Heute in den Feuilletons

Eine Strategie der Blendung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2013. Die taz befasst sich mit der "Zeit der bösen Onkels", als erwachsene Spießer mit Lolita-Bildern an der sexuellen Befreiung teilhaben wollten. Und die Zeit stellt dazu die aktuelle Frage: Ist es korrekt, die Polaroids öffentlich zu machen, die Balthus von seinen Teenie-Modellen anfertigte? Die Washington Post und andere melden: Die NSA sammelt Milliarden von Handy-Standortdaten. Das betrifft sämtliche Ausländer weltweit und ist somit legal. Die SZ erklärt, warum sich Kino mit dem Zeitgeist arrangieren muss.

TAZ, 05.12.2013

In einem Dossier beschäftigt sich die taz mit Zielen, Protagonisten und Auswüchsen der sexuellen Revolution. Georg Seeßlen arbeitet sich unter der Überschrift "Die Zeit der bösen Onkel" an den 70er und 80er Jahren ab. Vor allem in den 70ern habe sich die "verdruckste" Gesellschaft mit der Kindfrau aus den "Schulmädchen-Reports" oder den weichgezeichneten Fotografien von David Hamilton ein neues erotisches Beutebild fantasiert: "'Freiheit' wurde in den siebziger und achtziger Jahren vorrangig an den Körperbildern verhandelt und nicht zuletzt an denen der Jugendlichen und Kinder. Sie waren die einzige Möglichkeit für den Erwachsenen-Mainstream, sich am Aufbruch und an der Revolte zu beteiligen. Gewiss wurde durch die 'verkauften Lolitas', wie der Spiegel das damals nannte, nicht Pädophilie legitimiert. Aber es wurde eine Grauzone geschaffen, eine Strategie der Blendung."

Außerdem erinnert Ulrich Gutmair an Wilhelm Reich, einen ihrer geistigen Urväter, Simone Schmollack unterhält sich mit dem Psychotherapeuten Jürgen Lemke über die Gründe für unbefangeneren Sex in der DDR und Daniel Bax erinnert sich an Kindertage in einer Sannyas-Kommune.

Im Kulturteil porträtiert Ingo Arend Katharina Narbutovic, die derzeit das Berliner Künstlerprogramm des DAAD leitet, das heute den 50. Jahrestag seiner Gründung feiert. Als "donnerndes Werk mit dadaistischen Zügen" bezeichnet Bernd Müllender das "Requiem für einen weißen Elefanten" des Aachener Komponisten Florian Zintzen (Text: Marion Simons-Olivier) zum Andenken an das Hoftier von Kaiser Karl, dessen 1200. Todestag die Stadt Aachen 2014 begeht. Rudolf Walther berichtet über eine Vorlesung der Bürgerrechtlerin Angela Davis, die als erste eine neue Gastprofessur für die Erforschung der Geschlechterverhältnisse in Frankfurt innehat.

Besprochen werden das Remake von Park Chan-wooks Rachedrama "Oldboy" von Spike Lee und das Remake von Brian De Palmas Horrorklassiker "Carrie" von Kimberley Peirce.

Und Tom.

Aus den Blogs, 05.12.2013

Neue Snowden-Papiere werden in der Washington Post vorgestellt. Die NSA sammelt Milliarden von Standortdaten von Handy weltweit. Markus Beckedahl resümiert auf Netzpolitik: "Dabei überwacht man zentrale Knotenpunkte von mobilen Netzwerken und greift gleichzeitig auf Datenbanken zu, wo Mobilfunkprovider untereinander das Roaming von Mobilfunkgeräten managen. Das ist natürlich alles streng nach Gesetz und Recht in den USA, sagt die NSA, weil das Ziel ja die Überwachung des Auslands sei." Auch Spiegel Online berichtet.

Peter Glaser zeigt heute in seiner Glaserei kleidsamen Schmuck aus Zanprothesen:


Weitere Medien, 05.12.2013

In der Jüdischen Allgemeinen stellt Michael Weingrad die neue israelische Fantasy-Literatur vor, zum Beispiel "Dämonen in der Agrippastraße" von Hagai Dagan, der eine Men-in-Black-Geschichte mit jüdischer Mythologie verbindet: "Bald findet Shabi heraus, dass eine kosmische Krise bevorsteht: die Verschwörung einer mächtigen Gruppe böser Engel, die beabsichtigen, das Universum für immer der dunklen und gewalttätigen Seite Gottes auszusetzen, dem, was die Kabbalisten 'Din' (Urteil) im Gegensatz zu 'Chesed' (Gnade) nennen. Damit ihr Plan triumphieren kann, müssen diese Engel eine Gruppe gefangen gehaltener heidnischer Gottheiten hinrichten..."

