Im Kino

Sehenden Auges

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
18.05.2007. Michael Caton-Jones' Ruanda-Drama "Shooting Dogs" will kein Meisterwerk sein, nur zeigen, was geschehen ist. In Gregory Hoblits "Das perfekte Verbrechen" geht es nicht um Rache oder Gerechtigkeit, sondern ums Rechthaben.
"Shooting Dogs" ist ein Spielfilm, der die Nähe zur Wirklichkeit sucht. Was er darstellt, ist, wie wir alle wissen, tatsächlich geschehen. Es geht um eines der schlimmsten Gräuel unserer Zeit: den Genozid in Ruanda, die Ermordung hunderttausender von Tutsis und gemäßigten Hutus durch eine fanatisierte Hutu-Armee und beträchtliche Teile auch der Hutu-Bevölkerung. Mit einer Ausnahme verzichtet der Film auf Dokumentarmaterial, im Abspann aber sucht er sehr direkt den Übergang zur Realität. Zu sehen sind Fotos von ruandischen Mitarbeitern am Set. Die Fotos auf der linken Seite sind vom Abspann-Schwarz der Leinwand gerahmt. Oft sieht man die Menschen auf den Bildern lachen, es scheint sich um Schnappschüsse zu handeln. Auf der rechten Seite werden die Namen der Abgebildeten genannt und es ist zu lesen, welche Angehörigen sie beim Genozid verloren haben. Wie sie selbst mit dem Leben davonkamen, etwa indem sie sich unter den Leichen von Geschwistern und Eltern versteckten. Man kann eine solche dem fiktionalisierten Geschehen nachgetragene Beglaubigung problematisch finden. Aber vielleicht ist die Frage eher: Hält der Film die so gesuchte Nähe zum Geschehenen aus?

Die Antwort lautet, allen Bedenken zum Trotz: im Grunde ja. Und zwar nicht deshalb, weil er ein Werk wäre, das avancierte Mittel und Formen sucht oder findet für die Darstellung des Grauens. Was für "Shooting Dogs" einnimmt, ist eher die Bescheidenheit, mit der der Film sich als Verständnishilfe gibt, um einem mehr als zehn Jahre nach dem Geschehen nur noch mäßig interessierten Publikum die Grundzüge dessen, was sich ereignet hat, zu erläutern. Mit Ausnahme eines kurzen Epilogs konzentriert sich die Handlung auf die wenigen Tage rund um den Beginn des Schlachtens und Mordens in den ersten Apriltagen des Jahres 1994. Im Zentrum des Geschehens steht eine Schule in der Hauptstadt Kigali, in der das belgische Kontingent der UNO-Blauhelme seinen Sitz hat, das in friedensbeobachtender, aber nicht -bewahrender Mission unterwegs ist. Als zentrale Figur der UN-Truppe tritt in der deutsch-englischen Produktion Dominique Horwitz auf (Rollenname Charles Delon), ein Soldat, der noch in den Momenten des klarsten Bewusstseins des moralischen Versagens nicht dem eigenen Gewissen, sondern dem katastrophal verfehlten UN-Mandat gehorcht. Denn die scheinbar feine semantische Differenz zwischen Friedensbeobachtung und Friedenswahrung ist der Unterschied ums Ganze der Bekämpfung oder Duldung des nach dem Mord an Ruandas gemäßigtem Präsidenten angefachten Genozids. (Der einzige Einsatz von Dokumentarmaterial zeigt am Ende eine UN-Sprecherin, die sich wortreich um die Bezeichnung "Genozid" drückt - die Anerkenntnis eines Völkermords nämlich hätte das Eingreifen völkerrechtlich unausweichlich gemacht.)

