Heute in den Feuilletons

Diese allzu tapferen Krieger

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2013. Die NZZ sucht in Ägypten vergeblich nach Neutralität. Die neue Bundesregierung will die NSA-Affäre aussitzen, ahnt Heise.de. Das Blog des Merkur startet eine Lektüre der Goncourt-Tagebücher. Die FAZ feiert Abellatif Kechiches Film "Blau ist eine warme Farbe" als Studie übers Erwachsenwerden. Außerdem prangert sie die Umtriebe der Islamisten in Syrien an. Das französische Filmgeschäft ist eine dynastische Angelegenheit, findet die Welt heraus. Die FR interviewt Hans-Ulrich Wehler zum Ersten Weltkrieg. In der SZ überreicht Fritz J. Raddatz seinem Kollegen Joachim Kaiser ein Blumensträußchen.

NZZ, 18.12.2013

Angela Schader berichtet von einer deutsch-ägyptischen Konferenz zur politischen Bildung in Alexandria, die zeigte, wie festgefahren die ägyptische Gesellschaft ist: "Statt des Rückgriffs auf die Realien, den sich die ausländischen Gäste vielleicht erhofft hatten, stand bei der 'Civic Education Conference' also von Anfang an die Arbeit am Begriff im Vordergrund. Immer wieder zeigte sich dabei, dass bei uns ganz selbstverständlich positiv gewertete Ideen - inklusive diejenige der Zivilgesellschaft - in Ägyptens breiter Bevölkerung einen zweifelhaften Ruf genießen, allein, weil religiöse Meinungsführer sie als wertezersetzenden westlichen Import gebrandmarkt haben." Besonders irritert hat Schader, dass der Begriff der Neutralität negativ betrachtet wird!

Sehr verärgert reagiert Lotte Thaler auf Hans Neuenfels' Frankfurter Inszenierung von Georges Enescus selten gespielter, aber sehr moderner Oper "OEdipe". Besonders die Überheblichkeit des Dirigenten Alexander Liebreich geht ihr gegen den Strich: "Man habe es bei Enescus Oper 'eindeutig mit einem in der Spätromantik verhafteten Werk zu tun', verkündet Liebreich; er findet weiter, 'dass Enescu aufgrund seiner Wurzeln sehr stark vom Bauch und von seiner Virtuosität her komponiert hat', und bezweifelt dann, 'dass Enescu diese klare gedankliche Stringenz der Gesangspartien tatsächlich vor Augen hatte'. Fragen wir lieber, was Alexander Liebreich vor Augen hatte: einen Schmierengeiger aus den Hinterhöfen des Balkans etwa?"

Besprochen werden außerdem der zwölfte Band des Historischen Lexikons der Schweiz, Christoph Hoffmanns Studie "Die Arbeit der Wissenschaften" und Carl Djerassis Biografie "Der Schattensammler" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 18.12.2013

Uwe Soukup erinnert zu Willy Brandts hundertestem Geburtstag auch an dessen brutalen Sturz, den er noch immer nicht ganz aufgeklärt sieht: "Die Behörden und Dienste, die im Fall Guillaume krass versagt hatten, waren nun eifrig bemüht, einen 'saufenden und depressiven' Kanzler als pflichtvergessenen Frauenheld darzustellen."

Besprochen werden Christoph Waltz' Inszenierung des "Rosenkavaliers" in Antwerpen und das Album "Unbekannte" des Pop-Avantgardisten Jason Griers.

Und Tom.

Welt, 18.12.2013

Die so gern zelebrierte Andersheit des französischen Autorenfilms ist das eine, die Machtstruktur im Hintergrund das andere. Das französische Filmgeschäft ist dynastisch, schreibt Gerhard Midding und nennt die "Depardieus, Gainsbourgs oder Bohringers" und die "Brasseurs, die Garrels, die Seigners" und nun also die sehr schöne Léa Seydoux, die sich über die Arbeitsbedingungen in Abdellatif Kechiches Film "Blau ist eine warme Farbe" beschwerte: "Ihrem Großvater Jérôme gehört der zweitälteste französische Filmkonzern Pathé und ihrem Großonkel Nicolas der älteste, Gaumont. 1895 bzw. 1896 gegründet, sind beide nach wie vor die wichtigsten Kraftzentren des dortigen Filmgeschäfts. Ihre Chefs sind mächtige Patrons, über die man allenfalls hinter der Hand ein schlechtes Wort verliert."

