Heute in den Feuilletons

Welthaltigkeit ist das Stichwort

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2013. In der FAZ attackiert Roland Reuß deutsche Bibliotheken (etwa die Bayerische oder die HU-Bibliothek) und wirft ihnen vor, Nutzerprofile an Google (und somit tendenziell an die  NSA) auszuliefern. SZ und FAZ sind nicht ganz einverstanden mit der Entdeckung immer neuer Raffaels oder Da Vincis. Die NZZ porträtiert die katalanische Verlegerin und Autorin Rosa Regàs, die sich gegen den sezessionistischen Taumel in ihrer Region wendet. Rue89 analysiert das neue Wahlkampfplakat der unheimlichen Marine Le Pen.

Welt, 12.11.2013

Wen die Existenz des Five-Eyes-Spionagebundes überrascht hat, sollte das 1985 erschienene Buch "The Ties That Bind" von Jeffrey T. Richelson und Desmond Ball lesen, empfiehlt Wolf Lepenies. Da steht praktisch alles drin, auch, wie das Verbot der Binnenspionage umgangen wird, indem "Spionage als wechselseitige Dienstleistung betrieben wird und die ermittelten Daten dem 'Partner' zur Verfügung gestellt werden. Wie selbstverständlich hört die NSA die britischen Telefone ab, die der britische Geheimdienst MI5 nicht abhören darf - und gibt sie kollegial an die Briten weiter."

Weitere Artikel: Inga Pylypchuk stellt Pjotr Pawlenski vor, den russischen Künstler, der seinen Hodensack auf dem Roten Platz festnagelte. ARD und ZDF sollen laut Spiegel seit der Einführung der Zwangsgebühr 500 Millionen Euro mehr eingenommen haben, meldet Barbara Möller. Eine sehr muntere Sheila E. unterhält sich mit Claus Lochbihler über ihre Karriere als Schlagzeugerin. Sascha Lehnartz stellt das Magazin Paris Match vor, das Cornelius Gurlitt in München aufspürte. Peter Dittmar erzählt, warum die Nazis gern Kunsthändler mit jüdischem Hintergrund missbrauchten. Konstantin Nowotny stellt Kamala Khan vor, neue muslimische Heldin des Comic-Verlages Marvel. Und Manuel Brug berichtet von drei Aufführungen zu Verdis Zweihundertstem in Hamburg.

Besprochen wird Antú Romero Nunes' Inszenierung von "Alice im Wunderland".

Weitere Medien, 12.11.2013

Für Zeit online haben Kai Biermann und Marin Majica bei Experten mal rumgefragt, was sie von einem deutschen Internet halten würden, wie es kürzlich propagiert wurde. Wenig, wie sich herausstellt. Die Telekom hätte in diesem Fall nämlich ein Monopol, das sie sich von ihren Kunden gut bezahlen lassen würde. Wichtiger wären Gesetze, um die Arbeit der Geheimdienste besser überwachen zu können: "Tatsächlich wirkt der Vorschlag aus der Politik für ein nationales Routing wie ein Versuch, genau dieser Frage aus dem Weg zu gehen. Die Internetsociety, die für die Weiterentwicklung der Netzinfrastruktur zuständig ist, nennt das Schlandnet denn auch eine 'lediglich symbolische Politik, die keine nachhaltigen Verbesserungen für die Menschen erreichen kann, aber von ihrer eigenen Konzept- und Ahnungslosigkeit ablenken will'."

TAZ, 12.11.2013

Catarina von Wedemeyer erzählt vom Open-Mike-Wettbewerb, den Maren Kames, Dimitrij Gawrisch und Jens Eisel gewonnen haben: "Welthaltigkeit ist das Stichwort. Zwischen so vielen Künstlern und hippen Brillen kann der Zuhörer vergessen, dass er mitten im Problembezirk Neukölln sitzt, der auch mit Kinderarmut und Integrationsproblemen in der Zeitung steht. Neukölln ist beides, sagt die Bezirksstadträtin Franziska Giffey. Die reiche Bohème und die ausgefeilte Sprache der jungen Autoren gehören inzwischen genauso zum Stadtteil wie die Sprachdefizite der Kinder, die hier zur Schule gehen. Man wartet auf den Tag, an dem genau diese Kinder ihre Geschichten erzählen."

Besprochen werden Ernst Jüngers "Stahlgewitter" in der historisch-kritischen Ausgabe von Helmuth Kiesel und die Dokus der Duisburger Filmwoche.

Auf der Medienseite berichtet Ralf Sotscheck, dass Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger vor dem britischen Unterhaus aussagen soll.

Und Tom.

