Heute in den Feuilletons

Großbritannien ist verdammt noch mal am Ende

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2013. Dass mit dem Privatmann Cornelius Gurlitt anders verfahren wird als etwa mit Museen, erscheint der FAZ inzwischen skandalös. Die Welt unterwirft Gurlitt schon mal einer Psychoanalyse. Spiegel Online und SZ bringen neue Geheimdienstenthüllungen. In der Daily Mail erklärt Google-Chef Eric Schmidt, wie er durch Indizierung von Suchen Kinderpornografie verhindern will. In der taz schwärmt Oasis-Entdecker Alan McGee vom Bauch der Arbeiterklasse.

Spiegel Online, 18.11.2013

Der britische Geheimdienst GCHQ dringt gezielt in die Netzwerke von Firmen ein, die Handy-Roaming ermöglichen, und er greift die Netzwerke von Abrechnungshäusern an, die Zahlungstransfers zwischen Mobilfunkanbietern regeln. Im Interview erklärt der Mobilfunkexperte Philippe Langlois, was mit diesen Überwachungsmethoden bezweckt wird: "Hat man da Zugang, kann man jeden Nutzer auf der Welt verfolgen, der mit seinem Smartphone im Ausland unterwegs ist. Websurfen und alle Zugriffe auf die Mobilnetze laufen beim Roaming über diese Austauschsysteme. Man kann sie belauschen, indem man passiv alle Daten, alle aufgerufenen Websites, alle E-Mails abfängt." Der Clou aber ist, dass das GCHQ Spionage-Software nur auf Basis der Telefonnummer auf Handys schmuggeln möchte, was Langlois für absolut machbar hält.

Welt, 18.11.2013

Marc Reichwein resümiert die Geschichte der Spiegel-Reporterin Özlem Gezer, die Cornelius Gurlitt drei Tage lang begleitet hat: Die Bilder gehörten ihm, "freiwillig gebe ich nichts zurück", sagte er. Für Reichwein zeigt sich in der Reportage vor allem "das Psychogramm eines Mannes, über das man seit Bekanntwerden des Falls nur spekulieren konnte. Indes wird eines aber ganz deutlich: Cornelius Gurlitt scheint über die Jahrzehnte tatsächlich ein geradezu parasoziales Verhältnis mit den Kunstwerken in seiner Wohnung gepflegt zu haben: 'Jetzt sind die Bilder irgendwo in einem Keller, und ich bin allein.'"

Weitere Artikel: Tim Ackermann hofft in einem Kommentar, dass Gurlitt "Größe" zeigt und doch noch freiwillig auf die Bilder verzichtet. Roman Polanski spricht im Interview über seinen neuen Film "Venus im Pelz" im Besonderen und den Geschlechterkampf im Allgemeinen. Jan Küveler hatte Mühe, bei der Verleihung des Theaterpreises "Der Faust" wach zu bleiben. Andrea Backhaus schildert die "fast kafkaeske Paranoia" ägyptischer Kulturschaffender in der jetzigen, unüberschaubaren politischen Situation. Barbara Möller schreibt den Nachruf auf Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing.

Besprochen werden die Performance "Schwarze Augen, Maria" der Gruppe Signa in Hamburg und neue amerikanische Bücher zum Tod John F. Kennedys.

Tagesspiegel, 18.11.2013

Peter von Becker ist empört, dass der Brief von Pussy-Riot-Mitglied Nadeshda Tolokonnikowa über die entsetzlichen Bedingungen in russischen Lagern überhaupt keine politischen Reaktionen ausgelöst hat: "Nadja Tolokonnikowa betont im Briefwechsel mit Slavoj Žižek [mehr], dass die Zahl der politischen Häftlinge in Russland wachse, und sie fragt, wann die Toleranz gegenüber dem Putin-Regime 'zur Kollaboration, zur verbrecherischen Beihilfe' werde. Sie erwähnt auch die Olympischen Spiele in Sotschi, für die Natur und Menschen weichen mussten. Das wird, angesichts der russischen Schande, die nächste, sehr große Peinlichkeit."

