Heute in den Feuilletons

Ein Gegengift zum Rummel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2013. In einem empörten Artikel für die Welt wirft Juri Andruchowytsch dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch vor, die Proteste für Europa mit brutaler Gewalt niederzuschlagen. In der NZZ erinnert der südafrikansiche Autor Zakes Mda daran, wie Nelson Mandela die Versöhnung auch gegen den ANC durchsetzte. Joseph von Westphalen erinnert sich in der Abendzeitung an ein Lächeln vor einem vornehmen Teeladen, das seiner Mutter einst große Erleichterung brachte. Die taz beleuchtet die Zeitenwende bei Hanser.

Welt, 07.12.2013

Etwas versteckt auf den Kulturseiten Juri Andruchowytschs empörter Text über "das bestialische Sonderkommando, das unsere Kinder schlachtet". Der ukrainische Schriftsteller wirft dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch vor, die Demonstrationen für Europa - besonders abseits der Kameras - mit brutaler Gewalt niederzuschlagen: "Wenn sie zu viert einen Verletzten, der am Boden liegt, umringen, schreien sie: "Wenn du überleben willst, knie nieder." Auf die Knie zwingen, um die eigene Haut zu retten, das ist ihre gesellschaftliche Taktik, die sie auch auf uns anwenden wollen. In Weißrussland und Russland hat es geklappt. Jetzt sind die Ukrainer dran, denken sie."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr notiert zufrieden, dass die Kulturstiftungen des Bundes und der Länder immer enger zusammenarbeiten. Jenny Hoch geht mit der Schauspielerin Steffi Kühnert essen. Elmar Krekeler empfiehlt den morgigen "Tatort" mit Ulrich Tukur.

Für die Literarische Welt liest Clemens Setz einige im Internet aufgetauchte und offenbar authentische Erzählungen des sagenumwobenen Jerome D. Salinger, darunter "The Bowler" mit einer Figur namens Kenneth: "Bei Gesprächen während einer Autofahrt und einem kurzen Besuch in einem Lokal wird klar, dass Kenneth das ist, was David Foster Wallace einmal "a Mozart of living" genannt hat. Er blickt durch das Gewebe der Wirklichkeit, er verfügt über eine Art von Cheater"s Guide zu der uns bekannten Welt."

Besprochen werden Reza Aslans Studie "Zelot - Jesus von Nazareth und seine Zeit", einige Kinderbücher, darunter Erzählungen von Kirsten Boie, Bart Moeyaerts Roman "Hinter der Milchstraße", Oliver Scherz" Roman "Ben", außerdem Jorge Sempruns "Überlebensübungen", J. M. Coetzees Roman"Die Kindheit Jesu", eine Neuübersetzung der "Schatzinsel" und Jutta Persons Buch über Esel.

NZZ, 07.12.2013

Der südafrikanische Schriftsteller Zakes Mda erinnert in seinem Nachruf auf Nelson Mandela daran, dass Mandelas Größe auch in einem Bruch mit eigenen Prinzipien lag, als er gegen die Linie des ANC heimlich Gespräche mit dem Apartheidsregime aufnahm: "Jegliche Entspannung im Verhältnis zu den Machthabern ging gegen die Politik des ANC, und die Jugendlichen, die im Kampf gegen die Apartheid ihr Leben aufs Spiel setzten, hätten Mandela als Verräter abgeschrieben. Er aber wusste, dass die Zeit reif war für eine neue Taktik."

Weitere Artikel: Iso Camartin protestiert gegen die Absetzungh Inge Blaschkes als Kuratorin Museum Chasa Jaura im bündnerischen Münstertal. Andrea Köhler berichtet über die Gründung eines an den Diplomaten Richard Holbrookes erinnernden Diskussionsforums in New York.



In Literatur und Kunst betrachtet Peter Bürger zwei frühneuzeitliche Malereien, welche die Anbetung der Könige zum Gegenstand haben: Hugo van der Goes "Die Anbetung der Könige" (um 1470) und eine anonyme Darstellung der Heiligen Drei Könige um 1520, die beide in der Berliner Gemäldegalerie hängen. Jörg Becker meditiert über Kino-Adaptationen von Romanen Ian McEwans. Ingrid Galster erinnert an die Rebellion Lope de Aguirres gegen die spanische Krone.