Die UN-Truppe darf nur schießen, wenn sie beschossen wird. Sehenden Auges müssen die auf dem Schulgelände eingeschlossenen Soldaten und die dann durchs große Gatter eingelassenen Ruander das Abschlachten vor den Toren des eigenen Asyls mitansehen. Sehenden Auges verlassen die Belgier die Schule und überlassen die zurückbleibenden Ruander ihrem nur zu gewissen Schicksal. Und mehr als das will "Shooting Dogs" gar nicht sein: ein sehendes Auge, das den Blick nicht abwendet von dem, was geschah. Dies Sehen und Vorführen geschieht mit den Mitteln ganz konventioneller Dramaturgie. An unsere - unserer Augen - Stelle tritt als Vertretung ein sympathischer Lehrer, der Engländer Joe Connor (Hugh Dancy), erst zu Scherzen aufgelegt, später nicht mehr. Auch die Märtyrer-Position ist besetzt, mit der Figur des katholischen Priesters Christopher (John Hurt gibt ihn als Schmerzensmann), der - vom Film übrigens mit Sympathie betrachtet - den Todgeweihten noch ein letztes Abendmahl verabreicht.

Man hat dem Film vorgeworfen, er gebe den Ruandern selbst keine Stimme, konzentriere sich wieder einmal nur auf die Rolle der Weißen. Das ist wahr, aber natürlich gerade der Punkt. Die Anmaßung, die Ereignisse aus ruandischer Perspektive zu schildern, liegt "Shooting Dogs" fern. Es geht um das Versagen des Westens, nicht die Klärung und Erklärung von Ursachen des Völkermords selbst. Auf diesen blickt der Film mit dem ungläubigen Entsetzen, das auch die westlichen Zeugen packt, als sie die machetenschwingenden Hutus bei ihren Untaten beobachten. Der Film ist sehendes Auge und führt nicht mehr vor als die Unmenschlichkeit, die darin liegt, den Blick abzuwenden von mörderischem Geschehen, das sehr wohl zu verhindern gewesen wäre. Und so sieht und zeigt "Shooting Dogs", ohne Sensationslust und zwar nicht subtil, aber doch einigermaßen dezent. Der Ethno-Soundtrack ist zuweilen schwer erträglich, auch die für die Kamera zurechtgelegten und -geschminkten Leichen führen die Grenzen des vom Film gesuchten Darstellungsrealismus so deutlich wie unfreiwillig vor Augen. Aber es ist klar: Der Film will kein Kunstwerk sein, nur zeigen, was gewesen ist und nicht hätte sein müssen.

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So sieht das perfekte Verbrechen aus: Ein sehr viel älterer Ehemann erfährt von der Affäre seiner Frau. Er lauert ihr zu Hause auf, schießt auf sie mit einem Revolver, schließt sich ein im Haus, täuscht so eine Geiselnahme vor und wartet auf den Verhandlungsführer der Polizei, der, wie der Ehemann weiß, just derjenige ist, mit dem seine Frau ihn betrog. Ihm gesteht er die Tat. Die Frau liegt im Koma, es kommt zum Prozess, alles scheint sonnenklar und nichts an diesem Verbrechen perfekt. Ganz im Gegenteil. Das sieht auch Willy Beachum (Ryan Gosling) so, ein atemberaubend erfolgreicher junger Anwalt, noch in Diensten des Staates, aber schon auf dem Sprung in eine hoch angesehene Kanzlei.

Hier aber kippt das Setting in die Moritat vom Hochmut, der vor dem Fall kommt. Das perfekte Verbrechen trägt das Gesicht von Anthony Hopkins und daran, dass wir an Hannibal Lecter, somit einen skrupellosen Arrangeur und Manipulator, denken sollen, besteht von der ersten Sekunde an gar kein Zweifel. Hopkins, könnte man sagen, channelt Hannibal Lecter, zitiert sich selbst und kopiert die längst mythische Figur ins Gerichtsthrillersetting. Besonderes Augenmerk legen Regisseur Gregory Hoblit und sein Ausstatter allerdings nicht so sehr auf die Gefängnis- und Gerichtsszenarien, sondern aufs Innenarchitektonische. Wieder und wieder wird Crawfords Villa durchsucht, wieder und wieder bewegt sich die Kamera genießerisch durchs perfekt arrangierte Mobiliar. Für Crawfords Intrigenvirtuosität gibt es ein mehr als einmal ins Bild gerücktes Dingsymbol, ein raffiniert getüfteltes Spielzeug, das eine oben eingelegte Kugel auf millimeter- und grammgenau berechneten Wegen nach unten rollen, kippen, sich wendeln lässt. Das ist die Stelle - wohl kaum eine Sollbruchstelle -, an der die Figur und auch der Film auseinanderfallen: ins Dämonische des in Hopkins' Spiel hineinzitierten Lecter-Vorbilds und ins Mechanische seines vorberechneten Plots.

