Im Kino

Dringend erlösungsbedürftig

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
10.04.2007. Mit animalischem Geheul untermalt David in Bruno Dumonts jüngstem Film "Twentynine Palms" seinen Orgasmus. Aber er bleibt Selbstzitat. Ganz anders Robert Altman, der auch in seinem nachgelassenen Film "Last Radio Show" zur Sentimentalität unbegabt bleibt.
Bruno Dumont ist unter den europäischen Autorenfilmern der Gegenwart der große Primitivist. Mit seinem grandiosen Erstling "La Vie de Jesus" (1997), einer finster-lakonischen Beschreibung des Lebens von Jugendlichen in seinem eigenen Heimatdorf, dem nordfranzösischen Bailleul, hat er seinen Ton und seine Methode gefunden. Er arbeitet in der Regel nicht mit professionellen Schauspielern und wählt seine Laien vornehmlich nach ihrer Physiognomie. Charakterköpfe wie aus Breughel-Gemälden, gedrungene Körper, Gesichter oft, die den Blick faszinieren und abstoßen zugleich. Ohne Zeichen von Anteilnahme, ohne musikalische Akzentuierung oder Untermalung beobachtet Dumont in kargen Einstellungen unverwandt diese Menschen, die einander Wölfe sind, Menschen, die sich und einander quälen in ihrer Unfähigkeit, zu einer irgend verlässlichen Form von Gemeinschaft zu finden. Sie sind sprachlos, wie eingeschlossen in ihren Körpern und in der Welt, ohne Möglichkeit das auszudrücken, was sie fühlen.

In dieser als Mangel empfundenen Ausdruckslosigkeit liegen das Drama und die Wucht der Filme Dumonts. Der eindrücklichste Moment seines bisherigen Werks ist vielleicht jener, in dem - in "L'Humanite" (1999) - die das Leid und die Schuld der Welt auf ihren Schultern tragende Hauptfigur, der Polizist Pharaon de Winter, vor einem vorbeirasenden TGV in einen langen Schrei ausbricht, einen Schrei, der zum Ausdruck für diese Ausdruckslosigkeit wird, freilich einem Ausdruck, der niemanden rettet und für den Zuschauer im Lärm des Zugs untergeht. Immer wieder treffen bei Dumont Körper in hilflosen Gesten aufeinander. Körper, die Nähe suchen und Berührungen, finden beides aber nur in brutalem Sex und in Gewalt. Die Verwandlung dieses Begehrens nach dem anderen in ein Miteinander, in Sozialität misslingt. Dumont, der vor seiner Arbeit als Werbefilmer Philosophie studiert und unterrichtet hat, ist ein Analytiker, der in seinen Filmen auf Analyse verzichtet: "Mein Kino ist ein physisches Kino, es eliminiert alles, was mit dem Intellekt zu tun hat - Sprache, Erklärung, Analyse - und beschränkt sich auf das Begehren, sehr unmittelbare Dinge wie Lust, Rivalität, Eifersucht und Neid." (Im Interview mit dem Hollywood Reporter.)

Dumonts Filme sind keine Psychogramme und ins Register des Sozialrealismus gehören sie bei allem oberflächlichen Naturalismus nur zum Schein. Die Gewalt, die sie zeigen, wird weder psycho- noch soziologisch erklärt, sie gehört unverhandelbar zum Menschenbild dieses Regisseurs. Er führt nicht die Entstehung von Gewalt vor, sondern demonstriert, wie die Gewalt, die in der Welt ist, als Unfähigkeit, zivilisierte Umgangsformen mit sich und den anderen zu finden, ausbricht, oft unvermittelt und umso blutiger. Das bisschen zivilisatorische Haut, das über den einer unverstandenen Welt ausgelieferten Menschen liegt, schiebt Dumont in seinen Filmen zur Seite. Sichtbar werden rohe, schreiende, vergewaltigende, mordende - und darum dringend erlösungsbedürftige Bestien. Erlösung aber wird ihnen bestenfalls in von perversen Anteilen nicht freien Andeutungen zuteil, ein Kuss in "L'Humanite", ein unvermittelter Liebesschwur in der letzten Szene von "Flandres" (2006).