Besprochen wird Eduardo Mendozas neuer Roman "Der Friseur und die Kanzlerin".

TAZ, 07.12.2013

Dirk Knipphals schreibt so ausführlich wie wehmütig über die Zeitenwende bei Hanser. Michael Krüger geht (auf Youtube führt er derzeit noch einen Adventskalender), der junge Jo Lendle kommt. Nachdem er alte Fotos von Krüger betrachtet hat, stellt Knipphals fest: "Man wird als auratischer Verleger keineswegs geboren, sondern man muss sich diesen Status allmählich erwerben. Durch Leidenschaft für die Literatur. Aber mindestens so sehr durch permanentes Networking, das Krüger einst im Literarischen Colloquium so intensiv betrieben hat, wie es Lendle heute woanders tut. Vielleicht sind sie sich auf ihre Art ähnlicher, als man denkt. Mal sehen, auf was für Fotos von Jo Lendle man in dreißig Jahren zurückblicken wird."

Außerdem: Auf drei, im Print reich bebilderten, Seiten stellt Michael Sontheimer die Reportagen aus dem Zweiten Weltkrieg der Fotografin Lee Miller vor, die gerade auch als Buch erschienen sind. Andreas Kiener spricht mit der Mikrotext-Verlegerin Nikola Richter über Potenziale des digitalen Buchs. Katrin Bettina Müller blickt auf die Geschichte des Berliner Künstlerprogramms DAAD. Dave Tompkins legt die Geschichte der Techno-Pioniere Cybotron frei (hier der englische Originaltext bei Spin, ungekürzt und mit vielen Soundbeispielen). Maik Söhler erklärt die alljährlich ausbrechenden Glaubenskriege zwischen den Anhängern verschiedener Fußball-Computerspiele. In mehreren Artikeln verabschiedet sich die taz von Nelson Mandela. Am ausführlichsten ist Marina Schwikowskis Nachruf, außerdem schreibt Julian Weber über Mandelas Status als Ikone der Popkultur.

Der Handelszeitung ist es nicht gelungen, das Ende der Financial Times für sich zu nutzen, schreibt Daniel Bouhs auf der Medienseite. Außerdem berichtet die taz, dass es die Genossenschaft der Redaktion mächtig übel genommen hat, dass diese sich kurz vor der Bundestagswahl für die heiklen Aspekte aus der Frühgeschichte der Grünen interessiert hat.

Besprochen werden die Ausstellung "Scherben" im Berliner Museum der Dinge und Bücher, darunter Alice Munros neuer Kurzgeschichtenband "Liebes Leben" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 07.12.2013

Joseph von Westphalen erzählt in seiner Kolumne für die Abendzeitung wie eine seine Mutter einmal ihr Gebiss vor einem vornehmen Münchner Teeladen verlor, und wie sie es einige Stunden später wiederfand: "Auch damals schon dichtes Fußgängergedränge auf den vorweihnachtlichen Bürgersteigen. Vor dem Teeladen teilte sich der Fußgängerstrom. Da lag das Gebiss unbeschädigt und lächelte seine Besitzerin an."

(Via Matthias Rascher) Die New York Times erzählt Nelson Mandelas Geschichte in einer Reihe historischer Plakate.

SZ, 07.12.2013

Zum Tod von Nelson Mandela bringt die SZ Auszüge aus den Reden des Menschenrechtlers. Für Johan Schloemann geht mit Mandelas Tod auch die Ära der großen Nachkriegsredner zu Ende. Das liegt seines Erachtens keineswegs daran, dass es an großen wichtigen Themen fehlt: "Nein, was zu schwinden scheint, das ist der hohe Ton - und die Konzentration der Weltöffentlichkeit." Auf Seite Drei gibt es außerdem einen ausführlichen Nachruf von Peter Sartorious, online immerhin eine Strecke mit Zitaten.

