Heute in den Feuilletons

Im Jazz spielen wir alle Noten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.11.2013. Die taz erinnert daran, wie Christoph Schlingensief den 68ern die heiligen Allgemeinplätze austrieb. Die NZZ begutachtet Félix Vallottons Rache an der femme fatale. Die FAZ unterhält sich mit den Coen-Brüdern über ihren Film "Inside Llewyn Davis" und das Revival der Folkmusik im Greenwich Village. Die SZ wägt gutes Gewissen gegen Sicherheit. Die Welt fragt: Wohin mit Opas Filmrollen

TAZ, 30.11.2013

Anlässlich einer Retrospektive erinnert sich Detlef Kuhlbrodt im Berlinteil in einer sehr persönlichen, turbulenten Rückschau an Christoph Schlingensief und dessen wilde Zeit in den 90ern auf den Bühnen und Straßen der Stadt: "Mit Schlingensief war die Volksbühne zu einem extrem kommunikativen Kraftzentrum geworden. Während seine Filme den Neuen Deutschen Film dekonstruierten, exorzierten seine Inszenierungen das, was man so unter 68 verstand, die heiligen Allgemeinplätze der in die Jahre gekommenen neuen westdeutschen Linken. ... Mit den Mitteln der Kunst sollte das Getto der Kunst verlassen werden. Einmal wurde ein Stück auch rückwärts gespielt." Passend dazu: Ein Gespräch mit Klaus Biesenbach über die Retrospektive.

Außerdem: Die taz bringt eine Übersetzung von Benjamin Wallace' ausführlicher Reportage über den Journalist Michael Hastings, dessen Unfalltod zahlreiche Verschwörungstheorien nach sich gezogen hat (hier im Original, siehe auch unsere Magazinrundschau vom 12.11. mit weiterführenden Links). Felix Zimmermann porträtiert die Berliner Philharmonikerin Madeleine Carruzzo, die sich gegen viel Widerstand als erste Frau ihren Weg ins Orchester bahnte. Petra Schellen spricht mit dem Schriftsteller Gabriel Bornstein. Robert Matthies bringt Empfehlungen zum Hamburger Festival Nordwind.

Auf der Medienseite porträtiert Daniel Bouhs Thomas Lückerath, den Gründer des Online-Medienmagazins DWDL.

Besprochen werden der Soundtrack zum neuen Film der Coen-Brüder, die Ausstellung "Alltag in der DDR" in Berliner Kulturbrauerei, Jonas Hassen Khemiris in Berlin aufgeführtes Stück "Ich rufe meine Brüder", die Ausstellung "Hängt hoch den Baum" im Kunstverein Hannover sowie neue Bücher in einer kleinen Literaturbeilage, darunter ausführlich Karl Ove Knausgårds Roman "Spielen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 30.11.2013

Peter Kropmanns preist die große Schau "Le feu sous la glace" zu Félix Vallotton im Pariser Grand Palais, auch wenn er die Hängung mitunter problematisch findet: "Das Bilderpaar des 'Porträts' eines Schinkens auf Draperie (1918) und des Zooms auf ein Hinterteil mit Zellulitis im Frühstadium (1884) wirkt jedenfalls deplaciert. Oder wird hier Vallottons Verhältnis zu Frauen kommentiert? Obwohl er sie oft malt, spürt man seine Distanz zu ihnen, den Männer mordenden, zumindest sie - oder besser: ihn - quälenden. Bei Vallotton, der an Neurasthenie leidet, ist die Femme wörtlich fatale: Er betrachtet ihre Emanzipation mit Skepsis und fürchtet mehr noch - wie seinen Schriften zu entnehmen ist - ihre Vorherrschaft."

Weiteres: Der Theologie Jan-Heiner Tück deutet Papst Franziskus' Schreiben "Evangelii Gaudium" als Programm der Vielfalt. Christoph Egger gratuliert Regisseur Terrence Malick zum Siebzigsten.

