Im Kino

Akt der Trauer

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
13.06.2007. "Buongiorno, notte", Marco Bellocchios Film über die Aldo-Moro-Entführung, ist eine komplexe Politerzählung aus dem Italien der späten siebziger Jahre. Eli Roths "Hostel 2" will schlitzen, ohne sich blutig zu machen.
Die Terroristin weint. Chiara (Maya Sansa) steht mit dem Gesicht zum Betrachter neben der Tür zu Aldo Moros (Roberto Herlitzka) improvisiertem Gefängnis. Eine Gruppe der Roten Brigaden hat Moro, den Vorsitzenden der italienischen Christdemokraten entführt, um einsitzende Gefangene freizupressen. Moro hat einen Brief geschrieben, an den Papst, den er um Vermittlung bittet. Dieser Brief ist seine letzte Hoffnung, er liest ihn den Terroristen vor und bittet sie um eine Kritik von Inhalt und Stil.

Chiara, die Terroristin, hört zu und weint. Die Szene ereignet sich eher gegen Ende des Films, dessen Zentralfigur Chiara ist. Es ist nicht ganz klar, ob es Tränen der Wut oder der Trauer sind, die sie weint. Wohl eine Mischung von beidem. Denn als Moro seinen bürokratisch steifen und hilflosen Brief vorliest, wird ihr klar: Er wird sterben. Der Papst wird nicht vermitteln, die Entführer müssen den alten Mann töten. Chiara ist wütend, weil ihm nicht zu helfen ist, weil sie ihm nicht helfen kann, weil es Verrat an den Kameraden wäre, ihm zu helfen, obgleich sie die Entführung als Fehler zu begreifen begonnen hat. Chiara ist traurig und wütend, weil ihr der Tod Moros sinnlos erscheint. Chiaras Tränen sind ambivalente Tränen, nicht Ausdruck von Sentimentalität. Es sind politische und nicht private Tränen, denn sie sind Ausdruck der Einsicht, dass das gewählte Mittel zur Durchsetzung der politischen Zwecke nicht taugt.

Und es ist diese Trauer, die der Filmemacher Marco Bellocchio, der bereits 1995 einen Dokumentarfilm zum selben Thema gedreht hat, offenkundig teilt. Etwas überflüssigerweise schreibt er noch eine Art Stellvertreter seiner selbst in den Film, einen jungen Mann, der an einem Stück schreibt, an dessen Ende Aldo Moro nicht sterben muss. Dieses Ende träumen zuletzt auch Chiara und der Film selbst herbei - Moro verlässt sein Gefängnis als freier Mann -, ohne es bei dieser kontrafaktischen Hoffnung doch zu belassen. Die Geschichte lässt sich nicht umschreiben, was geschehen ist, ist geschehen.

Darum ist "Buongiorno, notte" selbst ein Akt der Trauer, nämlich als Film über die italienische Linke, die sich zum Büttel der Rechten machen ließ, indem sie sich den eigenen Sympathisanten mit dem Mord an Moro selbst entfremdete und den Konservativen die ethische Überlegenheit gratis in die Hände spielte. (Tatsächlich sollen die Roten Brigaden von Agenten der CIA-Truppe "Gladio" unterwandert gewesen sein, die innerhalb der terroristischen Zellen zynisch für extreme Gewalttaten plädierten - um jenen Volkszorn heraufzubeschwören, der sich dann für die Rechte instrumentalisieren ließ. Darauf geht Bellocchio freilich nicht ein.)

Obwohl "Buongiorno, notte" die eigene Position sehr lesbar in die erzählte Geschichte einträgt, ist er alles andere als ein Pamphlet. Obgleich er sich in weiten Teilen auf die Wohnung als Handlungsort beschränkt, in der sich die Entführer mit ihrem Opfer verbergen, ist er kein Kammerspiel. Und er ist auch, trotz seiner Konzentration auf den Prozess der Veränderung, der in seiner Hauptfigur Chiara vorgeht, nicht einfach ein Psychodrama. Vielmehr öffnet er sich in Verfahren der Schichtung und Kontrastierung von Bildern und Stimmen, der Einarbeitung anderer Perspektiven und historischer Verweise zum komplexen Panorama einer Zeit.

Die Handlung ist simpel, folgt den bekannten Fakten: Die Roten Brigaden entführen 1978 Aldo Moro, halten ihn gefangen und bringen ihn nach fünfunfünfzig Tagen um. Bellocchio reichert diese Handlung jedoch so subtil wie unaufhörlich an: mit historischem Bildmaterial, das teils auf private Erinnerungen Chiaras verweist, teils aber auch auf die Geschichte der Linken. Mit manchmal rätselhaften Bildern aus Chiaras Träumen. Mit grotesken Szenen aus dem Vatikan, mit Fernsehbildern von Unterhaltungsshows, aber auch Politsendungen zur Moro-Entführung. Mit atmosphärischen Momentaufnahmen aus der Universität, die Chiara besucht.

In einer grandiosen Sequenz fängt Bellocchio mit dem Blick der Kamera aus einem Fahrstuhl eine Serie entsetzer Reaktionen von Studierenden ein, die vor etwas zurückschrecken, das im Rücken der Kamera liegt. Das wirkt wie aus dem Horrorfilm geborgt - an Stelle einer verstümmelten Leiche offenbart der Blick auf die bis dahin nicht sichtbare Kamerawand zuletzt aber nichts anderes als das noch feuchte Graffiti des Rote-Brigaden-Signets. Der einzige, der das Graffiti zu spät bemerkt, um noch den Weg durchs Treppenhaus zu wählen, wird später als Terrorismusverdächtiger verhaftet. Es ist ausgerechnet der Autor des Stücks, das auf Moros Tötung verzichtet.

