Heute in den Feuilletons

Ohne Cash

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2013. Frank Schirrmacher fordert in der FAZ eine europäische Alternative zu Google und Co. Die Historikerin Anne Applebaum kritisiert in Slate die "selbstgerechte Hysterie" der Deutschen. Glenn Greenwald betont trotz Keith Alexanders Protesten, dass die amerikanische Regierung bisher keine der Snowden-Enthüllungen dementiert hat. Und was wird wohl in Edward Snowdens Brief an die Kanzlerin stehen, den Christian Ströbele heute Nachmittag überreicht? Schon jetzt sollte er zumindest den Generalbundesanwalt beschämen, meint jedenfalls Netzpolitik.

Aus den Blogs, 01.11.2013

Christian Ströbele hat Edward Snowden in Moskau besucht, um zu eruieren, ob er bereit sei, vor einem Untersuchungsausschuss oder der Bundesanwaltschaft auszusagen (ist er, Ströbele wird Snowdens Brief an die Kanzlerin heute Mittag vorstellen). Markus Beckedahl sieht das auf Netzpolitik vor allem als Ohrfeige für den Generalbundesanwalt Harald Range: "Dieser wäre eigentlich dafür zuständig, Strafermittlungen gegen diejenigen zu starten, die durch die Snowden-Leaks als Überwacher ans Licht gekommen sind. Aber Range scheint in seiner Meinung zu Snowden leider bereits gefestigt zu sein: 'Ich kann einfach nicht nach Moskau fahren und mich auf den Flughafen setzen und warten, bis Herr Snowden vorbeikommt. … Ich weiß auch nicht, ob er ohne Cash mit uns redet.'"

(via BoingBoing) Einen ganz neuen Aspekt auf die Überwachung eröffnete der republikanische Senator Mike Rogers dem Geheimdienstausschauss des US-Parlaments, berichtet Techdirt. In einem Schlagabtausch mit dem Juraprofessor Stephen Vladeck erklärte
"Rogers: I would argue the fact that we haven't had any complaints come forward with any specificity arguing that their privacy has been violated, clearly indicates, in ten years, clearly indicates that something must be doing right. Somebody must be doing something exactly right.
Vladeck: But who would be complaining?
Rogers: Somebody who's privacy was violated. You can't have your privacy violated if you don't know your privacy is violated."

Weitere Medien, 01.11.2013

Für die Historikerin Anne Applebaum ist, wie sie in Slate schreibt, die deutsche Empörung über den Lauschangriff auf Angela Merkel nicht mehr als "selbstgerechte Hysterie", Antiamerikanismus und Post-Gestapo-Stimmung. Überhaupt nicht in Ordnung findet sie allerdings, dass die USA so viel Geld für uninteressante Kurznachrichten ausgeben: "Die Vereinigten Staaten haben viel zu lange gedankenlos Geld rausgeschmissen für Sicherheit. Aber auch die NATO hat viel zu lange vorgegeben, dass Sicherheit mehr Panzer bedeute. Wir haben es versäumt, unsere Alliierten auf den neuesten Stand zu bringen, als der Kalte Krieg endete und wir haben dies nach dem 11. September wieder versäumt. Der Skandal, die schlimmste Krise in den deutsch-amerikanischen Beziehungen seit Jahrzehnten, ist das Ergebnis."

In seinem Blog erklärt Glenn Greenwald, warum Keith Alexanders Behauptung, die Journalisten hätten die Snowden-Papiere falsch gelesen, mehr als zweifelhaft ist, und warum die Deutschen möglicherweise doch Recht haben, sich aufzuregen: "Vor mehr als drei Monaten - Ende Juni - hat der Spiegel einen Artikel veröffentlicht unter der Überschrift: NSA Snoops on 500 Million German Data Connections.' Er berichtete, dass die Boundless Informant Dokumente 'enthüllen, dass die amerikanischen Geheimdienste in Deutschland jeden Monat etwa eine halbe Milliarde Telefongespräche, Emails und SMS-Nachrichten überwachen'. Der Bericht basierte auf den selben Dokumenten für die selbe Zeit wie die in Frankreich und Spanien veröffentlichten. [...] Niemand in der amerikanischen Regierung hat in den letzten vier Monaten jemals behauptet, dass diese Berichte fehlerhaft seien. Die amerikanische Regierung wurde bei allen Geschichten, auch denen in Frankreich und Spanien, um Stellungnahme gebeten und hat nicht ein einziges Mal einen Fehler kritisiert."

Welt, 01.11.2013

Während deutsche Intellektuelle eine Abschaffung der Prostitution und die Bestrafung der Freier nach skandinavischem Modell fordern, macht in Frankreich eine satirische Bewegung um den Autor Frédéric Beigbeder auf sich aufmerksam, die genau das Gegenteil will, berichtet Jan Küveler. Ihre Petition heißt: "Touche pas à ma pute ! Le manifeste des 343 salauds". Matthias Heine kritisiert die zunächst in Nachtkritik bekanntgegebene Entscheidung des Theatertreffens, den "Stückemarkt" abzuschaffen.

Auf den Forumsseiten konstatiert Alan Posener einen Rückzug der Religionen und plädiert gegen einen "totalitären Laizismus", den er in Geert Wilders verkörpert sieht.

Besprochen wird eine Broadway-Inszenierung von Harold Pinters Stück "Betrayal" mit Daniel Craig und Rachel Weisz.

Perlentaucher, 01.11.2013

Auf dieses Tweet an Google Deutschland, das wir gestern zum ersten Mal abgesetzt haben, gibt es bisher keine Antwort. Hier nochmal.