Viele verdienen heute an der Restitution von Kunstwerken, schreibt Dorothee Baer-Bogenschütz ebenfalls in der Jüdischen Allgemeinen, und keineswegs nur die Erben. Beispiel: Beckmanns "Löwenbändiger" aus Gurlitt-Besitz: "Versteigert 2011 bei Lempertz in Köln, erzielte das Bild mit fast 900.000 Euro nahezu das Dreifache des Schätzwertes. Der Erlös wurde zwischen den Erben der Familie Flechtheim und dem Einlieferer Cornelius Gurlitt im Verhältnis 30 zu 70 geteilt, mithin eine Wertschöpfungskette geknüpft, von der alle profitieren: das Auktionshaus selbst, der Einlieferer, die Anspruchsteller sowie ihre Anwälte, die wiederum in der Regel mit 50 Prozent an dem Anteil aus Geschäften mit restituierter Raubkunst beteiligt werden, den ihre Mandanten erhalten."

Welt, 05.12.2013

Peter Dittmar macht in einem Hintergrundartikel deutlich, wie schwierig es ist, Besitzansprüche auf verlorene oder geraubte Kunstwerke anzumelden: "Wie soll man beweisen, was man an Zeichnungen und Grafiken erworben und ordentlich, aber unsichtbar in Mappen bewahrt hatte? Wer den Blättern nicht seinem Sammlerstempel aufdrückte - und das galt eigentlich als barbarisch - mag seinen früheren Besitz, einen von vielen Dürer-Holzschnitten oder Rembrandt-Kupferstichen, an einem Wasserfleck, einem Riss erkennen, Beweiskraft hat das normalerweise nicht."

Weitere Artikel: Tilman Krause protestiert gegen die Schließung des Zürcher Literaturmuseums Strauhof und noch mehr gegen das als Ersatz geplante Literaturprojekt für Jugendliche. Und Ulrich Schmitt schildert höchst unappetitliche Erbstreitigkeiten im Hause Disney.

Besprochen werden die Ausgrabung von Bernhard Sekles' Oper "Schahrazade" an der ums Überleben kämpfenden Oper Halle und Filme, darunter Bastian Günthers "Houston" mit Ulrich Tukur.

Freitag, 05.12.2013

Deutschland braucht endlich ein Restitutionsgesetz, fordert der Historiker Julius Schoeps im Interview, damit niemand mehr Raubkunst "ersitzen" kann: "Ich halte das österreichische Gesetz für beispielhaft. Darin ist die moralische Verantwortung für Verlust und Schäden festgelegt, die als Folge oder im Zusammenhang mit dem NS-Regime jüdischen Bürgerinnen und Bürgern zugefügt wurden. Dieses Gesetz enthält im Übrigen einen sehr interessanten Paragrafen. Wenn ein Bild als Raubkunst identifiziert worden ist und niemand mehr am Leben ist, der einen Anspruch stellen kann, dann soll dieses Bild veräußert werden und der Erlös Opfern des Nationalsozialismus oder entsprechenden Einrichtungen zukommen. Das ist radikal geregelt, aber, wie ich meine, auf vorbildliche Art."

Man kann Christoph Schlingensiefs politische Kunst durchaus als Journalismus oder als Politkabarett bezeichnen, ermuntert Bazon Brock: "Kippenberger zum Beispiel spielte den Beleidigten, als man ihm klarzumachen versuchte, dass er im besseren Sinne Bildjournalist sei. Schlingensief verstand, was die Stunde der Kunstevolution anzeigte. Man musste sich entscheiden, ob man sich in Gottesanmaßung zum Werkproduzenten oder in der Nachfolge Christi zum Wirken ohne Werk bekennen wollte. Der Geist der 'heiligen deutschen Kunst' kann durchaus in beiden Feldern wirksam werden."

In der chinesischen Wikipedia streiten sich Autoren aus China, Taiwan und Hongkong heftig über politische Tabuthemen wie das Tiananmen-Massaker, die Abspaltung Taiwans und den Status von Hongkong, berichtet Adrian Lobe. Cord Riechelmann betrachtet Vögel im Film.

Aus den Blogs, 05.12.2013

(Via Peter Glaser) Die UrbanArt-Künstlerin SpY kann es bestätigen: "After spending several hours with the sign, there was a significant increase in public attention and donations." Das Foto entnehmen wir ihrer sehr schönen Website.


