Heute in den Feuilletons

Im Kellergeschoss ihres Soprans

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2013. In Spiegel Online spricht Hamed Abdel-Samad darüber, wie es sich anfühlt, eine Pistole an der Schläfe zu haben. Die NZZ blickt auf die Lage der Aleviten in der Türkei. Die Welt stellt das panarabische Magazin The Outpost aus Beirut vor. Die taz erzählt, wie Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm "The Act of Killing"  in Indonesien aufgenommen wird. In der NZZ erblickt Karl-Heinz Ott im Dezember "Tristesse, Horror und Panik", wohin man blickt. Goethe und Schubert seien schuld. Wir raten Ott: Ändern Sie Ihr Leben mit Pharrell Williams.

Spiegel Online, 02.12.2013

Hamed Abdel-Samad erzählt im Gespräch mit Daniel Steinvorth, wie er entführt wurde: "Die Beifahrertür des Minibusses öffnete sich, ein Mann stieg aus und drängte mich gewaltsam auf die Rückbank. Dort saß ein Typ, der mir sofort eine Pistole an die Schläfen hielt. Der Wagen fuhr los, ein anderer Mann zog mir eine Mütze über den Kopf, nahm mein Handy weg, untersuchte meine Hosentaschen."

Weitere Medien, 02.12.2013

Pharrell Willams! "Wer das Musikvideo zu 'Happy' gesehen hat, wird anschließend ein anderer sein", behauptet Daniel Haas in der Sonntags-FAZ. Probieren Sie's hier:



Und für alle Süchtigen: hier die eigentlich das Leben verändernde 24-Stunden-Version.

NZZ, 02.12.2013

Veronika Hartmann blickt auf die kleineren Minderheiten in der Türkei, die noch immer um Sichtbarkeit und Anerkennung kämpfen: Griechen, Armenier, aber auch die Aleviten: "Seit den Zeiten Sultan Beyazits II. im 15. Jahrhundert wurden sie verfolgt, noch 1978 war es in der anatolischen Stadt Maras möglich, dass bei einer Gewaltorgie, die eine Woche lang währte, 150 Aleviten ermordet wurden. 1993 starben 37 Menschen durch einen Brandanschlag auf ein Hotel in der zentralanatolischen Stadt Sivas. Sie waren Teilnehmer eines alevitischen Festivals."

Nicht erst die "Fröhlichkeitsvernichtung" der Fußgängerzonen hat den Dezember so trostlos gemacht, meint der Autor Karl-Heinz Ott und gibt der Literatur - Goethe, Schubert und Stifter - eine erhebliche Mitschuld: "Tristesse, Horror und Panik, wohin man blickt, mitten im weihnachtlichen Friedensmonat Dezember."

Weiteres: Recht behäbig fand Alfred Schlienger Barbara Webers Inszenierung von Dürrenmatts "Der Richter und sein Henker" am Theater Basel. Urs Hafner berichtet von einer Berner Tagung zu den Kulturwissenschaften im digitalen Zeitalter.

Welt, 02.12.2013

Livia Valensise stellt das junge panarabische Magazin The Outpost aus Beirut vor, das ein schönes Design und eine aktivistische Seele hat: "Die aufwendig recherchierten Geschichten sind inhaltlich und stilistisch breit gefächert. In der dritten Ausgabe beispielsweise: Bericht über eine syrische Hochzeit, Reportage über Transsexualität, das vielleicht größte Tabu in arabischen Gesellschaften, Exposé der Energieversorgung in der arabischen Welt. Eingeteilt sind die Geschichten in drei Rubriken: 'What's happening', 'What's not happening', 'What could happen'."

Ungetrübten Genuss erlebte Lucas Wiegelmann bei Verdis "Il Trovatore" an der Berliner Staatsoper: Anna Netrebkos Stimme "wird immer schwerer, größer, dunkler. Als Leonora kann sie vor Kraft kaum laufen: Während ihr filigrane Koloraturen mittlerweile schwerfallen, ist ihre mühelose Ausdauer in höchster Lage atemberaubend, genau wie ihre überlegene gestalterische Bandbreite."

