Heute in den Feuilletons

Erfahrbare Materialität des gedruckten Wortes

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2013. Die taz ist baff: der neue Papst ist so radikal, dass er sich am Ende womöglich selbst abschafft. In der Zeit erklärt  Burda-Chef Paul-Bernhard Kallen, wie es kommt, dass der Internetkonzern Amazon so viel innovativer ist: Es liegt daran, dass er lange keine Umsatzsteuer zahlte!  Auch in der Zeit zieht Alice Schwarzer Parallelen zwischen Pädophilie und Prostitution. In Spiegel Online erklärt Juli Zeh, wo die Konfliktlinie bei der NSA-Affäre wirklich verläuft. Die NZZ besucht die legendäre London Library.

Spiegel Online, 28.11.2013

Im Interview mit Ole Reißmann spricht Juli Zeh über die von der neuen Regierung wieder geplante Vorratsspeicherung und über einige grundsätzliche Wahrheiten im Zusammenhang mit der Überwachungsaffäre: "Ich finde überhaupt nicht, dass die NSA-Affäre ein amerikanisch-europäisches Problem ist. Die Konfliktlinie läuft zwischen Staat und Bürger. ... Ich fürchte, Merkel würde lieber Seite an Seite mit den Amerikanern den Rest der Welt überwachen, als selbst Opfer zu sein. Sie hat weniger ein Problem mit der Überwachung, sondern nur, dass sie auf der falschen Seite der Abhörstrippe sitzt."

Theresa Breuer und Raniah Salloum berichten aus Kairo über die Entführung Hamed Abdel-Samads, der offenbar von angeheuerten Schergen im Auftrag von Geschäftspartnern festgehalten und traktiert wurde: "Seine deutsche Staatsbürgerschaft, seine Bekanntheit in Deutschland, aber auch das Wissen um seine radikalislamistischen Feinde sind Hamed Abdel-Samad wohl zugute gekommen in dieser privaten Fehde. Sofort waren alle Stellen über das Verschwinden alarmiert, die Entführer bekamen den Druck der Verfolger zu spüren. 'Das war wahrscheinlich seine Rettung', sagt sein Bruder. 'Wer weiß, wann sie ihn sonst wieder freigelassen hätten.'"

Spiegel Online meldet heute Nacht auch, dass der Autor und Verleger Wolf Jobst Siedler im Alter von 87 Jahren gestorben ist.

NZZ, 28.11.2013

Marion Löhndorf betritt ehrfurchtsvoll die fast zweihundert Jahre alten Räume der legendären London Library. Für 460 Pfund im Jahr kann man hier eine Reise in die literarische Vergangenheit antreten: "Im iPad- und Kindle-Zeitalter schwelgt die Institution in ihrer Begeisterung für die erfahrbare Materialität des gedruckten Wortes (ihre Bestände sind nur teilweise digitalisiert). Da schwingen anachronistischer Stolz und Widerständigkeit mit und vielleicht auch die englische Liebe zur Tradition."

Weiteres: Paul Andreas besichtigt das neue nordrhein-westfälische Landesarchiv, das in einem Speichergebäude aus den dreißiger Jahren untergebracht ist und mit dem der Umbau des Duisburger Innenhafens nun abgeschlossen ist. Geri Krebs schwärmt von dem Film "Workers" des Mexikaners José Luis Valle, bei dem ihm besonders die "provozierende Langsamkeit" und die Kraft der Bilder gefallen, "die von solch vollendeter Schönheit sind, dass sich jeder Anflug von Langeweile verflüchtigt".

Besprochen werden außerdem Ridley Scotts Thriller "The Counselor", ein Konzert von John-Eliot Gardiner in der Tonhalle Zürich, eine Fotoausstellung von Rainer Viertlböck in der Architekturgalerie München und Bücher, darunter Erzählungen des französischen Nobelpreisträgers J. M. G. Le Clézio (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Welt, 28.11.2013

Hanns-Georg Rodek liest die Koalitionsvereinbarungen zum Thema Kultur und freut sich, dass es "Plattformen, deren Geschäftsmodell auf Urheberrechtsverletzung beruht", nun mit der Regierung zu tun bekommen. Lucas Wiegelmann analysiert die Sprache des neuesten Papst-Papiers. Wieland Freund liest Joanne K. Rowlings neuesten Krimi.

Besprochen werden Katrin Gebbes Film "Tore tanzt" und Udo Zimmermanns und Uwe Scholzs Ballett "Pax 2013" in Leipzig.

Perlentaucher, 28.11.2013

Anne Fontaines Film "Tage am Strand" zeigt Rotwein, Meer und Sex mit dem Sohn der besten Freundin. "Eine ziemlich verquere Konstellation", schreibt Lukas Foerster in unserer Filmkolumne, "die nur vorübergehend entschärft wird, wenn sich erst Tom, dann Ian mit anderen, ihnen alterstechnisch angemesseneren Partnerinnen zusammentun. ... 'Tage am Strand' basiert, immerhin, auf einer Novelle der unlängst verstorbenen Doris Lessing. Ich habe die Vorlage nicht gelesen, insofern bleibt alles Spekulation, aber ich könnte mir vorstellen, dass das auch insgesamt System hat: Eine Nobelpreisträgerin versucht, einen abstrakten Porno zu schreiben; und eine Arthausregisseurin macht daraus einen abstrakten Exploitationfilm."