FR/Berliner, 12.11.2013

Matthias Merkle muss seine berühmte Kneipe, das Freie Neukölln, schließen. Im Interview mit der Berliner Zeitung ätzt er über die Kreativen und Internationalen, die den Bezirk für die Investoren interessant machten: "Dann standen plötzlich die Drogengangs nicht mehr an den Ecken. Stattdessen gingen Menschen mit dem Stadtplan aus der Zitty durch die Straßen, um zu gucken, wo es in Neukölln rockt. Dann verirrten sich immer mehr Touristen hierher. Die Puffs zogen weg. Nebenan war das Tük Tük Thai Musikcafé, ein Thaipuff. Die Mädels tranken vor ihrer Schicht Kaffee bei uns. Aber ein Puff funktioniert natürlich nur, wenn er in einer verlassenen Straße liegt und nicht, wenn man von dreißig Leuten dabei beobachtet wird, wie man klingelt."

Der Bauexperte und Historiker Andreas Ruby zeigt in einem weiteren Interview mit der Berliner Zeitung durchaus Verständnis für Frank Stellas Stadtschloss, plädiert aber doch für Braunfels' inzwischen sehr populäre Variante des offenen Entwurfs: "Nun ja, unter Stadtplanern und Architekten will kaum jemand ein Schloss. Aber wenn schon ein Schloss, dann doch lieber die Braunfels-Variante, finde ich..."

Aus den Blogs, 12.11.2013

Denkt man an ihren Vater, erweist sich Marine Le Pen als die fast unheimlichere Politikerin, weil sie es schafft, der rechtsextremen Partei eine glattere und modernere Fassade zu geben. Pascal Riché analysiert in Rue89 ihr jüngstes Wahlplakat und findet überraschende Referenzen: "Am überraschendsten ist der Slogan: 'Vereint sind die Franzosen unschlagbar.' Er ist geradezu von Nicolas Sarkozy abkopiert: 'Vereint wird alles möglich': Selbe Satzkonstrutkion, selbe Idee. Der Front National spielte sich lange als das 'Original' auf, das die Wähler einst der 'Kopie' vorziehen würden, aber nun scheinen sich die Rollen umgekehrt zu haben." (Mit der kleinen Pointe allerdings, dass Le Pen auf diesem Wege zur stärksten politischen Kraft in Frankreich zu werden scheint...)




 

NZZ, 12.11.2013

Hans-Jörg Neuschäfer porträtiert die katalanische Verlegerin und Autorin Rosa Regàs, die in ihrem 1970 gegründeten Verlag La gaya ciencia Texte damals oppositioneller Autoren veröffentlichte und politische Aufklärung gegen das Franco-Regime betrieb. "Resolut, aber mit Augenmaß" positioniere sie sich auch heute noch: "So auch in der aufgeregten katalanischen Sprachenpolitik, wo sie sich mit anderen bekannten Autoren für den Erhalt des Kastilischen einsetzt. Oder in ihrer Ablehnung des schrill propagierten Separatismus. Hier tritt sie für eine Stärkung des Föderalismus, gleichzeitig aber auch für einen Verbleib Kataloniens im spanischen Staatsverband ein."

Außerdem: Für seine Auschwitz-Reflexionen "Landschaften der Metropole des Todes" wird der israelische Historiker Otto Dov Kulka mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet, berichtet Uwe Justus Wenzel. Sieglinde Geisel schreibt über ein Berliner Gespräch mit dem Schweizer Polit-Künstlers Milo Rau, der mit seinen Reenactments realer Ereignisse wie dem Ceausescu-Prozess bekannt wurde. Bernd Noack bedauert, dass das geschichtsträchtige Westberliner Hotel Bogota von 1911 aufgrund eines Rechtsstreits nun schließen muss: "Eine Atmosphäre wie aus einem Kästner-Roman" habe dort geherrscht, schwärmt er. Der Stadtplaner Jürg Sulzer plädiert für eine Rückbesinnung auf alte Traditionen beim urbanen Bauen.

Auf der Medienseite schreibt Andreas Mink über die Reality-Serie "Duck Dynasty", derzeit die erfolgreichste Sendung im amerikanschen Kabelfernsehen: Konträr zu anderen Formaten des Genres vertritt sie stark religiöse Ansichten und propagiert ein heiles Familienleben auf dem Land.

Besprochen werden ein Auftritt von Cecilia Bartoli in der Tonhalle Zürich, ein Konzert von Aimee Mann und Chris Cornell in Basel, ein Gastspiel des Tänzers Israel Galván in der Opéra de Lausanne und Bücher, darunter eine Edition von Briefen Iwan Gontscharows.