Das formal Faszinierendste an Bellocchios Film ist die Unvermitteltheit, mit der seine Materialien miteinander in Kontakt bringt. In den Montagen etwa von historischer Aufnahme und rein subjektivem Traumbild, von Kammerspiel-Realität und Vatikan-Imagination entsteht ein Zugleich von Bewusstseinsstrom und Zeitströmung, ohne dass das auf den ersten Blick ganz konventionelle Erzählen je wirklich in Richtung Formexperiment überschritten würde.

In seiner politischen Entschiedenheit, in der Souveränität seiner Mittel und der Komplexität seiner Darstellung ist "Buongiorno, notte" dem historischen Ausstattungskino deutscher Provenienz (von Eichinger bis Breloer, von Donnersmarck bis Färberböck) turmhoch überlegen. Es hat vier Jahre gedauert und wohl des erneuten Aufflammens der RAF-Debatte bedurft, damit Bellocchios seit seiner Aufführung im Wettbewerb von Cannes 2003 viel gefeiertes Werk nun doch noch auf deutsche Kinoleinwände gelangte. Es war in diesem Jahr noch kein besserer und wichtigerer Film in unseren Kinos zu sehen.

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Ein amerikanischer Filmemacher denkt sich ein osteuropäisches Hinterland aus, dessen bestenfalls semi-humane Bewohner sich aufs Einfangen amerikanischer Teenager spezialisieren. Diese, die Teenager, werden dann wahlweise kopfüber aufgehängt und mit der Sense zerschlitzt, in Folterkammern meistbietenden amerikanischen Sadisten zur blutigen Zurichtung zugeführt oder gleich bei lebendigem Leibe verspeist. Eli Roths "Hostel 2" sieht sich offenkundig im Wettbewerb um möglichst hohe Ausschläge auf der nach oben offenen Skala des Untermenschlichen. Die genüsslich aufbereiteten Exempel werden dann an der Kinokasse als Wahrheit über das Wesen des Menschen verkauft. Nichts Bestialisches, sollen wir glauben, ist dem von Quentin Tarantino nach Kräften geförderten Nachwuchstalent Eli Roth fremd. Dabei ist das einzige, was hier auf den Hund kommt, die eigentlich doch sehr hübsche Idee von der befreienden Kraft der Transgression.

In Wahrheit ist diese Geschichte dreier junger Frauen, die sich ein paar schöne Tage in der Slowakei machen wollen, einfach von möchtegerncleverer Dümmlichkeit. Sehr möchtegern ist zum Beispiel die Kapitalismuskritik, die sich in der Unterstellung erschöpft, dass ein kleines, feines Kettensägenmassaker die Steigerungsform des Golfspiels mit den Geschäftspartnern ist. Und was soll daraus folgen, dass der Eisenhans auf seinem sadistischen Selbstfindungstrip sich schon beim ersten Sägeunfall als Schlappschwanz erweist? Noch viel möchtegerner ist der Rächerinnen-Feminismus, den sich der Regisseur, der auch Drehbuchautor ist, zum einen als grimmige Schwanzabschneiderei vorstellt, zum anderen als triumphierenden Übertritt der weiblichen Heldin auf die Seite des Bösen. Heraus kommt dann die emanzipatorische Konstruktion, dass schöne junge Frauen guten Grund bekommen, noch viel reicher und bestialischer zu sein als hässliche alte Männer.

Im Grunde traut sich dieser Film gar nichts. Vor allem nicht, den vorgeführten Humbug so ernst zu nehmen, dass sich wenigstens ein bisschen Schrecken einstellt. Von Anfang an wird einem signalisiert, dass das alles so, wie es aussieht, gar nicht gemeint ist. Umso weidlicher wird das Nicht-Gemeinte unter dieser ironischen Lizenz dann ausgekostet. "Hostel 2" will schlitzen, ohne sich blutig zu machen. Alles nur Schmerzimitat und augenzwinkerndes Horrorzitat, inklusive Gratis-Credibility-Anschafferei mit Hommagen an Tarantino und "Cannibal Holocaust"-Regisseur Ruggero Deodato. In Wahrheit aber nichts weiter als ein blöder, auf transgressiv umgespritzter Rückfall in die finsteren Zeiten der Postmoderne. Wird sich spätestens auf DVD super verkaufen.

Nachtrag: Der Film, den die Presse gesehen hat, wird nicht im Kino laufen. In dem Film, den deutsche Kinos zeigen, wird ein Kind nicht erschossen, ein Schwanz nicht abgeschnitten, ein Sägeunfall und vermutlich ein großer Teil der Schächtszene sind kassiert. Die FSK hat nur eine Schnittfassung freigegeben - für Kinobesucher ab 18 Jahren. Es fehlen ganze fünf Minuten. So wird, was "Hostel 2" im Umgang mit der Geschichte des eigenen Genres will, unkenntlich. Man muss, was der Film will, nicht gutheißen, um zu finden, dass sich jeder erwachsene Mensch da doch bitte selbst ein Urteil bilden können möge.


Buongiorno, notte - Der Fall Aldo Moro. Italien 2003 - Regie: Marco Bellocchio - Darsteller: Maya Sansa, Luigi Lo Cascio, Roberto Herlitzka, Pier Giorgio Bellocchio, Giovanni Calcagno, Paolo Briguglia - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 106 min.

Hostel 2. USA 2007 - Regie: Eli Roth - Darsteller: Lauren German, Heather Matarazzo, Bijou Phillips, Roger Bart, Jay Hernandez, Richard Burgi, Vera Jordanova, Stanislav Ianevski, Milan Knazko, Ivan Furak - Länge: 93 min.