Wie es sich für einen Primitivisten gehört, hat Dumont in den drei Filmen, die er nach "La vie de Jesus" gedreht hat, Ton und Thema nicht etwa verfeinert, sondern ins immer Ungeschlachtere vergröbert. Damit aber ist auch das finster Reaktionäre seines Weltbilds von Film zu Film deutlicher geworden. Waren seine ersten beiden Filme noch sehr präzise verortet, eben in Dumonts Heimatdorf Bailleul, so hat er im nun sehr verspätet in die deutschen Kinos kommenden "Twentynine Palms" (2003) und in "Flandres" - letztes Jahr in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet - entschlossen die Ausweitung und Verallgemeinerung der Kampfzone gesucht. In "Twentynine Palms" schickt er seine ausnahmsweise von professionellen Schauspielern dargestellten Protagonisten, das Liebespaar Katia (Katia Golubeva) und David (David Wissak) mit einem Hummer-Geländewagen in und durch die kalifornische Wüste. Der Film ist ein Road-Movie mit wenig äußerer Handlung. Die beiden sind unterwegs, er ist als Fotograf auf Motivsuche. Sie spricht französisch, er englisch, sie streiten, sie schweigen, sie haben heftigen, aggressiven Sex. Im Swimmingpool, in der Wüste. David begleitet seinen Orgasmus mit animalischem Geheul.

Niemandsland ist der Raum, durch den Katia und David sich bewegen, in mehr als einer Hinsicht. Generisches Amerika und metaphysisches wasteland in einem. Buchstäblich steckt der Wagen einmal fest und sogleich wird das, fernab aller Zivilisation, zur Metapher einer Ausweglosigkeit, die in den letzten Szenen des Films ihren höchst schaurigen Ausdruck findet. Beinahe abstrakt bleiben Figuren und Raum - und in dieser auf alles Verrätseln verzichtenden, gerade dadurch rätselhaften Abstraktheit liegt eine unbestreitbare Faszination. Atmosphärisch meisterhaft, und wie viele Momente in "Twentynine Palms" haarscharf an der Grenze zum Horrorgenre gelegen, ist eine Szene in einer fast menschenleeren Kleinstadt. Aus dem Nichts drängt ein lärmender Wagen mit amerikanischen Rednecks bedrohlich ins Bild - und verschwindet wie spurlos gleich wieder. Später sieht man in einer Totalen von weit oben das Paar nackt auf einem Felsen, die Körper reglos wie Tiere der Wüste, übergegangen beinahe und aufgelöst in Natur. Dennoch macht es Dumont in "Twentyine Palms" - und mehr noch im die Selbstparodie endgültig streifenden Kriegsfilm "Flandres" - seinen zahlreichen Kritikern allzu leicht. Entortet ins amerikanische Niemandsland verlieren die Figuren ihre Ambivalenz zwischen Schuld und Leid und jene halsstarrige Haftung an den Raum, die es unmöglich machte, Dumonts Bailleul-Filme als bloße Übungen in tiefschwarzer Existenzphilosophie abzutun. Bewundern kann, wer mag, die Konsequenz, mit der Dumont seinen Hauptfiguren in "Twentynine Palms" Empathie und glücklichen Ausgang verweigert. Dennoch sind Katja und David nicht viel mehr als Chiffren und haben dem Umschlag des Dramas ins simpel Thesenhafte wenig entgegenzusetzen. Allzu reibungslos gelingt hier die existenzielle Aufladung der schematischen Grundsituationen. Die sprachlosen Körper erblassen im toten Raum der Wüste zu bloßen Begriffen. Der Mensch, sagen sie, ist dem Menschen ein Wolf. "Twentynine Palms" führt das drastisch vor Augen. Am Ende ist man bestürzt, aber nicht überzeugt.
("Twentynine Palms", Regie: Bruno Dumont)

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Kälte und Distanz zu den Menschen und Milieus, die er in seinen Filmen porträtiert, wurden stets auch Robert Altman unterstellt - und mal als Verzicht auf Hollywood-übliche Sentimentalitäten gelobt, mal als Mangel an Mitgefühl kritisiert. Einig waren sich bei seinem Tod im letzten Jahr aber fast alle, dass Altman über Jahrzehnte die große und unbeugsame Außenseiterfigur der amerikanischen Filmindustrie gewesen ist. Verglichen mit "Twentynine Palms" hat sein auf der letztjährigen Berlinale gezeigter, letzter Film nur leichte Verspätung in unseren Kinos. Die zuletzt öfter zu beobachtende Unsitte der deutschen Verleiher, die Originaltitel nicht durch einen deutschen, sondern einen anderen englischen Titel zu ersetzen, hat in diesem Fall immerhin einen sehr bestimmten Grund. Für das amerikanische Publikum nämlich klingt das Original, "A Prairie Home Companion", anders als für das deutsche, sehr vertraut. Es ist der Titel einer vor allem im mittleren Westen sehr populären Radio-Show, die der zerknautschte Entertainer Garrison Keillor (Foto) Woche für Woche vor Publikum moderiert und Samstag abends live sendet. Er beschwört in humoristischen Erzähl- und Musikeinlagen ein Amerika, das nicht mehr existiert. Freilich ist er clever genug, den fiktiven Charakter dieser Beschwörung dabei stets präsent zu halten. Das zeigt sich schon im nicht ganz unironisch gewählten Namen der Stadt "Lake Wobegon" ("Wobegon" ließe sich frei als "Leidervorüber" übersetzen), in der er seine Erinnerungen und Geschichten anzusiedeln pflegt.