Dazwischen laviert dieser Film und gegen diesen Zangengriff des Mechanisch-Dämonischen kämpft Willy Beachum, genauer gesagt: der Darsteller Ryan Gosling, mit den Mitteln des method acting. Wo die Kugel in Crawfords Laufwerk glatt und unbewegt läuft, da zappelt und zuckt Beachum/Gosling, um dem ihm vorbestimmten Schicksal zu entgehen. Einander gegenüber stehen so Bewegungs- oder auch Strategieprinzipien. Zum einen der unaufhaltsame Lauf in vorberechneter Bahn, zum anderen der Versuch, dem gottgleichen Intriganten in den Rücken zu fallen und die von ihm in Gang gesetzte und in Gang gehaltene Mechanik zu zerstören. Auf der Ebene des Plots führt das zu Twists und verlangt nach einer Raffinesse, die dem Drehbuch insgesamt aber fehlt. Eine Liebesgeschichte wird eingefügt, hat im Duell zwischen unbewegtem Beweger und gegenstrebigem Widerstand aber nichts verloren. Die Intrigenökonomie, die er sich zum Gegenstand wählt, besitzt der Film selbst nämlich nicht.

Erst recht seltsam wird es, sieht man von der schieren Mechanik ab, lenkt man den Blick vom Lauf der Kugel auf die diabolische Intention dessen, der sie in Gang setzt. Eigentümlich ist vor allem die Verschiebung der Vernichtungslust Crawfords, der seinen Hass ohne sichtbaren Grund vom Liebhaber der Ehefrau auf den Ankläger umlenkt - und zwar nicht, weil er Ankläger ist, sondern seiner Karriereaussichten wegen. Oder vielleicht sollte man gleich sagen: Crawford erteilt Lektionen, aber nicht so sehr moralischer Prinzipien wegen, sondern aus einer perversen Lust am Lektionenerteilen heraus. Der Zuschauer ist mit dem Motiv dieser Lektion - Bestrafung des Hochmuts - eine ganze Weile lang solidarisch; dann aber schlagen die Sympathien um.

Crawford erweist sich als einer, der nicht etwa die Rache - wie es zunächst scheint -, sondern das Rechthaben und Rechtbehalten genießt, als einer, dem das Mittel zum Zweck wird. Er ist ein Fallensteller, der die Falle mehr liebt, als das, was er in ihr fängt. "Ein perfektes Verbrechen" läuft, ganz Moritat, darauf hinaus, dass, wer dem anderen eine Grube gräbt, am Ende doch selbst in ihr landet. Fast liegt aber noch darin ein Triumph des perversen Crawford-Prinzips. Es geht nicht um Gerechtigkeit, sondern um die Mechanik der Intrige. Und zwar Beachum ebenso wie dem Film. Was beide im letzten Twist auskosten, ist die Bestrafung eben jenes Prinzips dämonischer Mechanik, auf dessen Seite sie sich, bewusst oder nicht, längst geschlagen haben. "Das perfekte Verbrechen" ist selbst ein Film, dem das Mittel der Plot-Mechanik zum Zweck wird. Man kann ihm das - in gewisser Weise: von Anfang an - ansehen, der Film selbst reflektiert es freilich nicht.


Shooting Dogs. Großbritannien / Deutschland 2005 - Regie: Michael Caton-Jones - Darsteller: John Hurt, Hugh Dancy, Dominique Horwitz, Claire-Hope Ashitey, Louis Mahoney, Nicola Walker, Steve Toussaint - Länge: 114 min.

Das perfekte Verbrechen. USA 2007 - Originaltitel: Fracture - Regie: Gregory Hoblit - Darsteller: Anthony Hopkins, Ryan Gosling, David Strathairn, Billy Burke, Rosamund Pike, Embeth Davidtz, Cliff Curtis, Fiona Shaw, Bob Gunton - FSK: ab 12 - Länge: 113 min.