Stichwörter: Google, NSA

TAZ, 01.11.2013

Fällt bald der letzte Vorhang am Anhaltischen Theater Dessau?, fragt sich Manuela Rauer angesichts der geplanten Etatkürzung um ein Drittel. "'Ich habe das Gefühl, hier passiert Unrecht. Der Druck ist Wahnsinn. Selbst der Bund erhöht den Kulturetat. Hier hält man an diesen irren Kürzungen fest'’, sagt (der Schauspieler) Sebastian Müller-Stahl.“"

Besprochen werden das Album "„Reflektor“" der kanadischen Band Arcade Fire und das Doppelalbum " „Big Wheel and Others“" des amerikanischen Singer-Songwriters Cass McCombs.

Und Tom.
Stichwörter: Arcade Fire, Kulturetat

NZZ, 01.11.2013

Tomasz Kurianowicz ist dreißig geworden, in schwerer Katerstimmung und zugleich sehr aufgeregt: "Vielleicht sind wir die Ersten, die in der Geschichte verstanden haben, dass keine Lebensweise die Paradoxien der Menschheit auszuräumen vermag. Etwa jene, dass wir alle, ob arm oder reich, zum Sterben verurteilt sind."

Außerdem: Marion Löhndorf gratuliert dem National Theatre London zum 50-jährigen Bestehen und dem neu ernannten Direktor Rufus Norris, der die Bühne ab 2015 leiten wird. Obgleich sie ein wenig verwundert ist über die Entscheidung, seien doch prominente Namen wie Kenneth Branagh oder Sam Mendes im Gespräch gewesen.

Besprochen werden außerdem die Fotoausstellung "Women of Vision" im National Geographic Museum in Washington, eine Ausstellung mit Landschaftsradierungen von Rembrandt im Städel-Museum Frankfurt, eine Schau über den Architekten Riken Yamamoto in Luzern und mehrere CDs, darunter András Schiffs Aufnahme von Beethovens Diabelli-Variationen, für die er zu zwei historischen Instrumenten, nämlich einem Bechstein von 1921 und einem Franz-Brodmann-Fortepiano gar von 1820 griff ("ein Glücksfall", findet Hartmut Lück).

SZ, 01.11.2013

In Bayern ist heute wegen Allerheiligen Feiertag - zu etwas ist Religion doch noch gut.

FAZ, 01.11.2013

Gegenspionage hilft nicht gegen den Überwachungs-GAU, meint Frank Schirrmacher, der statt dessen europäische Kommunikationsstrukturen fordert: "Als die digitale Welt noch frei war, entwickelte sie den Gedanken von 'Open source'-Systemen, in denen die Intelligenz vieler dem Gemeinwohl aller zugute kommt. Über Vorschläge, die brachliegende digitale Intelligenz Europas zu entfesseln, indem man eine solche Initiative für integre Netzwerke und, wer weiß, auch für Suchmaschinen politisch ins Leben ruft und fördert, sollte politisch diskutiert werden."

Im Feuilleton unterhält sich Schirrmacher mit Hans-Peter Uhl von der CSU über den NSA-Skandal. Unter den jüngsten Eindrücken plädiert Uhl sogar für eine Rückbesinnung auf die nationale Souveränität: "Teile unserer Kommunikationsinfrastruktur, die für uns und unsere Volkswirtschaft lebenswichtig sind, müssen wir wieder in staatliche Obhut nehmen."

Kann uns das beruhigen? Gestern erst berichtete Peter Carstens in der FAZ, dass die große Koalition die Vorratsdatenspeicherung einführen will, die Sabine Leutheusser-Schnarrenberger uns jahrelang vom Hals gehalten hat: "Aus Verhandlungskreisen für die große Koalition hieß es nun, Einigkeit bestehe bei der Absicht, dieses von Bundeskriminalamt und Nachrichtendiensten vermisste Instrument der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr wieder nutzbar zu machen. Allerdings besteht noch kein Einvernehmen über Details, etwa die Frage, wie lange die Daten aufbewahrt werden sollen, drei Monate oder vier Monate beispielsweise."

Außerdem: Constanze Kurz hat sich eingehender mit dem Programm FoxAcid befasst, das gezielt und "weitgehend automatisiert" Software-Sicherheitslücken nutzt, um sich in allerlei Kommunikationsabläufe einzuschalten. Steve Jobs' alte Garage wird unter Denkmalschutz gestellt, meldet Niklas Maak, der in einem zweiten Artikel die Probleme kunstbegeisterter New Yorker beschreibt, einen echten Banksy bei dessen New Yorker Tour zu ergattern (aktuell wird gerade ein von ihm um einen Nazi ergänztes Kitschbild versteigert). Petra Kolonko beobachtet den weitgreifenden architektonischen Wandel in der chinesischen Stadt Nanking. Andreas Rossmann begeht die neue, innen wie außen komplett von Holz ummantelte Kirche der evangelischen Gemeinde Flittard-Stammheim bei Köln. Ursula Scheer porträtiert den Tierfilmer Andreas Kieling. Jürgen Dollase speist bei "Meisterkoch" Jens Bomke in Wadersloh.

Besprochen werden neue Musikveröffentlichungen, darunter ausführlicher Ragna Schirmers neue Händel-Aufnahme und das neue Album von M.I.A., eine Aufführung von "Les Vêpres Siciliennes" in London, die Diderot-Verfilmung "Die Nonne" und Bücher, darunter Volker Reiches Comicband "Kiesgrubennacht" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).