In Literatur und Kunst erkennt Eduard Kaeser bei den Leuten von der NSA totales Messietum: "Genau das ist das Symptom für den Messie: Er sammelt wahllos alles, weil er es vielleicht irgendwann noch gebrauchen kann.

Außerdem beschreibt Yahya Elsaghe, wie das deutsche Nachkriegskino aus seinen Thomas-Mann-Verfilmungen die jüdischen Figuren strich. Andreas Mosbacher erinnert an den Schriftsteller und Dada-Mitbegründer Walter Serner. Alain Claude Sulzer schreibt über Niklaus Stoecklins Bild "Der Hartmannsweilerkopf".

Besprochen werden Emil Hakls Anti-Roman "Regeln des lächerlichen Benehmens", der Band "Daten, Drohnen, Disziplin" von Zygmunt Bauman und David Lyon (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 30.11.2013

Eine wichtige Aufgabe des künftigen Kulturstaatsministers wird die Rettung des deutschen Filmerbes sein, schreibt Daniel Kothenschulte (siehe auch hier). Zur Zeit fehlt es nicht nur an Mitteln, sondern auch an einer zukunftsfähigen Strategie. So bekenne sich der Präsident des Bundesarchivs Michael Hollmann dazu, das haltbare Nitratmaterial zu verbrennen, sobald ein Film digital umkopiert wurde - "mit dem Effekt, dass spätere Generationen mit besserer Technologie, etwa in der digitalen Restaurierung, nicht mehr darauf zurückgreifen können. 'Ein Archiv kann nicht alles aufheben. Die alten Fotos vernichten wir ja auch.' Da ist es kein Wunder, dass namhafte deutsche Filmmuseen und -archive, darunter das Münchner Filmmuseum, ihr 'Nitro' längst jenseits der Staatsgrenzen einlagern: im Filmarchiv Austria."

Weiteres: Thomas Hahn berichtet von diversen Projekten Robert Wilsons in Paris, darunter drei Tableaux vivants mit Lady Gaga im Louvre. Manuel Brug geht mit dem russischen Opernregisseur Dmitri Tschernjakow im Berliner Bistro La Cucina essen. "So deutsch war Deutschrap nie zuvor", bemerkt Michael Pilz zum neuen Album von Sido.

In der Literarischen Welt ist die Rede zur Zukunft des Buches abgedruckt, mit der Sibylle Lewitscharoff heuer die Wiener Buchmesse eröffnete. Ihre leidenschatliche Kritik an Amazon ist bereits legendär: "Nichts lieber, als eine ordentliche Summe in eine Buchhandlung zu tragen. Dort soll Ihr Geld hin, werte Leser! Es soll nicht im Rachen einer Firma landen, die Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet und den wenigen, die für sie arbeiten, Hungerlöhne zahlt!"

Außerdem unterhält sich Dorothea von Törne mit der Lyrikerin Elke Erb. Besprochen werden "Arbeit und Struktur", die Buchversion von Wolfgang Herrndorfs gleichnamigem Blog, der Band "Liebes Leben" mit neuen Erzählungen der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro, Mario Vargas Llosas neuer Roman "Ein diskreter Held", Luc Boltanskis Krimi-Kritik "Rätsel und Komplotte", Lothar Machtans Biografie über Prinz Max von Baden, Steffen Popps Gedichtband "Dickicht mit Reden und Augen" und ein Band mit Bildern des Exilfotografen Fred Stein.

SZ, 30.11.2013

Hubert Wetzel deutet das transatlantische Verhältnis mit einer Szene aus dem Film "Eine Frage der Ehre" von 1992: Die Staaten erscheinen ihm dementsprechend wie ein selbstgerechter Militärapparat, der Sicherheit über alles stellt, aber Deutschland auch als "Tralala-Land", das am liebsten seine Ruhe hätte. "Es ist gar nicht so, dass die unbequeme Abwägung zwischen Sicherheitsinteressen und 'der Moral' hierzulande immer nur zu Gunsten Letzterer ausfiele. Es ist eher so, dass diese Abwägung, zumindest von den meisten Bürgern, gar nicht erst gemacht wird. Der Kompass für die Sicherheitspolitik ist stets das eigene reine Gewissen, das Gefühl, gut zu sein und es allemal besser zu wissen. Sollen sich andere mit dem Diktator in Syrien rumschlagen, mit Al-Qaida-Kämpfern im Sahel oder Al-Shabaab-Terroristen in Somalia."

