Heute in den Feuilletons

Die entscheidenden Diskursstellungen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2013. Der Economist erklärt, warum westliche Akademiker sich nicht trauen, den Namen Liu Xiaobo auszusprechen. Die NZZ weist uns in die Szene der ethnografischen Mp3-Blogger ein. Die taz guckt sakte-TV. Die SZ hat Lars von Triers Porno gesehen. Für die Welt ist Jonas Kaufmanns Tenor ein Instrument der Wahrheitsfindung. Nun ist es raus: Heidegger war Antisemit, meint die Zeit. Und der Tagesspiegel lernt im Iran, wie man gleichzeitig fromm sein und gut Geld verdienen kann. 

NZZ, 27.12.2013

Thomas Burkhalter stellt die Sphäre der ethnografischen Mp3-Blogger vor, die musikalische Schätze aufspüren, digitalisieren und unter Titeln wie Excavated Shellac, Awesome Tapes from Africa oder Sahelsounds zum Gratisdownload anbieten: "Im Fokus der MP3-Blogs stehen rare Tonträger, die entweder im Markt nicht mehr erhältlich sind oder aber von traditionellen Mainstream-Medien, nationalen Archiven oder der musikethnologischen Forschung ignoriert werden und wurden: Funk aus Nigeria, Jazz aus Äthiopien, kubanische Musik aus Kongo oder psychedelischer Rock aus der arabischen Welt - alles musikalische Zeugnisse für die Globalisierungsströme der 1960er und 1970er Jahre."

Weitere Artikel: Anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums des Mailänder Adelphi-Verlags besucht Barbara Villiger Heilig dessen Leiter Roberto Calasso. Roman Bucheli schreibt den Nachruf auf die Lyrikerin Helga M. Novak.

Besprochen werden Michael Thalheimers Berliner Inszenierung von Molières "Tartuffe" (die laut Dirk Pilz "gegen papierne, triviale Religionsvorstellungen anrennt"), eine Retrospektive des im vergangenen April verstorbenen chinesisch-französischen Künstlers Zao Wou-Ki in Locarno, eine Wiener Ausstellung mit historischen Kinderfotos und die BBC-Dokumentation "Kindertransport".

Tagesspiegel, 27.12.2013

Martin Gehlen erzählt in einer Reportage von Iranern, die nach wie vor unter den bigotten religiösen und politischen Verhältnissen in ihrem Land leiden, aber die Hoffnung nicht aufgeben. Zumal das Regime seinen Untergang selbst herbeiführt: Der Ökonom Saeed Leylaz "sagt, dass die Islamische Republik unter Ahmadinedschad ihr goldenes Zeitalter verspielt habe. Seit 1979 hatte der Iran nach seiner Rechnung rund 1000 Milliarden Dollar Öleinnahmen erzielt, allein auf die letzten acht Jahre entfielen demnach wegen der Rekordölpreise 700 bis 800 Milliarden Dollar. Doch die herrschende Klasse habe den märchenhaften Ölreichtum sinnlos verprasst. Die Staatskasse, die Nachfolger Ruhani vorfand, ist offenbar leer. 'Allein 200 bis 300 Milliarden hat Ahmadinedschads neue politische Klasse in die eigenen Taschen geschaufelt', schätzt Leylaz. Der Rest wurde vor allem für den Import von Konsumgütern ausgegeben, an denen die revolutionären Garden kräftig mitverdienten. Die öffentlichen Investitionen dagegen sanken auf ein Rekordtief, das Wirtschaftswachstum verebbte, die Inflation stieg auf über 40 Prozent. Nicht die internationalen Sanktionen hätten die iranische Wirtschaft zum Einsturz gebracht, sondern die eigene Gier und das beispiellose Missmanagement."

Welt, 27.12.2013

Manuel Brug singt eine Hymne auf den Tenor Jonas Kaufmann, der den Alvaro in Martin Kusejs Inszenierung der "Macht des Schicksals" in München gibt: "Er ist gegenwärtig zu Recht so einzigartig, weil es keinen Tenor gibt, der so vollkommen spielt, singt und gestaltet, der für jede Rolle die Farben seiner mal dunklen, mal honigfarbenen, mal baritonal durchmischten, auch bewusst dringlich-hässlich klingenden Stimme anders zu mischen versteht, der sie vollkommen als Instrument der Wahrheitsfindung einer szenischen Notwendigkeit anzupassen vermag."

