Fotolot

Das Intime und das Allgemeine

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
02.03.2020. Als ihre Mutter überraschend stirbt, fliegt Dimitra Dede von London ins 36 Grad heiße Athen, wo sie die eiskalte Stirn ihrer aufgebahrten Mutter küsst, von der sie sich zu Lebzeiten nicht mehr verabschieden konnte. Der heftige Unterschied zwischen der hitzeflirrenden Luft und der Temperatur des toten Körpers entspricht dem Ausmaß von Dedes Schmerz, den sie in ihrem Fotobuch "Mayflies" thematisiert.
Fotolot-Newsletter abonnieren

Die Gegenwart gehört seit einiger Zeit den Frauen: ihrem berechtigten Anspruch auf Gleichstellung und freien Zugang zu den gesellschaftlichen und ökonomischen Ressourcen. Diese Forderung spielt selbstverständlich auch in der Gegenwartskunst eine große Rolle. Historiker*innen durchforsten die Kunstgeschichte nach übergangenen oder nachträglich aus dem Kanon getilgten Künstlerinnen. Ausstellungen begeben sich auf die Suche nach dem "Female Gaze", der den weiblichen Körper von der sexuell motivierten Objektifizierung durch den patriarchalen, männlichen Blick befreien und tabuisierten Themen wie der Menstruation Raum geben soll.

Während Filmregisseurinnen nicht anders als Bildende Künstlerinnen bis vor nicht allzu langer Zeit ein eher randständiges Dasein führen mussten, stellt sich die Situation in der Fotografie anders dar. Von Diane Arbus bis Cindy Sherman, von Helen Levitt bis Sally Mann, von Berenice Abbott bis Bettina Rheims: die Fotografiegeschichte des 20. Jahrhunderts wurde nicht zuletzt von herausragenden Frauen geprägt.

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Fotografie innerhalb der Künste selbst ein gering geschätztes Dasein führte, ihr der Status als Kunst erst spät zuerkannt wurde. Ein weiterer Vorteil war der gänzlich unakademische Zugriff darauf: Erlernt wurde die Fotografie wie ein Handwerk, künstlerische Fotograf*innen waren nicht selten Autodidakten. Günstig war außerdem, dass es mit der künstlerischen Fotografie lange Zeit nichts zu verdienen gab und  - wenn man jene abzieht, die glauben, es stelle eine Kunst dar, ein Model oder einen Filmstar frontal abzulichten - im Grunde bis heute nur in Ausnahmefällen nachhaltig etwas zu verdienen gibt, ein Umstand, der es traditionell profitorientierten Herrenclubs leichter machte, (auch) Frauen das Terrain zu überlassen.

Diese Einführung soll deutlich machen, dass der aktuell auch in der Fotoszene in Publikationen und Ausstellungen zum Ausdruck gebrachte Ruf nach den "Frauen" und dem "Female Gaze" mit Vorsicht zu genießen ist. Denn Frauen, deren individueller Blick auf die Welt zu einem Meilenstein der Fotografie geworden ist, und die angehenden Fotografinnen als Role Model dienen können, gibt es genug.

Was es weniger gibt, sind gegenwärtige Fotografinnen, die es an Wucht und Intensität mit Arbus, Mann oder Susan Meiselas aufnehmen können. Das hat einerseits damit zu tun, dass beim künstlerischen Nachwuchs die Sehnsucht nach dem Safe Space deutlich größer ist als die anarchische Lust, ihn zu sprengen. Andererseits hat es mit dem Markt zu tun, in dem es nur um Erfolg geht. Und mit Kurator*innen, in deren um Zeitgeist-Diskurse kreisenden Vorhaben Künstler*innen meist nur die Rolle zufällt, sie in einem politisch relevanten und moralisch einwandfreien Sinn auszustatten.

Insofern stellt es einen Glücksfall dar, wenn man als Autor einer Kolumne wie "Fotolot" auf ein Werk trifft, dessen Beschaffenheit besondere Momente in Erinnerung ruft, als man Sally Manns Großformate oder Louise Bourgeois' Skulpturen zum ersten Mal in einem Museum sah.

Zu den seltenen Werken dieser Art gehört Dimitra Dedes Fotobuch "Mayflies".

©Dimitra Dede, Void






















Die grobkörnige, analoge Fotografie wird seit einiger Zeit von einer neuen Generation wiederentdeckt. Die malerischen Qualitäten, die sich in der Dunkelkammer, beim Drucken und beim nachträglichen Bearbeiten des Drucks erzeugen lassen, üben eine hohe Anziehungskraft aus. Der Athener Verlag "Void", der Dedes Buch publizierte, ist zu einer viel beachteten Anlaufstelle für Varianten geworden, die diesen ästhetischen Ansatz verfolgen, darunter bekannte Namen wie Antoine D'Agata und Michael Ackerman, aber auch angesagte Nachwuchskünstler wie Yorgos Yantromanolakis, der 2019 für sein drittes Buch "The Splitting of the Chrysalis" für den "Prix Pictet" nominiert war und gerade den "Foam Talent Award" bekam.