NZZ, 18.11.2013

Der in Budapest lebende Autor Wilhelm Droste beobachtet mit Sorge, wie die Regierung von Victor Orbán den ungarischen Bürgern ihre Sprache stiehlt: "Der von der erdrückend starken Regierungsmehrheit im Parlament gesteuerte Staat okkupiert einen ganzen Wortschatz und entzieht ihn damit großen Teilen der Bevölkerung. Das jüngste unrühmliche Beispiel ist das Wort 'nemzet'. Auf zwielichtige Weise wurden alle Tabakläden neuen, oft regierungsfreundlichen Besitzern zugeteilt, und diese Läden nennen sich jetzt 'Nemzeti Dohánybolt', nationaler Tabakladen mit einheitlichem Emblem an den Türen und Fassaden."

Weiteres: Bernadette Conrad würdigt in ihrem Nachruf die Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing als "Schriftstellerin jenseits von Pathos und Gefälligkeit und ohne Rücksicht auf Moden, die ihr Hunger nach Erkenntnis von einer Welt zur nächsten trieb". Besprochen werden die Konzerte bei den Tagen für Neue Musik in Zürich.

Guardian, 18.11.2013

Welches mögen wohl die 100.000 Begriffe sein, die mit Kindesmissbrauch im Zusammenhang stehen. Der Guardian berichtet jedenfalls über eine allgemein begrüßte Zensurmaßnahme von Google: "Google is targeting 100,000 terms associated with online child sexual abuse in a move hailed by David Cameron, who will announce a series of measures to tackle the problem at a cyber-summit in Downing Street. The prime minister said that Google and Yahoo had 'come a long way' after the internet firms announced a series of initiatives to try to block access to child pornography." Google-Chef Eric Schmidt erklärt sich in einem Artikel in der Daily Mail zu seinen Maßnahmen.

Aus den Blogs, 18.11.2013

Der Journalismusprofessor Jay Rosen schließt sich dem neuen journalistischen Projekt an, das der Ebay-Gründer Pierre Omidyar mit Glenn Greenwald gründet. In seinem Blog pressthink erklärt Rosen, was er sich von dem Projekt mit dem vorläufigen Namen NewCo erhofft: "For me and the things I write and care about, NewCo is the most exciting project in journalism today. To be involved from the beginning in the birth of a company based on these ideas is the best test of my learning that I could devise. And I'm sure it will produce new knowledge, which I will share."

(Via Matthias Rascher) Es hat sich herausgestellt, dass es zwischen Zebras und Eseln keine Artenschranke gibt. Das Ergebnis sieht niedlich aus.

TAZ, 18.11.2013

Im Interview mit Dirk Schneider spricht der Musik-Impresario und Oasis-Entdecker Alan McGee über Pop und Politik und den Mythos der britischen Arbeiterklasse: "Die Leute haben mehr Leidenschaft, mehr Seele. Sie haben eben kein Sicherheitsnetz, keinen reichen Daddy oder eine reiche Mami. Aber wir sollten diese Aufteilung endlich mal über den Haufen werfen. Wir haben in Großbritannien mittlerweile so viele Leute, die längst nicht mehr zur Arbeiterklasse gehören. Einen Job zu haben ist in meinem Land schon fast ein Privileg... Großbritannien ist verdammt noch mal am Ende. Wir haben keine produzierende Industrie mehr, und die Leute werden von den Zinsen aufgefressen."

Weitere Artikel: Nach anfänglicher Skepsis bringt Radek Krolczyk echte Begeisterung für die Collage-Ausstellung "Ruhe-Störung" im MARTa Herford und Kunstmuseum Ahlen auf. Und Friedrich Küppersbusch verrät, warum sich Angela Merkel so gut vorne verstecken kann. Anna Klöpper berichtet von der Vergabe der Himmel-und-Hölle-Preise, mit dem die Freischreiber besonders faire respektive unfaire Redaktionen bedenken.

Und Tom.

