Heute in den Feuilletons

Radikale Publizität

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2013. Nadine Gordimer schreibt auf der Website des New Yorker einen sehr persönlichen Nachruf auf Nelson Mandela. Wir verlinken außerdem Dossiers in der New York Times und ein Interview mit dem Mandela-Biografen John Carlin. In der Welt polemisiert Cora Stephan gegen Alice Schwarzer. Und Rüdiger Wischenbart antwortet auf Sibylle Lewitscharoffs Amazon-Kritik. Auch die FAZ greift die Diskussion über Prostitution auf. Lawblogger Thomas Stadler schreibt in Netzpolitik über "Geheimdienste und Bürgerrechte. Die SZ ist empört über den Kunstmarkt. In der taz rufen ehemalige DDR-Bürgerrechtler zum Protest gegen die Geheimdienste auf.

Weitere Medien, 06.12.2013

Nadine Gordimer schreibt im New Yorker einen sehr persönlichen Nachruf auf Nelson Mandela und erinnert sich auch an ihr erstes Treffen nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis: "We were alone in Johannesburg, some few days later. It was not about my book that he spoke but about his discovering, on the first day of his freedom, that Winnie Mandela had a lover. This devastation was not made public until their divorce, six years later. I have never before told of it, because I believe that the depths of his sacrifice, the strength that he fearlessly revealed in the way that he lived, was not only for his political ethos. His was a way of living for the freedom of others." Joshua Rothman gibt in einem Blogbeitrag einen Überblick über Artikel zu Nelson Mandela im New Yorker.

Ein Riesen-Dossier hatte die New York Times zum Tod Nelson Mandelas vorbereitet. Bill Keller schreibt: "Except for a youthful flirtation with black nationalism, he seemed to have genuinely transcended the racial passions that tore at his country. Some who worked with him said this apparent magnanimity came easily to him because he always regarded himself as superior to his persecutors."

Schon im letzten Jahr brachte Toby Ash in Salon ein langes Interview mit dem Mandela-Biografen John Carlin, auf dessen Buch auch das Biopic "Invictus" beruht: "When I was living in South Africa in the early 1990s, the possibility of a racial bloodbath was very much on the cards. The fact is that we haven't come remotely close to that. South Africa remains today an impressive democracy with free and fair elections, changes of leaders, a functioning judiciary and an extremely, almost outrageously, outspoken free press."

So titelt die südafrikanische Wochenzeitung Mail & Guardian:


Aus den Blogs, 06.12.2013

Großartig Thomas Stadlers Essay über "Geheimdienste und Bürgerrechte" in Netzpolitik (ein Auszug aus einem Buch, das Netzpolitik zum Thema gemacht hat): "Gegen die auf die Förderung und den Ausbau von Geheimdienstaktivitäten gerichtete Politik hilft einzig und allein Öffentlichkeit und Transparenz. Man kann insoweit auf die von Kant formulierte transzendentale Formel des öffentlichen Rechts zurückgreifen, die lautet: 'Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.' Laut Kant wird sich der ewige Frieden zwischen den Völkern nur dann einstellen, wenn im öffentlichen Bereich eine größtmögliche, ja sogar radikale Publizität herrscht."
Stichwörter: Bürgerrechte, Netzpolitik

TAZ, 06.12.2013

Die taz dokumentiert einen Protestaufruf ehemaliger DDR-Bürgerrechtler gegen die NSA, der mit einem Appell endet: "Wir appellieren an die mündigen Bürger unseres Landes - egal, ob sie in der DDR oder in der BRD aufgewachsen sind: Lasst es nicht zu, dass unter dem Banner der Demokratie und unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung international verknüpfte Geheimdienste Waffen auf die Bürger richten, mit denen im Handumdrehen aus der Demokratie eine Diktatur gemacht werden kann. Machen wir den Mund auf, gehen wir gegen unsere eigene Resignation und die Servilität in der Politik an - wir haben erlebt, dass man eine Diktatur beenden kann, dann werden wir doch eine Demokratie am Leben erhalten können."

Im Kulturteil stellt Fatma Aydemir das Hommage-Album "Evolutionary Minded - Furthering the Legacy of Gil Scott-Heron" vor. "Das Projekt widmet sich dem gigantischen Werk Scott-Herons (15 Studio- und neun Live-Alben, zwei Romane und mehrere Gedichtbände), aus dem bereits unzählige Phrasen und Loops bis zum Anschlag gesampelt worden sind. Doch liefert 'Evolutionary Minded' nicht etwa Coverversionen, sondern neue Kompositionen, die von Textfragmenten, Melodien und Ideen von Scott-Heron inspiriert sind."

Weiteres: Julia Neumann kommentiert die Tücken einer Software zur Erkennung von rechtsradikalem Liedgut. Besprochen werden das Album "Green Disco" der in Neukölln lebenden australischen Musikerin Justine Electra und Wolfgang Herrndorfs Blog "Arbeit und Struktur", der heute als Buch erscheint. (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und Tom.

