Im Kino

Spät-spätromantische Musikwasserfolter

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
23.05.2007. In "Fluch der Karibik", Teil 3 werden Johnny Depp und sein Lumpen-Piratiat von Hans Zimmer versenkt. Rodrigo Moreno folgt in seinem Debütfilm "Der Leibwächter" einem quasi-autistischen Helden.
Der erste Teil von "Fluch der Karibik" erwischte die Welt auf dem falschen Fuß: Niemand hatte es für denkbar gehalten, dass ein Film, der sich ausgerechnet auf einen Walt-Disney-Themenpark als Vorlage beruft, anders ausfallen könnte als laut, dumm, witzlos und vorhersehbar. Und dann noch Piraten! Piratenfilme sind, das weiß jeder, ein programmiertes Desaster, zuletzt bekam das Renny Harlin mit "Cutthroat Island" (dt. "Die Piratenbraut") zu spüren, einem Film, der viel Studiogeld gründlich versenkte.



Aber alle, die da unkten, hatten die Rechnung ohne Captain Jack Sparrow gemacht, eine Figur, die es im Themenpark noch gar nicht gab. Johnny Depp verlieh dem armfuchtelnden, eigensüchtigen, wirren, aber dann auch wieder geistreich-genialen Piratenkapitän - bzw. zunächst Ex-Kapitän - so überzeugend Leben, dass nicht mal die bei komischen Rollen sonst gewohnheitsblinde Oscar-Jury darüber hinwegsehen konnte. Der eigentlich auch nicht geplante Nebeneffekt von Johnny Depps umwerfendem Auftritt war, dass die als Helden- und Liebespaar vorgesehenen eigentliche Stars des Films Keira Knightley und Orlando Bloom vom komischen Sidekick an die Wand gespielt wurden.

Nach dem riesigen Erfolg des ersten und dem - für ein Sequel höchst ungewöhnlich - noch viel riesigeren Erfolg des zweiten Teils hat man aus der Not längst eine Tugend gemacht. Keiner zweifelt mehr daran, dass Jack Sparrow die eigentliche Hauptfigur ist. Darum war sein Schicksal auch der Cliffhanger zwischen den von vorneherein als Doppelpack konzipierten Teilen zwei und drei. Elizabeth Swann (Keira Knightley) hatte Jack Sparrow in vorgetäuschter Liebe dem sicheren Tod im Schlund des Kraken ausgeliefert. (Wobei das Vortäuschen der Liebe wohl in der Absicht passiert ist, die tatsächlich vorhandene Liebe ein für allemal zu leugnen und zu überwinden.)



Jack Sparrow hatten wir uns also als mehr oder minder (schon wieder) tot vorzustellen in den Monaten, die zwischen der Kinoauswertung der Filme lagen. Auskunft über sein Schicksal wird zu Beginn des dritten Teils - Untertitel: "Am Ende der Welt" - erst einmal aufgeschoben. Es werden zunächst ein paar neue Protagonisten eingeführt, nämlich vor allem eine asiatische Piratengang, mit der nicht zu spaßen ist - diesmal war sich Hongkong-Star Chow Yun Fat als Sao Feng nicht zu schade für die Gesichts-Entstellungen, die die Filme den Nebenhelden prinzipiell angedeihen lassen.

Der etwas langwierige Beginn bereitet vor auf eine endlose Folge von Kämpfen um den Eintritt in Koalitionen, die den ganzen Film durchziehen. Mehr als einer wechselt hier, mit oft desaströsen Folgen, die Fronten, die sich nun in aller Klarheit auftun: zwischen dem britischen Imperium und der Piraten-Mischpoke, die in einem finster pittoresken Schiffswrack-Verschlag zusammenkommt, um aus dem üblichen Partialinteressen-Durcheinander eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Aus dem Lumpen-Piratiat soll eine Widerstandsgruppe werden, die der auf Vernichtung sinnenden Armada des Imperiums trotzen kann.



Als einer, der gegen den Wind und zwischen den Fronten kreuzt, ist dann natürlich sehr bald auch Jack Sparrow wieder im Spiel. Erst aber - und das sind die schönsten Szenen des sich danach in immer heftigeren Digitalturbulenzen verlierenden Films - muss er befreit werden aus einem schneeweißen und menschenleeren Salzsee-Jenseits. Sein Schiff liegt gestrandet im Kristallweißen, Sparrow halluziniert sich eine Besatzung zusammen, die - wie einst in "Being John Malkovich" - aus nichts als narzisstischen Projektionen seiner selbst besteht. Längst ist die Gang aber unterwegs in die Jenseitswelt, ihn zurückzuholen in die Kämpfe der Gegenwart. Und wenigstens die eine Szene, in der Sparrows Schiff sich auf Krabbenbeinen durch Sanddünen bewegt, lässt einem für einen Moment doch die Augen übergehen.

Dann aber folgen Kampf, Getöse und Hin und Her. So klar die Fronten sind, so zahlreich die Varianten des Verrats an Freund und Feind. "Pirates of the Caribbean: Am Ende der Welt" spielt sie, knapp drei Stunden Laufzeit wollen gefüllt sein, alle durch. Der Film wird zum Schlachtengemälde, für das ganz gewiss viele Computer sich zu Tode gerechnet haben. Höhepunkt des Gemetzels ist ein Schiffs-Zweikampf über finster drohendem Mahlstrom-Abgrund, den Komponist Hans Zimmer, unsubtil wie je, mit vollem Orchestereinsatz zu einem einzigen, nicht enden wollenden Pauken-und-Trompeten-Orgasmus werden lässt. Es ist die reine spät-spätromantische Musikwasserfolter.