SZ, 18.11.2013

Im politischen Teil berichten John Goetz, Christian Fuchs, Frederik Obermaier und Tanjev Schultz, dass amerikanische Geheimdienste in Deutschland aktiv unsere Grenzen mitüberwachen. "Neben CIA und NSA operieren hierzulande mehr als 50 Mitarbeiter des Secret Service, des US-Heimatschutzministeriums, der US-Einwanderungs- und Transportbehörden. Sie genießen diplomatische Immunität und haben Befugnisse, die denen deutscher Polizisten und Zöllner nahekommen. Sie entscheiden, wer ins Flugzeug steigen darf, welcher Container auf welches Schiff geladen wird - und im Zweifel nehmen sie offenbar sogar Menschen fest."

Im Feuilleton denkt Alexander Menden darüber nach, warum die Aufregungen über die NSA-Aufdeckungen in Deutschland ungleich größer sind als in Großbritannien und kommt zu dem Schluss: Es liegt an unterschiedlichen Philosophien. Während die Deutschen ihren Kant verinnerlicht haben und sich darum vor allem empören, "wenn sie Prinzipien verletzt sehen", neigen die Briten zum Pragmatismus eines John Stuart Mill.

Außerdem: Jörg Häntzschel entnimmt dem aktuellen Spiegel (mehr), dass Cornelius Gurlitt die Bilder des Schwabinger Kunstfunds ungerührt für sich beansprucht und an der Staatsanwalt kein gutes Haar lässt. Elisabeth Fischer trifft sich mit dem israelischen Historiker und Autor Otto Dov Kulka. Burkhard Müller schreibt den Nachruf auf Nobelpreisträgerin Doris Lessing. Online gibt es einen Nachruf von Bernd Graff.

Besprochen werden François Ozons neuer Film "Jung & Schön", René Polleschs "Gasoline Bill" an den Münchner Kammerspielen und Bücher, darunter Karen Russells Erzählungen "Vampire im Zitronenhain" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 18.11.2013

Formal völlig zu Recht besteht Cornelius Gurlitt auf der Rechtmäßigkeit seines Besitzes, meint Julia Voss nach Lektüre des Spiegel-Interviews mit Gurlitt: "Der Umgang mit NS-Raubkunst in Deutschland ist an Scheinheiligkeit nicht zu übertreffen. Zuerst ließen Bund und Länder die juristische Möglichkeit verstreichen, Verjährungsfristen zu verlängern. Als Nächstes aber betreiben Kulturministerium und Staatsanwaltschaft eifrig ein moralisches Verfahren gegen einen Privatmann..."

Volker Corsten streift durch die Retrospektive des Modefotografen Guy Bourdin in den Hamburger Deichtorhallen und entdeckt einen Fotografen, der immer etwas mehr als nur Mode sah: "Für seinen allerersten Auftrag bei der französischen Vogue etwa, es ging um Hüte, ging er 1955 mit den Models in eine Metzgerei. Auf den Bildern stehen Models, klinisch rein bis zu den Lederhandschuhen und tadellos zurechtgemacht, vor kalkweißen Schafsköpfen, die Augen geschlossen, die Zungen herausgestreckt. Die Reaktion der Leserinnen würde man heute wohl als 'Shitstorm' bezeichnen." (Foto: Vogue-Aufnahme von Guy Bourdin, 1981, © The Estate of Guy Bourdin)

Weitere Artikel: Andreas Platthaus schreibt den Nachruf auf Doris Lessing. Abgedruckt wird die Dankrede des Machiavelli-Biografen Volker Reinhardt für den Golo-Mann-Preis.

Besprochen werden erste Inszenierungen unter Shermin Langhoff am Gorki-Theater Berlin, eine Tango-Choreografie Sidi Larbi Cherkaouis im Festspielhaus Sankt Pölten, ein Konzert des tunesischen Lautenisten Anouar Brahem in Mannheim, Ereignisse des Münchner Literaturfestivals, und Bücher, darunter Erzählungen Iwan Bunins (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).