Weitere Artikel: In der Leitglosse amüsiert sich Michael Pilz über die University College London Student Union, die über Robin Thickes "Blurred Lines" einen Bann verhängt hat. Dankwart Guratzsch regt sich über die Politiker in Halle auf, die Millionen in die Sanierung riesiger Hochstraßen stecken statt in die Sanierung der Altstadt. schreibt zum 200. Geburtstag des Klaviervirtuosen Charles Alkan. Hannes Stein besucht einen neu eröffneten Schallplattenladen in New York.

Besprochen werden die Ausstellung "Salon der Angst" in der Wiener Kunsthalle und Katie Mitchells Inszenierung von Duncan Macmillans "Atmen" an der Berliner Schaubühne (Reinhard Wengierek hat sich über die hier porträtierten "radikal Umweltbesorgten" ausgezeichnet amüsiert, aber auch mitgelitten).

Weitere Medien, 02.12.2013

Das New York Magazine wird künftig nur noch 14-tägig, statt wöchentlich erscheinen, berichtet David Carr in der New York Times: "Along with the closing of the printed Newsweek and the planned spin-off of Time Inc., which includes the weeklies Time and People, the move to bi-weekly publishing represents the end of an era and underscores the dreary economics of print and its diminishing role in a future that's already here." Zum Glück will das NYMag offenbar aber noch mehr Energie als bisher in seine Website stecken.
Stichwörter: Glück, New York

TAZ, 02.12.2013

Joshua Oppenheimers heftiger Dokumentarfilm "The Act of Killing" über die Massenmorden an Oppositionellen in den sechziger Jahren wird in Indonesien nur bei privat organisierten Screenings gezeigt, berichtet Anett Keller, und zumindest in den Zirkeln der Intelligenz kontrovers diskutiert. Der breiten indonesischen Öffentlichkeit ist der Film kein Begriff. "'Ich achte Oppenheimers außergewöhnlichen Ansatz, mit dem er dieses sensible und kontroverse Thema verfilmt', sagte der indonesische Historiker Yosef Djakababa. 'Aber was mich enorm stört, ist das Fehlen des historischen Kontextes im Film.' Nicht alle Opfer seien Kommunisten gewesen, so Yosef. Die Opfer selbst kritisieren, dass Oppenheimer jene, die die Befehle zum Morden gaben, kaum betrachtet. 'Der Film sagt nichts darüber aus, dass vor allem Soldaten die Massaker verübten', kritisiert Astaman Hasibuan, der 1965 nur knapp dem Mord durch Militärs entkam."

Weiteres: Online erzählt Thomas Gerlach, wie die Nazis im Berliner Schloss Schönhausen den Verkauf der diffamierten Kunst organisierten, unter tätiger Mithilfe des Kunstdiensts der Evangelischen Kirche. Jan Feddersen resümiert recht kritisch einen Berliner Kongress zu "Gleich-Geschlechtlichen Erfahrungswelten", dessen freundliches Klima ihm aber gut gefiel.

Besprochen werden Herfried Münklers Geschichtspanorama "Der Große Krieg" sowie ein Auftritt von Rocko Schamoni und Wolfgang Müller in der Berliner Volksbühne.

Und Tom.

Aus den Blogs, 02.12.2013

Die Europäer haben langsam die Nase voll von den Briten, meldet Cory Doctorow auf BoingBoing. Bei einer Umfrage in UK, Deutschland, Frankreich und Polen stellte sich heraus, dass die Briten sich immer mehr den Amerikanern zuwenden. Das ist nicht neu, "but what's news is the sentiment in Europe, where voters are indifferent-to-hostile to the UK, and seemingly prepared for the country to make an exit from the European Parliament. Only 9% of Germans and 15% of French voters polled think that the UK is a force for good in the EU (Poles were more bullish, but still decidedly lacklustre, at 33%)."