Stichwörter: Glaser, Peter

FR, 05.12.2013

Barbara Klimke berichtet von der Befragung Alan Rusbridgers durch den Innenausschuss des britischen Parlaments (siehe unsere gestrige Feuilletonrundschau), in der sich der Guardian-Chefredakteur für die Veröffentlichung der Snowden-Enthüllungen rechtfertigen musste. "Unterdessen hat der Guardian Unterstützung von einem so prominenten Journalisten wie Carl Bernstein erhalten. Bernstein, einer der Enthüller der Watergate-Affäre, warnte vor dem 'gefährlichen Versuch, Regierungspolitik und überzogene Geheimnishaltung in den USA und in Großbritannien in Vorwürfe gegen die Presse umzuwandeln'. Rusbridger sagte auf die Frage, ob der Guardian die Veröffentlichungen fortsetze: 'Wir werden weiter verantwortlich handeln. Und wir werden uns nicht einschüchtern lassen.'"

SZ, 05.12.2013

Susan Vahabzadeh hat neue Studien zum Verhältnis zwischen Hollywood und Nazi-Deutschland gelesen, die - mit jeweils deutlichen Abschwächungen - der Filmbranche Kollaborationen mit den Nazis vorwerfen. Ihr ist das zu zugespitzt, zumal die Hollywoodstudios sich ab den Pogromen im Jahr 1938 in aller Schärfe abwandten: "Dass es so viele Jahre gedauert hat (...) und dass ihre Bosse davor so lange die Klappe gehalten haben, ist im Rückblick tragisch und sehr zu bedauern. Aber Kino ist eben eine teure Kunst - und deswegen auch eine Industrie, die sich stets mit dem Zeitgeist arrangieren muss. Das macht Hollywoods Mächtige jener Zeit aber noch nicht zu 'Kollaborateuren'."

Außerdem: Ira Mazzoni bringt die Ereignisse seit dem Schwabinger Kunstfund auf den Punkt: Nach allem, was geschrieben und aufgedeckt wurde, hätte die Sammlung Gurlitt bekannt sein müssen. Gustav Seibt lobt das zivilgesellschaftliche, realpolitische Bewusstsein der SPD. Catrin Lorch kann sich vorstellen, dass Okwui Enwezor die Venedigbiennale im Jahr 2015 gut leiten und aus ihrer Krise holen kann.

Besprochen werden die Schlingensief-Retrospektive in Berlin, eine Doppel-CD zum Projekt "Heimatlieder aus Deutschland", das migrantische Musikkulturen in Deutschland remixt, die beiden Film-Remakes "Carrie" und "Oldboy" und Bücher, darunter Ulrich Tukurs Novelle "Die Spieluhr" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 05.12.2013

Bert Rebhandl stattet den schließenden Geyer-Kopierwerken in Berlin-Neukölln einen letzten, wehmütigen Besuch ab. Mit dem Ende des international für seine hochwertigen Filmkopien geschätzten Traditionsbetriebs sieht er den Wandel vom analogen zum digitalen Kino so gut wie abgeschlossen. Und er staunt, mit welcher Geschwindigkeit das vonstatten ging: "Und doch wird das abrupte Ende des analogen Films uns in seinen Implikationen noch lange beschäftigen: von der neurophysiologischen Veränderung der Wahrnehmung durch den Wegfall des unsichtbaren Schwarzbilds bis zu den Fragen nach der idealen Konservierungsform für das filmische Erbe. Das lebende Bild ist Geschichte."

Melanie Mühl packt das kalte Grausen: Sie sieht sich und ihre Generation der etwa 35-Jährigen in der Altersarmut versinken. "Die Karten liegen schon lange auf dem Tisch. Dass wir bald in den Abgrund, in den wir blicken, fallen, ist kein Geheimnis. Nur verdrängen wir die Realität; jedenfalls protestiert niemand."

Außerdem: Russlands Intellektuelle blicken neidisch auf den Protest in der Ukraine, während im eigenen Land die Bevölkerung von der Obrigkeit eingemümmelt wird, erklärt Kerstin Holm. Jan Brachmann lobt das Opernhaus Halle dafür, dass es trotz existenzbedrohender Sparpläne "Unbekanntes wagt", etwa in Form einer Aufführung von Bernhard Sekles nahezu unbekanntem Stück "Schahrazade". Boris Pofalla berichtet von einer Berliner Tagung zur Lage der Museen. Regina Mönch freut sich, dass die Preußenstiftung Alexander von Humboldts Tagebücher seiner Amerikareise ankauft. Patrick Bahners meldet, dass das Walt Disneys Geburtshaus in Chicago ein Museum werden soll (mehr). Auf der Medienseite resümiert Stefan Schulz einen Blogbeitrag Glenn Greenwalds, der sich gegen den Vorwurf wehrt, die Snowden-Dokumente mithilfe von Pierre Omidyar, mit dem er einMedium aufbaut, zu monopolisieren.