Weitere Artikel: Laura Weissmüller durchstreift ein architektonisch karg und charakterlos zu werden drohendes Helsinki. Tobias Kniebe gratuliert dem Regisseur Terrence Malick zum 70. Geburtstag. Außerdem bringen die SZ-Autoren einen gesammelten Batzen an Buch-, CD- und DVD-Empfehlungen.

Besprochen werden Katrin Gebbes Film "Tore tanzt", Britney Spears' neues Album, eine Balletaufführung von "Woyzeck" in Ludwigsburg, Martin Grimps in Berlin aufgeführtes Stück "In der Republik des Glücks", Brahms-Aufnahmen von Riccardo Chailly und Bücher, darunter Eli Friedlanders Porträt von Walter Benjamin (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende fährt Hilmar Klute mit der Bummelbahn zum Schriftsteller Gerhard Henschel. Petra Steinberger macht sich Gedanken über Mütter, die ihre Kinder töten. Christine Berndt fordert wieder mehr Vertrauen in die Ärzte. Jürgen Schmieder besucht die nun unter Denkmalschutz stehende Garage, von der aus Steve Jobs und Apple seinen Ursprung nahm. Außerdem plaudern Christina Berndt und Alexander Hagelüken mit Bill Gates, der seinen Kindern zwar keine Apple-Produkte verbietet, aber schon der Ansicht ist, dass auch Microsoft gute Geräte baut.

FAZ, 30.11.2013

Jan Wiele unterhält sich mit den Coen-Brüdern über ihren Film "Inside Llewyn Davis", der nächste Woche in die Kinos kommt. Dass darin die Jazzmusiker so verächtlich auf den Folk-Sänger herabblicken, erklärt Joel Coen so: "Wissen Sie, ich habe einen Freund, der Kontrabass spielt und Jazzer ist, und er erzählte mir davon, wie er mal einen Folksänger im Konzert gesehen hat. Und als Kommentar dazu sagte er mir nur den Satz: 'In jazz we play all the notes.' Er meinte es gar nicht abfällig, aber genau das fand ich so lustig daran."

Weiteres: Nils Minkmar wirft einen textkritischen Blick auf den detailversessenen Koalitionsvertrag, der nichts mehr verbieten, sondern nur noch im Einklang mit den Bürgern deren Schutz verbessern will, und ruft zum Halali gegen Kaninchen. Vor ihrem ersten Konzert in Deutschland befragt Markus Huber die Black-Sabbath-Musiker Ozzy Osbourne und Tony Iommi zu ihrem Gesundheitszustand. Andreas Kiln berichtet von der Berliner Tagung zu "Kultur im Internet". Gina Thomas resümiert die britischen Feierlichkeiten zu Benjamin Brittens hundertstem Geburtstag. Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld vom ARD-Dossier zu den geheimen Kriegen und weist außerdem auf den Report "Spooky Business" hin, der beleuchtet, mit welchen NSA-Methoden amerikanische Unternehmen kritische NGOs und Gewerkschaften ausspionieren.

Besprochen werden Warlam Schalamows Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in Moskau "Das vierte Wologda" und Elizabeth Strouts Roman "Das Leben, natürlich" (mehr in unserer Bücherschau um14 Uhr).

Heute gibt es noch mal eine Literaturbeilage. Sie eröffnet mit Iwan Gontscharows Klage über die Auswüchse des Weihnachtsfestes.

In der Frankfurter Anthologie wird Marcel Reich-Ranickis Deutung von Bertolt Brechts Gedicht "Erinnerung an die Marie A." gedruckt:

"An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
..."