Weitere Artikel: Tim Ackermann meldet leichte Zweifel an der Großartigkeit des Grafen Christian Dürckheim an, der dem British Museum unter großem Medienecho ein paar Zeichnungen Baselitz' und Richters schenkte, nachdem er große Gemälde der Meister mit Millionengewinn versteigert hatte. Peter Reichel erinnert an den Beginn des ersten Auschwitz-Prozesses vor fünfzig Jahren. Alan Posener wendet sich von seinem Iphone ab, nachdem er festgestellt hat, dass Kinder von Hartz-IV-Empfängern diese Dinger schon aus Kinderwagen schmettern. Frédéric Schwilden gratuliert Keith Richard zum Siebzigsten.

Besprochen wird eine wiederentdeckte "Iphigenie" des Gluck-Zeitgenossen Tommaso Traetta in Schwetzingen.

Auf den Forumsseiten analysiert Ian Buruma dynastische Motive bei ostasiatischen Politikern, die sich in finsterstem Nationalismus um ein paar unbewohnte Inseln im chinesischen Meer balgen.

Aus den Blogs, 18.12.2013

Das Filmmagazin Cargo präsentiert eine Fotoserie Ludger Blankes vom Wahlabend. Bildunterschrift unter einem der fotos: "Berliner Runde im Studio 1 des ZDF. Der Tisch ganz links war für Rainer Brüderle vorgesehen. Wird nach der letzten Hochrechnung um 20 Uhr weggeräumt."


Holger Schulze und Dominique Silvestri eröffnen auf dem Blog des Merkur eine Lektüre der neuen deutschen Edition der Goncourt-Tagebücher: "Als das eigentliche Tagebuch der Goncourts im Dezember 1851 schließlich einsetzt, als die stilistischen Merkmale der Tagebucheinträge zunehmend beisammen und eingeführt sind, steht die Revolution von 1848 vor ihren Trümmern. Der Staatsstreich des Louis Bonaparte hat begonnen, und die Goncourts notieren, jetzt als ein gemeinsam die Augen aufreißendes, Details aufsaugendes Wir: 'Eine der Gewehrpyramiden, die von diesen allzu tapferen Kriegern schlecht zusammengestellt worden war, fiel auf das Pflaster, als wir vorbeigingen.' (Bd. I, S. 24)"

Stichwörter: Brüderle, Rainer, 1848

Weitere Medien, 18.12.2013

Detlef Borchers kommentiert auf heise.de: "Mit der Ernennung von Klaus-Dieter Fritsche (CSU) zum Geheimdienst-Staatssekretär im Bundeskanzleramt dokumentiert die Große Koalition klar und deutlich, dass sie die NSA-Affäre aussitzen will... Besonders die Aussage von Fritsche, dass er das Staatswohl für wichtiger als die parlamentarische Aufklärung halte, gibt für seine künftige Rolle als NSA-Aufklärer zu denken."

Götz Aly, der sich gerade in Jerusalem aufhält, schickte seine Kolumne für die Berliner Zeitung aus dem nahöstlichen Schneechaos: "Für das Westjordanland wurde sofort ein israelisch-palästinensischer Krisenstab improvisiert, das von schweren Überschwemmungen heimgesuchte Gaza erhielt die angeforderten Hilfslieferungen aus Israel. In der Not, aber auch im Alltag, zeigen beide Seiten immer wieder die Bereitschaft, pragmatisch miteinander zu verkehren."

FR, 18.12.2013

In einem zweiseitigen Interview (aber leider nicht online) spricht der Historiker Hans-Ulrich Wehler über den Ersten Weltkrieg. Christopher Clarks britische These vom "allgemeinen Hineinschlittern" will er nicht teilen, er sieht klar eine deutsche Hauptschuld, aber Anteile auf allen Seiten: "Auf allen Seiten ist der fanatische Nationalismus eine entscheidende Triebkraft. Sowohl auf der deutschen als auch der englischen, französischen, schließlich auch der amerikanischen Seite. Aber es gibt auch eine Reihe von anderen Motiven. Die Franzosen wollen das ihnen geraubte Elsaß-Lothringen wiederhaben. Die Engländer wollen endlich die deutsche Schlachtflotte ausschalten, die Amerikaner wollen ihrer vertrauten Macht England beistehen und keine Niederlage Englands hinnehmen. Zudem wurden durch den deutschen U-Boot-Krieg amerikanische Schiffe versenkt, zum Teil mit 1000 Amerikanern an Bord. Es kamen immer weitere Motive hinzu, die den Krieg totalisierten."