Mag sein, dass die Fernsehgebühren dank des Zwangseinzugs ein wenig sinken, es zeigt sich aus den erleichterten Reaktionen der SPD vor allem eins, meint Michael Hanfeld im Leitartikel auf Seite 1: "Er sichert ARD und ZDF ein Auskommen auf höchstem Niveau, weil es keine Rolle mehr spielt, ob jemand deren Programme sehen will oder kann."

Besprochen werden Bücher, darunter Anousch Müllers Roman "Brandstatt" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 05.12.2013

Hanno Rauterberg berichtet in einem sehr lesenswerten Artikel von der Pädophiliedebatte um 2400 Polaroids, die Balthus von einem achtjährigen Mädchen aufnahm und von denen jetzt etliche in der New Yorker Galerie Gagosian zu kaufen sind. Rauterberg hat seine Zweifel, ob die Fotos wirklich eigenständige Werke sind oder Vorstudien zu Gemälden - Balthus war über achtzig, als er die Fotos machte. "'Da kann schon der Verdacht aufkommen, dass sich ein Greis einfach aufgeilen wollte', sagt Gerhard Steidl, der den Katalog verlegt. Dennoch habe er keine Sekunde gezögert, die Polaroids zu veröffentlichen. Ihn hätten die Farbvaleurs dieser Bilder begeistert, die man als 'Stimmungsbilder für ein späteres Ölbild' verstehen könne. 'Ob es sich dabei um Kunst handelt, soll entscheiden, wer will.' Gerade darauf aber kommt es an. Balthus ... betrieb die Sexualisierung des Kindes, ohne diese Bilder je veröffentlichen zu wollen. Dennoch werden sie jetzt öffentlich gemacht, ein staatlich finanziertes Museum, das Folkwang, gibt sich dafür her. Vielleicht wittert man den Skandal und will davon profitieren." (Die Zeit hat es sich allerdings auch nicht nehmen lassen, drei dieser Polaroids abzudrucken.)

Auch Tobias Timm informiert über eine kontroverse Auktion: Am vergangenen Samstag versteigerte das Berliner Auktionshaus Bassenge eine Zeichnung Max Liebermanns, obwohl es sich bei dieser womöglich um Raubkunst handelt und im Verzeichnis lostart.de eine Suchmeldung nach ihr eingetragen ist. "Das Auktionshaus argumentiert kaltherzig legalistisch. Gegenüber der Zeit bezichtigte es Restitutionsanwälte pauschal des 'Artnappings'. Mit dieser Form der Vergangenheitsbewältigung wird der Kunsthandel hoffentlich keine Zukunft haben."

Weiteres: Georg Blume informiert über den Streit um das Buch "L'identité malheureuse", in dem der Philosoph Alain Finkielkraut den "nationalen Zerfall" Frankreichs beklagt. Adam Soboczynski denkt über direkte Demokratie nach. Volker Hagedorn stellt acht Kinderopern aus der aktuellen Opernsaison vor. Acht namhafte Autoren, darunter T.C. Boyle, Milan Kundera und Michael Ondaatje, nehmen Abschied von Michael Krüger, der zum Jahresende nach 27 Jahren als Chef des Hanser-Verlags ausscheidet. Robert Leicht schreibt den Nachruf auf Wolf Jobst Siedler. Petra Kipphoff empfiehlt die Hamburger Doppelausstellung der Künstlerinnen Gego und Eva Hesse. Außerdem gibt es eine Doppelseite mit allerlei Bücher-, Musik- und Filmtipps.

Besprochen werden die Filme "Fack Ju Göhte" von Bora Dagtekin (der Moritz von Uslar "eine sagenhaft hochprozentige Injektion deutscher Poesie, deutschen Alltags, deutscher Wirklichkeit" verabreicht) und "Oldboy" von Spike Lee ("das ärgerlich verunglückte Remake eines südkoreanischen Meisterwerks", tadelt Ronald Düker; ausgehend davon geht Oliver Kaever auf Zeit online der Frage nach: "Warum sind US-Remakes so schlecht?") sowie Bücher, darunter "Der Allesverkäufer", Brad Stones Biografie von Amazon-Chef Jeff Bezos (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

Auf den vorderen Seiten beklagt Caroline von Bar in der Prostitutionsdebatte den Mangel an verlässlichen Untersuchungen. Anita Blasberg schildert den Fall des in der Schweiz wegen Vergewaltigung angezeigten Komikers Karl Dall. Im Dossier porträtiert Emanuel Eckardt den Journalisten und stern-Herausgeber Henri Nannen, der am Weihnachtstag vor hundert Jahren geboren wurde.

Perlentaucher, 05.12.2013

Stichwörter: Chervel, Thierry