Keillor spielt nun in - wie es der deutsche Titel will: - "Robert Altmans Last Radio Show" nicht nur sich selbst, sondern hat auch das Drehbuch für den Film geschrieben. Zu sehen ist im wesentlichen eine ganze Show, gezeigt wird das Geschehen vor und hinter den Kulissen. Zwar ist der Film im Fitzgerald Theatre von St. Paul gedreht, dem tatsächlichen Aufführungsort der Show, wenn sie nicht gerade auf Tour geht. Vom normalen Ablauf aber weicht die Filmversion nicht nur im Auftritt der vielen Stars - von Meryl Streep bis Lindsay Lohan, von Kevin Kline bis Tommy Lee Jones - ab. Vor allem nämlich hat Keillor sämtliche Hinweise auf "Lake Wobegon", im Grunde also den Kern des von ihm erfundenen Mythos, gestrichen. Und nur in der Fiktion erlebt die Show ihre letzte Ausgabe - in Wahrheit und Wirklichkeit wird sie noch immer produziert. Durch diese Rahmung aber steht alles unterm Zeichen von Abschied und Abgesang - durch den Tod Robert Altmans natürlich erst recht.

Der Film beginnt fulminant. Wie Kameramann Ed Lachmann sich durch ein wahres Spiegelkabinett von Garderobe schlängelt und Dopplungen einfängt auf allen Seiten, wie Altman seine Personen in Vorder- und Hintergründen inszeniert, das ist von hoher Virtuosität und ganz die alte Schule. Dann fährt die Kamera vom Unterbau des Theaters in einer Plansequenz auf die Bühne, dreht sich um ein paar der Figuren, blickt kurz ins Publikum, dann ein Schnitt und der Zauber ist dahin. Was folgt, ist eine Nummernrevue mit manchen großartigen, manchen etwas ermüdenden Nummern. Gelegentlich geht, als weißer Engel des Todes, Virginia Madsen hinter der Bühne durchs Bild. Konflikte werden entworfen, aber nicht sehr weit entwickelt. Alle erinnern sich an bessere Zeiten und haben Angst vor einer Zukunft ohne die wöchentliche Show.

Je länger das dauert, desto weniger scheint Robert Altman mit dem Herzen bei der Sache. Und nur auf den ersten Blick fügt sich der Film in sein Oeuvre, als Ensemblestück, an dem mehr das Zusammenspiel als die Einzelfigur, die Choreografie von Bewegung und Handlung als das ausgespielte Drama und die Konflikte interessieren. Zur Altman-typischen distanzierten Beobachtung lädt die ganze Angelegenheit nämlich kaum ein. Garrison Keillor hat naturgemäß nicht die analytische Zerlegung seiner seit mehr als drei Jahrzehnten erfolgreichen Unternehmung im Sinn, sondern, ganz im Gegenteil, die durch den fiktiv bevorstehenden Abschied noch einmal verschärfte Hommage an sich selbst. Altman aber war weder ein sentimentaler noch ein konstruktiv an Heldenmythen bauender Regisseur. Seine Stärken lagen im bösen, illusionslosen, kritischen Blick. Der verbietet sich in "Robert Altman's Last Radio Show" von selbst. So fährt Ed Lachmanns Kamera mit der Zärtlichkeit eines Rasiermessers über die zur letzten Show versammelte Gesellschaft. Man wartet, dass etwas passiert, aber Altman wagt keinen einzigen blutigen Schnitt. In seinen besten Filmen ist es ein Glück, dass er zur Sentimentalität gänzlich unbegabt ist. Seinem letzten Film gereicht es auf die Dauer zum Schaden.
("Robert Altmans Last Radio Show", Regie: Robert Altman)