FAZ, 18.12.2013

In Syrien ist am Wochenende die Menschenrechtsaktivistin Razan Zeitouneh vermutlich von Islamisten entführt worden, berichtet Markus Bickel auf der Medienseite. Sie teilt damit das Schicksal von sechzig weiteren Oppositionellen und 35 Reportern, die sich weder vor den Karren Assads noch den Al Qaidas spannen lassen wollen: "Zeitounehs Entführung erinnert daran, dass hinter den Fronten des Syrien-Kriegs Aktivisten weiter streiten für das, was von Beginn an den Kern des Kampfes der arabischen Jugend gegen die autoritären Regierungen der Region ausmachte: Freiheit und Gerechtigkeit. Eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen und sich für ein freies, pluralistisches Syrien einzusetzen, das ist für Razan Zeitouneh eins".

Es sind nicht die Sexszenen, die Verena Lueken an Abellatif Kechiches Film und Palmengewinner "Blau ist eine warme Farbe" so berühren, sondern gerade die Rückkehr der Realität und die Trennung: "wie er Adèle an dieser Trennung fast zugrunde gehen lässt, während sie tapfer zur Arbeit geht, wie ihre Einsamkeit uns, während wir sie beim Spiel mit den Kindern in ihrer Obhut beobachten, ächzen lässt, und wie sie schließlich ganz zum Schluss einen Standpunkt findet, als sie Emma bei einer Vernissage wiedertrifft, ist die herzzerreißend wahre Konsequenz dieser Studie übers Erwachsenwerden."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann bedauert die Schließung des Hauses Münstereifel der Friedrich-Ebert-Stiftung, wo sich Historisches begab (die Stadt Münstereifel wird zugleich zum Disney-Land für Outlet-Shops). Jürgen Kaube staunt über die vielen regierungsamtlichen Zuständigkeiten für das so langsame deutsche Netz. Wiebke Hüster schildert die Schwierigkeiten zwischen Sasha Waltz und der Stadt Berlin. Jan Wiele hat sich an den einzigen Ort der Welt begeben, an dem "ein Banjospieler ein sechsstelliges Einkommen beziehen kann" (so Bob Dylan), nämlich Nashville, und berichtet über das stets noch aktive Musikleben der Stadt. Jan Brachmann war bei einem Konzert der Reihe "So klingt Europa". Hannah Lühmann stellt die Studie "Social Media im Bundestagswahlkampf" vor. Die Bonner Historikerin Alma Hannig erzählt, welche Schritte Kaiser Franz Ferdinand 1912 unternahm, um den Friedensnobelpreis für den Abgeordneten des österreichisches Reichsrates Tomáš Masaryk zu verhindern - wobei, wie wir erfahren, Masaryks Chancen eh sehr gering gewesen waren.

Besprochen werden eine Ausstellung mit finnischen Künstlern, die um 1900 mit ihren Familien eine Künstlerkolonie vom Tuusula-See bildeten, im Ateneum Art Museum in Helsinki (Bild: Pekka Halonen: From the Garden, 1913), die Ausstellung "Schicht im Schacht" aus der Kunstsammlung des ehemaligen sowjetisch-deutschen Großbetriebs Wismut in der Neuen Sächsischen Galerie in Chemnitz und die Schau "Elf eingeladene Werke" im Picasso Museum in Malaga.

SZ, 18.12.2013

Drei Blumen überreicht Fritz J. Raddatz seinem Kollegen Joachim Kaiser zum 85. Geburtstag. Eine davon, erklärt er, steht für Kaisers Behutsamkeit: "Noch in heikler Situation - ich hatte ihn und Grass nach dessen Bekenntnisbuch zu einem Streit-Abendessen eingeladen - meinte er, sein Glas hebend, ziemlich leise, sehr kollegial: 'Na ja, Günter, bisschen spät kommt das mit der SS ja schon - und weißt du: Ich habe nie an den Endsieg geglaubt.' Jochen, wie wir ihn nennen, ist wohl ein Menschenskeptiker - ein Menschenverächter ist er nicht."

Weitere Artikel: Jens Bisky sichtet die architektonischen Konzepte für den "Springer-Campus" (mehr) in Berlin. Begeistert ist er nicht gerade: "Bis der Sieger ermittelt ist, kann sich jeder fragen, ob die skulpturalen Effekte, die geschwätzige Symbolik der drei Entwürfe nicht schneller alt werden - als die Zeitung von gestern." Jens-Christian Rabe gratuliert Keith Richards zum erstaunlicherweise erst 70. Geburtstag.

Besprochen werden Abdellatif Kechiches Film "Blau ist eine warme Farbe", eine Aufführung von Schnitzlers "Reigen" in Stuttgart und die Werkausgabe von Federico Garcìa Lorca, die allerdings, wie Ralph Hammerthaler ausführlich darlegt, in der kontroversen Übersetzung von Enrique Beck veröffentlicht wird (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).