FAZ, 02.12.2013

Laut Jan Brachmann ist Anna Netrebko, die an der Berliner Staatsoper zum ersten Mal die Leonora im "Troubadour" sang, zwar die diva assoluta der Gegenwart, aber wohl doch noch keine zweite Callas, weil sie für die Tiefe "auf den Kehlkopf drückt, um im Kellergeschoss ihres Soprans große Räume vorzutäuschen".

Weitere Artikel: China-Kulturkorrespondent Mark Siemons pocht auf japanische Verantwortlichkeiten im Inselstreit mit China. Fridtjof Küchemann wundert sich, dass nicht Edward Snowden, sondern Miley Cyrus auf Platz 1 der jährlichen Time-Umfrage nach der "Person des Jahres" steht (sie hat einfach die besseren Kostüme). Regina Mönch würdigt zum 25. Geburtstag die Kulturstiftung der Länder, die unter anderem Museen hilft, von den Nazis als "entartete Kunst" requirierte Werke zurückzubekommen. Timo John trauert um das im Rahmen von "Stuttgart 21" zu drei Vierteln abgerissene Generaldirektionsgebäude der Deutschen Bahn.

Besprochen werden ein Konzert von Black Sabbath mit einem "wüsten, alten und prächtigen Geschöpf" namens Ozzy Osbourne am Mikrofon in der Dortmunder Westfalenhalle, Elfriede Jelineks Stück "Todkrank.Doc", das unter anderem aus Texten besteht, die sie für Christoph Schlingensief schrieb, in Bremen, eine Dramatisierung von Dürrenmatts altmodischem Krimi "Der Richter und sein Henker" in Basel und Bücher, darunter Pieter Webelings Roman "Das Lachen und der Tod" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 02.12.2013

Kurz vor der Veröffentlichung der fünften Pisa-Studie unterzieht Thomas Steinfeld den internationalen Test einer methodischen und ganz prinzipiellen Kritik. Dass Wissen, Bildung und Kompetenz sich so einfach messen lassen, stellt er vehement in Zweifel. Außerdem überforme die Studie ihren Testgegenstand: "Die Fiktion, Vorhandenes zu messen, ist die spanische Wand, hinter der sich die Pisa-Tests in den vergangenen Jahren - ob unter der Hand, oder gewollt, sei dahingestellt - in ein Projekt zur Neubestimmung der Begriffe 'Bildung' und 'Wissen' verwandelt haben. Sie haben sich längst von einem deskriptiven zu einem normativen Projekt entwickelt, sie geben dem Schulunterricht einen neuen Inhalt und verändern seinen Zweck" - indem "Verstehen konsequent durch Kompetenz" ersetzt und so einem globalen Wettbewerb unterworfen wird.

Weitere Artikel: Joseph Hanimann bietet einen Überblick über die Prostitutionsdebatte in Frankreich. Ira Mazzoni stellt aus Gurlitts Kunstschatz eine Skizzensammlung von Max Liebermann vor.

Auf Seite Drei fasst Peter Burghardt den momentan in Chile aufflammenden Streit über die Todesursache des Schriftstellers Pablo Neruda zusammen.

Besprochen werden eine mit Anna Netrebko, Plácido Domingo und Daniel Barenboim prominent besetzte und dirigierte Verdi-Aufführung in Berlin (Reinhard J. Brembeck ist nicht beeindruckt: die Netrebko singt "liebend gern, aber unsensibel jeden an die Wand", beschwert er sich), Anne Fontaines nach einer Novelle von Nobelpreisträgerin Doris Lessing entstandener Film "Tage am Strand", neue Veröffentlichungen der Opernsängerinnen Natalie Dessay und Diana Damrau, die Uraufführung von Elfriede Jelineks "Tod-krank.Doc" in Bremen und Bücher, darunter Per Leos "Der Wille zum Wesen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).