SZ, 12.11.2013

Auch die Ausstellung "Raffael und das Porträt Julius' II." im Frankfurter Städel, die auf die Debatte um das vom Museum Raffael zugeschriebene Bild reagiert, kann Kia Vahland nicht vom kunsthistorischen Rang des Bildes überzeugen. Till Briegleb begutachtet das neue Gebäude des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, das komplett uneinsichtig, weil fensterlos gebaut wurde. Bernd Graff berichtet von einer kulturwissenschaftlichen Tagung in Wien zum Thema "Unordnung". Michael Stallknecht ist skeptisch, was das Inszenierungskonzept der in München aufgeführten Oper "Der Zwerg" betrifft, in der die Titelrolle nicht mehr von einem Kleinwüchsigen gespielt wird: "Das entspricht dem Denken einer Gesellschaft, die Diversität zwar gerne lobt, während die Menschen sich aber de facto immer ähnlicher werden. Also verschwinden die körperlichen Gebrechen zunehmend aus dem öffentlichen Raum, denn ihr Sichtbarwerden löst Peinlichkeit aus."

Besprochen werden die Ausstellung "Schicht im Schacht" in der Neuen Sächsischen Galerie in Chemnitz, Marc Bauders Dokumentarfilm "Master of the Universe" , eine Dramatisierung von Dostojewskis "Idiot" unter Regie von Stephan Kimmigs am Schauspiel Frankfurt und Bücher, darunter Andrea Winklers Roman "König, Hofnarr und Volk" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 12.11.2013

Roland Reuß wirft Bibliotheken wie der Bayerischen Staatsbibliothek oder der HU-Bibliothek in Berlin eine geradezu kriminelle Zusammenarbeit mit Konzernen wie Google vor und entwirft das Szenario, dass Google und andere Clouds Nutzerprofile an die Geheimdienste liefern könnten: "Die algorithmische Auswertung von Leseverhalten in den Händen einer über die Stränge schlagenden Exekutive ist der Albtraum einer demokratischen Gesellschaft..." Dies unter anderem, "weil viele Bibliotheken zugleich über die Implementierung von sogenannten History-Funktionen (für wie lange, weiß keiner so recht) Recherchevorgänge speichern, die dann, wenn man einmal ein Buch ausgeliehen hat, eindeutig einer konkreten Person zuzuordnen sind." Die Opt-Out-Politik von Google kommentiert Reuß mit dem Satz: "So hat man das damals schon mit den Indianern gemacht."

Der Kunsthistoriker Frank Zöllner kritisiert den Drang, bestimmte Gemälde Leonardo da Vinci zuzuschreiben, als einen profitorientierten Gag: "Ein Werkstattgemälde wird in einem Schweizer Tresor eingelagert, und ausgewählte Experten werden der Reihe nach um eine Meinung gebeten, bis sich einer zu einer Expertise durchringen kann. Für diese Expertise gibt es zunächst ein bescheidenes Honorar, zumeist im dreistelligen Bereich; ein zweites Honorar fließt dann, wenn das Gemälde als authentisches Altmeistergemälde verkauft wird."

Weitere Artikel: Julia Voss ruft in der Causa Gurlitt nach der Politik, die zum Beispiel für mehr Experten für die Zuschreibung sorgen müsse. Jürgen Kaube sieht in der Volksentscheidung gegen die olympischen Spiele in Bayern einen Trend - wohlhabende Länder haben keine Lust mehr, solche Spektakel auszurichten. Lars Klöhn und Georg M. Oswald versuchen eine rechtshistorische Einordnung der Suhrkamp-Prozesse. Auf der Medienseite fragt sich Michael Hanfeld, was ARD und ZDF mit den nun doch hereinregnenden Mehreinnahmen durch die Zwangsgebühr machen werden. Und Jochen Hieber schreibt den Nachruf auf Jürgen Leinemann.

Besprochen werden eine Rekonstruktion von Mary Wigmans 1957 uraufgeführter "Sacre"-Choreografie in Osnabrück, Willibald Glucks frühe Opera seria "Ezio" in Frankfurt, das Drama "Gift" der niederländischen Autorin Lot Vekeman am Deutschen Theater, Lesungen des Open-Mike-Wettbewerbs in Berlin, Ernst Kreneks Oratorium "Symeon der Stylit" bei den Kasseler Musiktagen, eine Dramatisierung von Carrolls "Alice im Wunderland" in Zürich, CDs mit Kammermusikwerken von Johann Sebastian Bach und Bücher, darunter Frederick Forsyths Drohnen-Roman "Die Todesliste" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).