Und: Jochen Werner schreibt über Pablo Bergers bezaubernden Stummfilm "Blancanieves".

SZ-Autorin Sonja Zekri fand es anlässlich der Entführung Hamed Abdel-Samads wichtig festzuhalten: "Abdel-Samad ist der Fall eines Konvertiten, der das, wofür er einst sterben wollte, nun mit demselben heiligen Furor bekämpft."Thierry Chervel analysiert diese Art des Konvertitenvorwurfs im Perlentaucher.

TAZ, 28.11.2013

Doris Akrap hat den Eindruck, Papst Franziskus habe beim Verfassen seines "Evangelii Gaudium" dem strukturalistischen Philosophen Gilles Deleuze mehr abgewinnen können als der Bibel, was ihm möglicherweise den Titel "Verkünder der Rhizom-Theologie" eintragen könnte. "Wird er der Papst sein, der an die Stelle dieses heiligen Baumes die Rhizome, also Wurzelgeflechte, einsetzt und damit das Erkenntnismodell von Gilles Deleuze und Felix Guattari in die Kirche holt, um die versteinerte Machtinstitution, die verkommenen Moral- und Wertvorstellungen zu untergraben? Wird er also der Papst sein, der die Unterwerfung unter des Papstes Wort und Wille zur Todsünde erklärt und damit sich selbst abschafft?"

Weitere Artikel: Hans Dickel stellt ein Ausstellungsprojekt der Berliner Konzeptkünstler Renata Stih und Frieder Schnock vor, die anlässlich einer Gastprofessur an der Kunstuniversität von Saint Louis mit dem "Suchbesteck" der Institutional Critique das Museumsareal des dortigen Art Museum nach deutschen Spuren durchsuchten. Tilman Baumgärtel denkt über Vor- und Nachteile der neuen Vertriebswege Onlinestreaming und Video-on-Demand nach, die zwar unabhängigen Filmemachern neue Chancen bieten, kleine Kinos jedoch weniger begeistern. Katrin Bettina Müller kommentiert die Verabredungen zur Kultur im Koalitionsvertrag. Daniel Schreiber geht in seiner alkoholfreien Kolumne dem jahreszeitlich bedingten "institutionalisierten Dauerrausch aus Rumrosinen, Glühweinexzessen und Festtagschampagner" nach.

Besprochen werden die in Schwarzweiß gedrehte Stummfilmhommage "Blancanieves" des Spaniers Pablo Berger, das Spielfilmdebüt "Tore tanzt" von Katrin Grebbe und die DVD von "St. Pauli zwischen Nacht und Morgen", dem einzigen deutschen Film des letztes Jahr verstorbenen Franzosen José Bénazéraf (Ehrenname: "Godard des Pornos") von 1967.

Und Tom.

Zeit, 28.11.2013

Alice Schwarzer zieht in einem Essay Parallelen zwischen Pädophilie und Prostitution: "Das Entscheidende bei Pädophilie wie Prostitution ist das Machtgefälle: das zwischen Erwachsenen und Kindern wie zwischen (zahlenden) Männern und (bezahlten) Frauen. Dieses Machtgefälle wird keineswegs von allen, aber vor allem von vielen Linken und Liberalen geleugnet. Also von denen, die in den vergangenen Jahrzehnten den Zeitgeist prägten."

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel beschreibt die Erfolgsstrategien unabhängiger Kleinverlage in den USA. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, fordert im Interview mehr bundespolitische Mittel für die Kultur. Peter Kümmel bescheinigt Shermin Langhoff, der neuen Intendantin des Berliner Gorki Theaters, einen "guten Anfang". Im Interview mit Christine Lemke-Matwey machen sich die Opernstars Placido Domingo und Anna Nebtrebko artig Komplimente. Der Schriftsteller und Grünenpolitiker Robert Habeck lotet das philosphische Fundament der Grünen zwischen Rousseau und Heidegger aus. Sabine Rückert schreibt den Nachruf auf die Wiener Boulevardjournalistin Marga Swoboda, Peter Kümmel auf den Kabarettisten Dieter Hildebrandt und Andreas Maier auf den Schriftsteller Peter Kurzeck.

Besprochen werden Krzystof Warlokowskis Inzenierung von Richard Strauss' "Frau ohne Schatten" an der Bayerischen Staatsoper ("überreich, mitunter lässig genial", schwärmt Mirko Weber), die Berliner Schlingensief-Ausstellung und der Film "Inside Llewyn Davis" der Gebrüder Coen (mit dessen Titelhelden die Regisseure "ihrem Arsenal planlos durchs Leben stolpernder Pechvögel ein besonders delikates Exemplar hinzugefügt" haben, konstatiert Thomas Groß).