Weitere Artikel: Das große Kino interessiert seit neuestem auch für komplexe Frauen, beobachtet David Steinitz. Okwui Enwezor spricht mit Catrin Lorch über seine Pläne für die nächste Venedig-Biennale: "Wir müssen ... ein Gegengift zum Rummel schaffen". Ira Mazzoni stellt Eugène Delacroix' "Löwin" vor, die sich in Gurlitts Kunstsammlung befindet. Deren Wert sinkt im übrigen gerade, meldet Catrin Lorch, die auch zu berichten weiß, dass sich in der Sammlung auch Bilder von Gurlitts eigener Hand finden. Volker Breidecker gratuliert dem Verleger Vito von Eichborn zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden eine CD-Edition von im privaten Rahmen entstandenen Aufnahmen Keith Jarretts, die Ausstellung "Geheimnisse der Maler - Köln im Mittelalter" im Wallraf-Richartz Museum in Köln, ein Benjamin-Britten-Konzert unter Lorin Maazel in der Münchner Philharmonie und Wolfgang Herrndorfs "Arbeit und Struktur", die Buchvariante des gleichnamigen Blogs des kürzlich gestorbenen Autors (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende beobachtet Peter Richter, dass sich immer mehr Frauen insbesondere der schreibenden Zunft von New York abwenden. Zur Prostitutionsdebatte moderieren Christina Berndt und Hannah Wilhelm ein Gespräch zwischen einem Freier, einer Ex-Prostituierten, einer Bordellbetreiberin und der Autorin und Filmemacherin Rita Knobel-Ulrich. Ronen Steinke führt durch die Geschichte des Friedensnobelpreises. Christian Mayer unterhält sich mit dem Schweizer Künstler und Autor Philipp Keel.

FAZ, 07.12.2013

David Grossman erzählt im Gespräch mit Sandra Kegel, was ihn dazu trieb ein Buch über den Tod seines Sohns zu schreiben ("Aus der Zeit fallen", das jetzt im Deutschen Theater dramatisiert wird): "Wenn ich schon gestraft bin damit, auf diese Insel der Trauer verbannt zu sein - ein schlimmer Ort -, dann will ich ihn wenigstens kartografieren. Ich will ihn zeichnen, bezeichnen, indem ich allen Gefühlen dort einen Namen gebe, alle Möglichkeiten benenne, die es dort gibt."

Nochmal Trauer. Jeffrey F. Hamburger, Kunsthistoriker in Harvard, erinnert sich an die Kunstsammlung seiner Großeltern, die einiges in die Londoner Emigration retten konnten: "Das große Gemälde, das ihr Wohnzimmer in London beherrschte, war von einem anderen Verwandten, Max Lieberg, gemalt worden, in guter deutscher Tradition ein recht ordentlicher Amateurmaler und Geschäftsmann in Kassel, der gezwungen wurde, als Sklavenarbeiter in seiner eigenen Fabrik zu arbeiten, bevor er deportiert und ermordet wurde."

Weitere Artikel: Nils Minkmar schreibt einen Nachruf auf Nelson Mandela, der auch die voreren Seiten der Zeitung beherrscht. Helmut Mayer unterhält sich mit der Journalistin Ruth Weiss, die 1924 in Fürth geboren wurde und 1936 mit ihrer Familie nach Südafrika emigrierte, über Mandela. Jürg Altwegg resümiert respektvolle franzöische Reaktionen auf die Nachricht, dass François Hollande sich einem unbedeutenden Eingriff an seiner Prostata unterziehen musste. Martina Wachendorff, Verlegerin bei Actes Sud, muss Michael Kumpfmüller bescheinigen, dass er in seinem offenen Brief an die arroganten Franzosen über altbekannte Klischees nicht hinauskomme. Auf der Medienseite berichtet Carsten Germis über neue japanische Pressegesetze, die die Arbeit von Journalisten erschweren - und Whistleblower aus der Verwaltung drohen zehn Jahre Haft, wenn sie Interna veraten.

Besprochen werden eine Dramatisierung von Thomas Manns Josephsroman in Wien und Bücher, darunter der Roman "Odessa Star" des niederländischen Autors Herman Koch (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).