Welt, 06.12.2013

Außer Georg Büchner mag Sibylle Lewitscharoff ja auch Amazon und irgendwie auch das ganze Internet nicht, wie sie neulich in einer Wiener Rede (abgedruckt in der Welt) kundtat. Rüdiger Wischenbart antwortet: "Der Skandal, für den Amazon steht - abgesehen von unangemessenen Arbeitsbedingungen und Steuerzahlungen - ist, dass wir uns in Europa wenig Besseres einfallen lassen als zu klagen, um Amazons Expansion und Monopolstellung in die Schranken zu verweisen, und all die neuen Territorien der Bücher und des Lesens weitgehend ausblenden."

Cora Stephan vertritt nicht nur eine andere Meinung beim Thema Prostitution, sondern polemisiert gleich auch recht kräftig gegen Alice Schwarzer selbst, behauptet, dass Jan-Philipp Reemstma sie mit Millionenbeträgen fördere und hält fest: "Dass sie eine Ikone der Frauenbewegung sei, beruht auf einem Missverständnis. Eigentlich ist sie der beste Freund der Männer. Denen hat das Weltbild der Oberfeministin zunächst einen unschätzbaren Dienst getan: Sie dürfen Frauen als arme Hascherl betrachten, als Opfer, die beständig gefördert und beschützt werden müssen."

Weitere Artikel: Matthias Heine begibt sich auf einen ersten Gang durch die große Schlingensief-Ausstellung in den Berliner Kunstwerken: "Das Ruhrgebiet, die 68er, Katholizismus, Fluxus, Beuys, Fassbinder, Richard Wagner, CDU, FDP - es ist schon ein sehr bundesrepublikanischer Boden, auf dem Schlingensiefs Kunst gedieh". (Bild: Margit Carstensen in Schlingensiefs "Die 120 Tage von Bottrop".) Michael Pilz zeichnet ein Porträt der "dritten Generation Ost", also der um etwa 1980 geborenen, bei denen die Sehnsucht nach der alten DDR besonders tief zu sitzen scheint. Barbara Möller empfiehlt Matthias Steurers Fernsehkomödie "Kleine Schiffe" mit Katja Riemann. Hans-Joachim Müller schreibt zum Tod des Malers und Bildhauers Günther Förg.

NZZ, 06.12.2013

Anlässlich des Schwabinger Kunstfunds referiert Joachim Güntner die Geschichte der Provenienzforschung und ihrer Insitutionen, etwa der Koordinierungsstelle für Kulturgutdokumentation - die bei ihrer Gründung 1994 zur Dokumentation deutscher Kriegsverluste vorgesehen war: "Das hatte Tradition. In den fünfziger Jahren durften alle Vertriebenen beim Innenministerium in Bonn melden, was sie in Danzig oder anderswo an Kunstwerken hatten zurücklassen müssen. Bis 1990 blieb es bei dieser Zuständigkeit. Stets ging es um das, was Deutsche durch Beschlagnahme oder Plünderungen der Sowjets oder durch Abgabe der Ostgebiete verloren hatten. Von NS-Raubkunst und der moralischen Pflicht zu ihrer Restitution war keine Rede."

Weiteres: Andreas Breitenstein berichtet ergriffen von einer Ausstellung im Deutschen Literaturmuseum in Marbach, wo erstmals sämtliche Manuskriptseiten von Franz Kafkas Roman "Der Prozess" zu sehen sind: "Selten ist ein Wunder so sichtbar geworden wie dieses hier." Besprochen werden die Fotoausstellung "Wanderarbeiter" im Museum der Arbeit in Hamburg, CD-Einspielungen von Gustav Mahlers 8. Symphonie von den Bamberger Symphonikern (deren Chefdirigent Jonathan Nott dem Trend widersteht, alles "immer lauter und immer effektreicher zu spielen", wie Marco Frei dankbar feststellt) und Bachs Matthäus-Passion unter der Leitung von René Jacobs ("großartig", schwärmt Peter Hagmann).

Aus den Blogs, 06.12.2013

Lensculture zeigt einige surrealistische Fotos der Künstlerin Juul Kraijer, die gerade in Paris zu sehen waren. In einem kurzen Text gibt sie Auskunft über ihre Arbeit: "As an artist, I am inspired by Surrealist photography featuring parts of the human body. I am equally inspired by fin-de-siècle medical photography and photographic documentation of séances. Some of the photos of Julia Margaret Cameron have deeply influenced me, as well. Without being literal, I'm employing the Surrealist grammar of alienation; mirroring, fusing of disparate entities, animating an object, objectifying a human body part, or casting a dazzling web of shadows on it."

