschafft wird: "Nichts ist leichter, als in möglichst großen Geistern der jüngeren Vergangenheit den Antisemiten zu entdecken und heftig gegen die eigene antifaschistische Brust zu trommeln." Felix Stephan besucht einen Berliner Kongress über die Prognosequalitäten der Gegenwartsliteratur und stellt fest: "Die Zukunftsromane, die in Deutschland zurzeit entstehen, orientieren sich tendenziell eher an Ray Bradburys hoffnungsvollem 'Fahrenheit 451' als an George Orwells miesepetrigem '1984'". Christiane Schlötzer schreibt zum 90-jährigen Bestehen der Türkischen Republik. Kia Vahland schreibt zum Tod des Philosophen Arthur C. Danto.

Besprochen werden der Auftakt von Armin Petras' Intendanz am Staatstheater Stuttgart ("So viel Freundlichkeit und Liebe bin ich aus Berlin nicht gewohnt", zitiert Christine Dössel den vom Berliner Maxim Gorki Theater kommenden Neu-Stuttgarter), die Jean-Paul-Ausstellung "Dintenuniversum" im Berliner Max-Liebermann-Haus, eine Ausstellung mit Arbeiten von Piet Mondrian, Barnett Newman und Dan Flavin im Kunstmuseum Basel und Bücher, darunter Michael Krügers Gedichtband "Umstellung der Zeit" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 29.10.2013

Der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar hat versuchsweise sein Handy von einer darauf spezialisierten Firma mit einem Trojaner infizieren lassen, so dass er permanent abgehört werden konnte. Das Handy kann dann nicht nur Telefongespräche aufzeichnen und Bewegungsprotokolle erstellen, es hört auch so mit. Der Versuch macht Yogeshwar ziemlich nachdenklich: "Die Genauigkeit ist unmenschlich, denn im Protokoll lese ich Gesprächspassagen, die ich selbst inzwischen vergessen habe. In der digitalen Welt des Abhörens gibt es eben kein Vergessen... Wie lange wird es wohl noch dauern, bis wir unser Verhalten ändern und uns nicht mehr trauen, bestimmte Gedanken auszusprechen, nur weil wir dadurch ein bestimmtes Profil erfüllen?"

Weitere Artikel: Mark Siemons erklärt, dass chinesische Politiker geradezu erwarten, abgehört zu werden. Als "denkbar unehrlich" kommentiert Jürgen Kaube den Beschluss des Politologenverbands, den Theodor-von-Eschenburg-Preis wegen der SS-Vergangenheit des Namensgebers abzuschaffen. Dietmar Dath schreibt den Nachruf auf Lou Reed. Thomas Thiel resümiert die 47. Hofer Filmtage. Noemi Smolik interviewt Rita Mc Bride, die neue Rektorin der Düsseldorfer Akademie. Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über eine gerade im Dreh befindliche Verwurstung der Wulff-Affäre als Dokudrama.

Besprochen werden eine CD mit Chören von Richard Strauss, die Ausstellung "Man Ray - Fotograf im Paris der Surrealisten" im Max Ernst Museum Brühl, "Wozzeck"-Opern von Alban Berg und Manfred Gurlitt in Darmstadt, eine Ausstellung des Porträtisten Anton Graff in der Alten Nationalgalerie Berlin (das Bild zeigt sein Porträt Sophie Gabains aus dem Jahr 1795) und Bücher, darunter ein Plädoyer Philippe Van Parijs' für Englisch als lingua franca (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)