Weitere Artikel: Michael Loesl unterhält sich mit Thomas D von Fanta 4 über dessen Solo-Album "Tommy Blank". Besprochen werden Filme, darunter die Adaption von Noah Gordons Roman "Der Medicus" und die Ausstellung "Interferenzen Deutschland-Frankreich - Architektur 1800-2000" in Frankfurt.

Weitere Medien, 27.12.2013

Ein paar ganz einfache Wahrheiten über China und seine Freunde im Westen sagt G.E. im Analects-Blog des Economist: "Mr Liu Xiaobo was arrested five years ago this week, and he was sentenced four years ago this month. He has not been heard from directly since. At the ceremony awarding him the 2010 Nobel Peace Prize (pictured) his absence was marked by the empty chair he should have been sitting in. Uttering his name is in itself a political act. Perry Link, an eminent American China scholar long blacklisted from re-entering the country, writes that academic colleagues do not mention Mr Liu for fear of jeopardising their ability to work in China. As our Banyan columnist points out in this week's print edition, his name has moved far down the list of talking-points for visiting Western leaders as well."
Stichwörter: China, Liu Xiaobo, Western, Country

Zeit, 27.12.2013

Martin Heidegger war ein waschechter Antisemit, daran gibt es für Thomas Assheuer nach der Lektüre "kleinster philosophischer Partikel" aus den Anfang März erscheinenden "Schwarzen Heften" gar keinen Zweifel. Der französische Philosoph Emmanuel Faye sieht das im Interview mit Iris Radisch ebenso. Der Herausgeber der "Schwarzen Hefte", Peter Trawny, zeigt sich wiederum schockiert, "wie schnell in dieser Diskussion ein in der Heidegger-Rezeption herrschender Fanatismus die Tatsachen verzerren kann. Wir befinden uns in der absurden Situation, dass alle scheinbar wissen, wie sie zu verstehen sind, obwohl sie noch nicht erschienen sind. ... Einige Wissenschaftler gehen schon jetzt in den Apologetik-Modus über, die anderen wetzen die Messer, um den scheinbar besiegelten Untergang von Heideggers Denken noch zu beschleunigen. Wieder andere versuchen bereits, die entscheidenden Diskursstellungen zu besetzen, um ihrer Eitelkeit zu frönen." (Einen guten Überblick über die entstehende französische Debatte gibt Eric Aeschimann im NouvelObs.)

Weitere Artikel: Hanno Rauterberg erzählt, wie der Kunsthistoriker Horst Bredekamp mit Unterstützung von 14 Berliner Institutionen - darunter die Max-Planck-Gesellschaft, die Alexander von Humboldt-Stiftung und die Bundesanstalt für Materialforschung - fünf Zeichnungen, als echte Werke von Galileo Galilei veröffentlichte, die sich dann als Fälschungen entpuppten (mehr hier). Christine Lemke-Matwey fragt mit Blick auf die jüngsten Pro-Putin-Äußerungen des Dirigenten Valery Gergiev (mehr in der FAZ), ob die Münchner Philharmoniker "einen wie ihn" wirklich brauchen. David Hugendick mokiert sich über die Vorliebe fürs Mittelalter bei deutschen Fernsehproduzenten. Der neue Chef der Documenta, Adam Szymczyk, lässt sich im Interview nicht entlocken, was genau er machen möchte. Und es gibt einen Vorabdruck von Max Frischs "Berliner Journal".

Besprochen werden Ramon Zürchers Familienfilmdrama "Das merkwürdige Kätzchen" und Bücher, darunter Alice Munros Erzählband "Liebes Leben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 27.12.2013

Auf der Medienseite informiert uns Reinhard Wollf über norwegisches sakte-TV, was langsames Fernsehen bedeutet. Der Name ist Programm: "Anfang November zog dann der 'nationale Strick-Abend' von 20 Uhr bis 4 Uhr morgens ein Millionenpublikum in seinen Bann. Es gab eine Strickschule und man bekam einen Norwegerpullover vorgestrickt. Traditionelle Strickmuster wurden präsentiert, ein Harley-Davidson-Motorrad musste sich bestricken lassen."