Der Historiker Timothy Snyder ermuntert in der NYRB die EU nachdrücklich, die Demonstranten in der Ukraine zu unterstützen. Janukowitsch habe die falschen Gründe, das Abkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen: "If this is a revolution, it must be one of the most common-sense revolutions in history. But the desire of so many to be able to have normal lives in a normal country is opposed by two fantasies, one of them now exhausted and the other extremely dangerous. The exhausted fantasy is that of Ukraine's geopolitical significance. Ukrainian president Viktor Yanukovych seems to believe, and he is not alone, that because Ukraine lies between the European Union and Russia, each side must have an interest in controlling it, and therefore that smart geopolitics involves turning them against each other. (...) The dangerous fantasy is the Russian idea that Ukraine is not really a different country, but rather a kind of slavic younger brother. This is a legacy of the late Soviet Union and the russification policies of the 1970s. It has no actual historical basis..."

SZ, 06.12.2013

Auf der Meinungsseite zeigt sich Catrin Lorch von jüngsten Rekorden auf Kunstauktionen arg vergrätzt - zumal die Rekorde ihrer Ansicht nach in keinem Verhältnis zum künstlerischen Wert stehen. "In dem Rekord für Francis Bacons Triptychon drückt sich nicht die Wertschätzung des Kenners aus, sondern vor allem, dass auf einem prestigesüchtigen Markt die Stimmung überhitzt ist. Es muss nur endlich ein echtes, vielleicht sogar lange verschollenes Spitzenwerk der Moderne unter den Hammer kommen. Und schon dürfte auch Bacon überboten werden. Was nebenbei auch erklärt, warum bereits Ansprüche auf den Besitz von Cornelius Gurlitt angemeldet wurden, noch bevor überhaupt offiziell bekannt wurde, welche Werke in seiner Wohnung in München-Schwabing lagerten."

Weiteres aus dem Feuilleton: Charlotte Theile empfiehlt den Besuch einer von Prostituiertenverbänden anberaumten Informationsveranstaltung in Berlin, wo Wissenschaftler, Kriminologen und Prostiuierte über den derzeit "meistdiskutierten Beruf des Landes" referieren werden: "Vielleicht ist es genau das, was nach den aufgeregten Diskussionen bei Maischberger und Jauch guttut." Hans-Peter Kunisch spricht in Krakau mit dem ukrainischen Dichter Taras Maikovych über die Proteste in dessen Heimatland. Julian Hans berichtet von einer St. Petersburger Tagung zum Stand der Dinge im russischen Kulturbetrieb und beobachtet dabei, dass sich russische Künstler gegen die Vereinnahmung durch den Staat wehren. Laura Weissmüller kann sich mit dem neuen Logo des Münchner Flughafens nicht anfreunden.

Besprochen werden die Ausstellung "tanz!" in Dresden, die Filmkomödie "Ganz weit hinten" und Kathrin Drägers Studie "Familiennamen aus dem Rufnamen Nikolaus in Deutschland" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 06.12.2013

Jürgen Kaube sammelt Argumente gegen Prostitutionsgesetze. Durchaus für bedenkenswert hält er die Argumentation der schwedischen Journalistin Petra Östergren, die befürchtet, dass unter einem drakonischem Strafmaß für Freier vor allem Prostituierte zu leiden haben: "Das Angebot [geht] weniger stark zurück als die Nachfrage. Das lässt die Preise noch mehr verfallen und die Bereitschaft zu ungeschütztem Sex oder zu stark abweichenden Praktiken ansteigen. Zumal gerade Kunden, die sich ohnehin in der Kriminalitätszone bewegen, durch Strafmandate kaum abzuschrecken sind. Umgekehrt scheide gerade die Freiergruppe... die deren Berufsleben, Psyche und Gesundheit am wenigsten belaste, bei scharfer Strafandrohung aus dem Markt aus."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg liest in Ernst Jüngers und Maurice Genevoixs Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, den beide auf verschiedenen Seiten der Front erlebt haben. Dieter Bartetzko ärgert sich über die Unentschlossenheit der Frankfurter Stadtpolitik hinsichtlich der "Alten Brücke". Jordan Mejias sammelt US-amerikanische Stimmen zum Schwabinger Kunstfund (etwa diese und jene stark differierenden Einschätzungen). Jürgen Dollase ist vom neuen Brüsseler Restaurant WY noch nicht voll überzeugt, kann aber auf der Speisekarte das empfehlen, "was rustikal klingt". Julia Voss schreibt den Nachruf auf den Künstler Günther Förg.

Besprochen werden eine Nikolaus-Ausstellung im Ikonenmuseum Recklinghausen (Bild), neue Musikveröffentlichungen, darunter ausführlicher eine Anthologie des Soulmusikers Donny Hathaway, eine Ausstellung mit Arbeiten von Pierre Huyghe im Centre Pompidou, die Filmkomödie "45 Minuten bis Ramallah", eine Fotoausstellung über Wanderarbeiter im Museum der Arbeit in Hamburg, das Horror-Remake "Carrie" und Bücher, darunter Lilly Lindners Roman "Da vorne wartet die Zeit" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).