Yantromanolakis' Buch lebt vor allem vom experimentellen Gebrauch der angewandten Technik, die banale Dinge wie Sträucher und Steine in mysteriöse Gebilde und die kretische Landschaft in den schemenhaften Tagtraum eines Schamanen verwandelt. Interessant anzuschauen - für Betrachter, die eher von der Bildenden Kunst kommen wie ich, jedoch nicht so spektakulär und aufregend wie für jüngere Semester, die mit dieser Ästhetik kaum einmal in Berührung gekommen sind.

Dimitra Dedes "Mayflies" (hier die Website der Fotografin) ist aufgrund seines, das Intime und das Allgemeine verschränkenden Narrativs, das deutlich interessantere und intensivere Buch. Dass Dede im Gegensatz zu Yantromanolakis nicht förmlich von einer Ausstellung zur anderen getragen wird, hat einen banalen Grund: Sie ist sechsundvierzig Jahre alt und kommt für das Marktgeschrei um den neuesten heißen Scheiß, das im Zuge unzähliger Festivals und Wettbewerbe sinnbefreit entfesselt wird, schlicht nicht (mehr) in Frage.

Als ihre Mutter überraschend stirbt, fliegt Dede von London ins 36 Grad heiße Athen, wo sie die eiskalte Stirn ihrer aufgebahrten Mutter küsst, von der sie sich zu Lebzeiten nicht mehr verabschieden konnte. Der heftige Unterschied zwischen der hitzeflirrenden Luft und der Temperatur des toten Körpers entspricht dem Ausmaß von Dedes Schmerz über den erlittenen Verlust, dem sie sich jedoch nicht vorbehaltlos hingeben darf, da sie selbst Mutter dreier Kinder ist, denen sie auch in dieser schweren Stunde ein verlässlicher Halt sein muss.

In dieser emotionalen Ausnahmesituation, in der auch das Begräbnis keine Gelegenheit für die kathartische Auflösung des inneren Konflikts bietet, entsteht die Idee zu "Mayflies" - einem Fotobuch, in dem es um Mutterschaft, Empfängnis und Abschied, Liebe und Schmerz, Geburt und Tod geht, die das Denken und Fühlen einer Mutter unauflösbar mit dem Denken und Fühlen ihrer Kinder verbinden.

Das Buch ist geprägt von der Widersprüchlichkeit der Gefühle, bei der am Ende immer der reale, physische Verlust eines geliebten Menschen steht. Anders als die meisten Bücher, die sich in irgendeiner Weise mit Mutterschaft beschäftigen, stellt "Mayflies" nicht das Mutterglück und das Geschenk des Lebens zur Schau, sondern ist vielmehr eine dunkle Odyssee durch abgründige Gefühlswelten.

Dimitra Dede - "A Study of Mayflies" from void on Vimeo.

Als ich Dede gegenüber erwähne, dass es mich in seiner Schroffheit und Dunkelheit ein wenig an Agnes Vardas "Vogelfrei" oder Marina Abramovics "Balkan Baroque" erinnert, erzählt Dede, wie viel ihr Vardas Film bedeutet und wie überwältigt sie war, als sie ihn das erste Mal sah. Gleichzeitig liefert er ein gutes Beispiel dafür, wie sich ihr Blick mit der Verantwortung für ihre Kinder mit der Zeit gewandelt hat: "Als meine Tochter letztes Jahr dreizehn wurde, habe ich den Film mit meinen Kindern gemeinsam angesehen und dabei erkannt, wie sehr es mich verändert hat, nicht mehr nur für mein eigenes Leben verantwortlich zu sein. Als unabhängige junge Frau habe ich vor allem den Aspekt des radikalen, bis zur letzten Konsequenz betriebenen Auslebens der persönlichen Freiheit gesehen; mit den Augen einer Mutter hat es mich nun erschreckt, mir vorzustellen, mein eigenes Kind würde so enden: allein, verwahrlost, erfroren auf einem Feld."

©Dimitra Dede, Void





























Die todeskalte Stirn der Mutter; die erfrorene Vagabundin in "Vogelfrei" - es ist kein Wunder, dass Dede für diese Gefühlslage auf ihren Wanderungen durch die zerklüftete, von dunklen Höhlen durchzogene Gletscherlandschaft der Schweizer Zentralalpen eine visuelle Entsprechung fand. Auch die  - wie sie selbst sagt - Rabiatheit, mit der sie die Negative bearbeitete, ist da nur konsequent, und ergibt am Ende ein Fotobuch, dessen Sog man sich - sofern man sich darauf eingelassen hat - nicht entziehen kann.

Mit Mari Kataymas "Gift" und Sohrab Huras "Coast" gehört "Mayflies" zu den drei herausragenden Fotobüchern des Jahres 2019 - schlicht ein Must-Have für alle Liebhaber*innen und Sammler*innen.




Dimita Dede: "Mayflies". 112 Seiten, 22,5 x 32 cm, Softcover. VOID, Athen 2019, 42 Euro. ISBN 978-618-84341-3-4