Weitere Artikel: Gemma Pörzgen beschreibt die Rolle, die PR-Agenturen für Michail Chodorkowskis Freilassung spielten, indem sie die Erinnerung an den prominentesten Häftling Russlands über Jahre wachhielten. (Tsss, was für ein zynisches Misstrauen westlichen Medien gegenüber!) Und Wolfgang Gast kommentiert Edward Snowdens von der BBC ausgestrahlte Weihnachtsbotschaft:



Besprochen werden der Film "Les salauds - Dreckskerle" von Claire Denis, laut Andreas Busche eine "seltsam-verstörende Hybride aus B-Movie und Kunstkino", das Debütalbum des schwedischen Elektropop-Duos Icona Pop und das Buch "Kolumbus Erbe" von Charles C. Mann über den globalen Austausch von Genpools infolge der Entdeckung Amerikas. (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und Tom.

FAZ, 27.12.2013

Kerstin Holm berichtet, wie der Komponist Helmut Lachenmann, derzeit zu Gast in Moskau, bei einem Konzert über die Freiheit sprach: "Frei sei (...) keineswegs, wen keine Pflichten oder Abhörnetze drücken, (...) sondern nur, wer, angestachelt von herzöffnender Neugier und vorwärtstreibender Furcht, schöpferische Gaben entwickle und Gefahren nicht scheue. Der Schillersche Selbsterziehungsappell des Tonkünstlers klingt in dieser Kultur, wo Freiheitsträume Verantwortungslosigkeit und Weltflucht imaginieren, doppelt provokativ."

Außerdem: Drehbuchautorin Mona Kino lernt beim Familientherapeuten Jesper Juul, wie Eltern besser mit ihren Kindern kommunizieren. Melanie Mühl berichtet von der World Innovation Summit for Health in Katar, wo sie nicht nur die Schönheit der Vorsitzenden Sheika Moza bint Nasser, sondern auch den Reichtum des Landes bewundert. Gert Loschütz verabschiedet sich von der Schriftstellerin Helga M. Novak. Außerdem empfiehlt die FAZ die besten Bücher zum Ersten Weltkrieg (hier ein Überblick beim Perlentaucher).

Besprochen werden Musikveröffentlichungen, darunter ausführlicher Aufnahmen des Pianisten Charles-Valentin Alkan, die Ausstellung "Neue Baukunst" im Landesmuseum Oldenburg, Martin Kušejs Inszenierung von Verdis Oper "La Forza del Destino" in München und Bücher, darunter Paul Nizons "Die Belagerung der Welt" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 27.12.2013

Thomas Steinfeld war in Kopenhagen auf der Premiere von Lars von Triers neuestem Filmkunst-Blockbuster "Nymphomaniac". Sonderlich erotisch ist der Film, dessen gewaltige Promo-Maschinerie vor allem den Sex-Aspekt herauskehrt, allerdings nicht: "An keiner Stelle zeigt der Film die Sexualität auf verführerische Weise. Er ist zwar pornografisch, (...) aber was es da zu betrachten gibt, ist faltig, krumm, behaart und von graugelber Farbe ... Lars von Trier will provozieren, ihn treibt die Hoffnung auf einen Schock, der wie eine Injektion klarsten Verstandes wirkt und von allem, was Illusion und Sentimentalität ist, nur das Konkrete übrig lässt."

Außerdem: Die Filmkritiker der SZ lassen ihre Magic Moments des Kinojahrs 2013 Revue passieren. Meike Fessmann schreibt den Nachruf auf die Schriftstellerin Helga M. Novak, Andrian Kreye den auf den Jazzmusiker Yusef Lateef. Bei Youtube gibt es eine Liveaufnahme aus Tokio:



Besprochen werden Christoph Marthalers in Basel aufgeführte Inszenierung von "Das Weiß vom Ei", Michael "Bully" Herbigs neue Komödie "Buddy", die Pierre-Huyghe-Ausstellung im Centre Pompidou und Bücher, darunter die Wiederveröffentlichung von Abbé Prévosts Roman "Manon Lescaut" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).