Überhaupt kann es einem leid tun um diese Saga, die nach spaßigen Anfängen und dem eher zu Unrecht ungeliebten comichaften zweiten Teil nun mit bleischwer dröhnendem Schritt ihre Selbstmonumentalisierung erreicht hat. Witz, Geist, Schabernack, all das, was Jack Sparrow verkörpert, geht zuletzt in einer sinnlosen Materialschlacht verschütt.

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Und jetzt, mal wieder, zu etwas ganz anderem. Zu einem Film aus der Schule des neuen argentinischen Kinos. Die ist nicht für Krach berühmt, sondern für Stille, für genau komponierte Bilder, für eine Aufmerksamkeit fürs Detail, die in der Regel mit dem Verzicht auf plot points und äußere Handlung einhergeht. Rodrigo Morenos Debütfilm "El Custodio - Der Leibwächter" ist ein mustergültiger Vertreter dieser Schule, allzu mustergültig vielleicht.

Mit einem Bildausschnitt beginnt der Film: Wir sehen, durch den Spalt einer Tür zwischen Schwarz und Schwarz auf der Leinwand, einen Mann, der sich wäscht. Er macht sich, das sehen wir weiter, bereit für den Einsatz. Er ist, wir sehen das weiter, Ausschnitt um Ausschnitt, der Leibwächter eines hochrgangigen Politikers. Wir erfahren, was wir erfahren, über den Mann der bewacht wie über den bewachten Mann, noch manches, aber immer nur, und immer nur sehr gezielt: im Ausschnitt.

Das Bild eines größeren Ganzen jedoch wird konsequent verweigert. Wir folgen dem Helden Ruben (gespielt Julio Chavez, in seiner Heimat ein Star) durch sein berufliches Leben, aber auch ins private. Der Leibwächter hat eine Schwester, die hat eine Tochter, sie treffen sich in einem Restaurant, aber die Gesangsversuche von Rubens Nichte enden im Desaster. Der Politiker hat eine Geliebte und eine Tochter, die einem Freund im Auto unter der Beobachtung des Leibwächters einen runterholt. Es lässt sich vermuten: Sie spielt mit ihm, mit seinem Blick, seinem Begehren, das sich für die Funktion, die er bekleidet, nicht gehört.



Auch der Politiker selbst verfügt über den Mann, der ihn bewacht, nach Belieben. Mit dem trockenen Witz, den er - wenn auch allzu selten - zeigt, kommentiert der Film diese Rolle als Mädchen für alles in der Familie in einem sehr präzise gewählten Ausschnitts-Bild. Wir sehen durch eine Tür einen Teil der Küche und hören, wie die Frau des Politikers den Befehl gibt, ein Kleid zu bügeln. Es ist nicht klar, wen sie adressiert, man sieht nur sie, den Leibwächter und das Kleid, erst nach einigen Sekunden Verzögerung kommt ein Dienstmädchen ins Bild. Es ist aber nicht unbedingt so, als sei der Film darauf aus, im Betrachter Zorn zu mobilisieren, etwa auf den Politiker, der diese Form buchstäblicher Leibeigenschaft ausnutzt. Vielmehr verzichtet der Film auf jede Art von Positionierung, die sich vom Blick des Leibwächters unterscheiden ließe. Der einmal gewählte, immer wieder reproduzierte Ausschnitt wird nie geweitet, sei es auf gesellschaftliche Verhältnisse oder auf einen über die Alltagsmomente gehenden Plot.

Man weiß nicht, worauf "El Custodio" hinausläuft, mal abgesehen von seinem nicht sehr überzeugenden explosiven Ende. Man weiß noch nicht einmal, ob er überhaupt auf irgendetwas hinausläuft. Eher läuft er einfach, als sei es um des Laufens, des Ausschnitt-Beobachtens willen. Spannungserzeugung jedenfalls ist nicht, was er anstrebt. Die ständige Gefahr, die der Beruf des Helden nun einmal - wenn auch als Kehrseite von Langeweile und Ereignislosigkeit - mit sich bringt, bleibt derart latent, dass sie nur ganz gelegentlich spürbar wird. Wenn etwa das Funkgerät piept und keiner geht ran. Die Ausschnitthaftigkeit des Films ist so radikal, dass er einem nicht einmal eindeutige Hinweise gibt, wie der Mann, der sein Titelheld ist, all das versteht.

Mit einer Entschlossenheit, von der man nicht weiß, ob man sie noch atemberaubend finden soll oder nicht doch ziemlich enervierend, übt sich "El Custodio" in Empathieverunmöglichung. Der Held dieses Films, der kaum spricht, der wenig tut, das ihn sympathisch oder unsympathisch macht, bleibt einem radikal fremd, Ausschnitt für Ausschnitt. Wir sehen den Ausschnitt, aber wir sehen und erfahren nicht, was uns vorenthalten bleibt. Wir folgen der Bewegung der Geschichte, aber wir wissen nicht, wohin sie sich bewegt. Wir sind, man muss es sagen, sehr allein gelassen von diesem Film, der doch Minute um Minute den Eindruck vermittelt, er wisse, was er tut. "El Custodio" hat einen quasi-autistischen Helden. Sein Bemühen darum, nur nicht zu viel zu sagen oder zu zeigen, macht ihn aber selbst zu einem quasi-autistischen Film.


Fluch der Karibik: Am Ende der Welt. Regie: Gore Verbinski. Mit Johnny Depp, Orlando Bloom, Keira Knightley, Chow Yun-Fat, Geoffrey Rush, Bill Nighy, Stellan Skarsgard u.a., USA 2007, 169 Minuten.

El Custodio - Der Leibwächter.
Regie: Rodrigo Moreno. Mit Julio Chavez, Osmar Nunez, Marcelo D'Andrea, Elvira Onetto, Cristina Villamor u.a., Argentinien / Deutschland / Frankreich 2006, 95 Minuten.