Außerdem gibt es eine Literaturbeilage, online flankiert von einer kurzen Videowürdigung Wolfgang Herrndorfs durch Ijoma Mangold, und eine Musikbeilage mit Kritiken zu neuen Alben des Jazzgitarristen Noël Akchoté, des Pianisten András Schiff, des Electro-Soul-Produzenten Kwes und der Sopranistin Julia Lezhneva.

Im Wirtschaftsteil spricht Burda-Chef Paul-Bernhard Kallen mit Alina Fichter und Götz Hamann über Internet, Werbung und Journalismus und beklagt den enormen Wettbewerbsvorteil amerikanischer IT-Konzerne: "Amazon musste in den ersten zwölf Jahren in den USA überhaupt keine Umsatzsteuer zahlen. Noch im vergangenen Jahr hat der Konzern nach Recherchen des Magazins Fortune 1,5 Milliarden Dollar Subventionen in Form von erlassener Umsatzsteuer erhalten. Das muss man wissen, wenn man den Erfolg von Amazon beurteilen will."

Auf den vorderen Seiten unterhalten sich Christine Lemke-Matwey und Jan Ross mit Daniel Barenboim, dem am Sonntag der Marion Dönhoff Preis verliehen wird. Im Dossier spricht der Regisseur Helmut Dietl mit Giovanni di Lorenzo über seine Krebsdiagnose.

FAZ, 28.11.2013

Hans Puttnies informiert sich bei einer filmhistorischen Veranstaltung in Hamburg über die Geschichte der Filmverbote: Filmzensur, dämmert es ihm dabei, "ist die handelnde Angst der jeweiligen Kultur vor dieser Potenz des Films: dass sie die tradierte und anerzogene Zivilisierung durchbrechen und einen direkten Weg zu unserer Sinnlichkeit finden könnte."

Abgedruckt ist ein nachgelassenes Interview mit dem Schriftsteller Peter Kurzeck, in dem der Autor über Walter Kempowski spricht, über die abwertende Bezeichnung "Chronist" und vor den Gefahren des Lesens warnt: "Man muss schon aufpassen, was man liest. Manchmal reicht ja schon ein Gedicht. Es gibt Hölderlin-Gedichte, wenn ich die lese, dann bin ich für Tage einfach der, der jetzt dieses Hölderlin-Gedicht gelesen hat und nichts anderes."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube sucht nach Parallelen zwischen Ehe- und Koalitionsverhandlungen. Christian Geyer fordert eine regelmäßige Überprüfung der Fahrtauglichkeit von "Senioren". Der Kulturhistoriker Jeffrey Hamburger erklärt die areligiös-integrative Funktion von Thanksgiving. Martin Kämpchen stellt eine - bisher nur auf Englisch erschienene neue Biografie Gandhis von Ramachandra Guha vor.

Besprochen werden Pablo Bergers Neo-Stummfilm "Blancanieves", ein Konzert von Lloyd Cole, Jan Bosses Inszenierung der "Hedda Gabler" in Hamburg und Bücher, darunter Garry Dishers neuer Wyatt-Krimi "Dirty Old Town" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 28.11.2013

Heribert Prantls Begeisterung über den Koalitionsvertrag hält sich stark in Grenzen. Blankes Entsetzen packt ihn gar bei der Lektüre des innen- und rechtspolitischen Teils: Dieser "ist partiell von einer so konservativen Rigidität, dass einem beim Lesen die Sehnsucht nach einer FDP anfällt - die es verhindert hätte, dass nun in den Zeiten von NSA allen Ernstes wieder eine üppige Vorratsdatenspeicherung eingeführt werden soll, die sich um die Vorgaben des Verfassungsgerichts wenig schert. Der Grundrechtssensibilität des Koalitionsvertrags gebührt die Note: mangelhaft."

Außerdem: Chris Decorn gratuliert dem Filmmuseum in München zum 50-jährigen Bestehen. Gustav Seibt berichtet von einer Diskussion über Europa im Schloss Bellevue. Lothar Müller meldet den Tod des Schriftstellers Rudolf Lorenzen. Karl Lippegaus schreibt den Nachruf auf den Jazz-Schlagzeuger Chico Hamilton.

Besprochen werden die Ausstellung "Anton Graff - Gesichter einer Epoche" in der Alten Nationalgalerie in Berlin (Bild: Anton Graff, Elisabeth Sophie Auguste Graff, 1771-1772), Katie Mitchells Inszenierung von Martin Crimps "Alles weitere kennen Sie aus dem Kino" in Hamburg (Till Briegleb stellt fest: Die "brillante Mechanisierung des Gewaltmythos wirkt trotz der extremen Düsterheit nicht wie ein Fatalismus-Plädoyer."), Harold Baers Dokumentarfilm "The Love Police" und Bücher, darunter Gerald von Foris' Fotoband "Das, mein Sohn, wird alles einmal Dir gehören" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).