Im Kino

Eine Geschichte wie ein Baum

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
09.08.2007. Mit ihrer Aborigine-Mythe "10 Kanus, 150 Speere und 3 Frauen" tappen die Filmemacher Rolf de Heer und Peter Djigirr in keine der bereitstehenden Ethno-Film-Fallen. Und Barbara Kopples und Cecilia Pecks Dixie-Chick-Doku "Shut Up & Sing" menschelt ein bisschen zu sehr, ist aber dennoch höchst lehrreich.
Am Anfang: Bilder von grünem, paradiesischem Wald- und Buschland, mit Seen und Sümpfen, von oben, aus der Perspektive einer gottgleich blickenden Kamera. Am Anfang: Die Stimme eines Erzählers (David Gulpilil), der ein allwissender Erzähler ist und von Mythen der Aborigines erzählt, dem Wasserloch, aus dem die Geister der noch nicht Geborenen in die Vagina der Mutter schlüpfen, dem Wasserloch, in das sie nach ihrem Tod zurückkehren, wartend auf ihre Wiedergeburt. Am Anfang: Der Erzähler, der mit einem "Es war einmal" beginnt, der dann lacht, über diese Formel lacht, der uns, die Zuhörer, und unsere Neugier, auslacht (wie es scheint) und der uns, das Nicht-Aborigine-Publikum adressiert: Ich erzähle eine Geschichte, aber es ist meine Geschichte, es ist nicht eure Geschichte.

Seine Geschichte beginnt (wie es scheint) mit zehn Aborigines im Sumpf. Sie sind aufgebrochen, um aus den Rinden von Bäumen, die fern ihres Lagers zu finden sind, Kanus zu bauen für die Gänsejagd. Die Kamera blickt jetzt - eine ganze Weile schon - nicht mehr von oben, sie ist auf Augenhöhe mit den Figuren. Die Bilder sind schwarz-weiß. Die zehn Männer bewegen sich durch den Sumpf, der Erzähler, der weiter spricht und bis zum Ende des Films immer weiter sprechen wird (als wäre es sein Film; nicht unser Film), stellt ein paar der Männer vor, nicht alle. Zu viele Namen, sagt er, keiner kann sich alle merken. Darüber hinaus ist das alles schon so lange her, was wir sehen, trägt sich zu viele, viele Generationen vor unserer Zeit. Es kommt, in der schwarz-weißen Geschichte, zu einem Gespräch. Ein älterer Bruder, der drei Ehefrauen hat, bekommt von einem jüngeren Bruder, der keine hat, Vorwürfe zu hören, dies gehe nicht gerecht zu. Der ältere Bruder hört es sich an und beginnt dann, eine Geschichte zu erzählen.

Diese Geschichte, in der es um einen älteren Bruder geht, der drei Ehefrauen hat, und einen jüngeren, der keine hat und sich beschwert, dass das nicht gerecht zugeht, liegt noch einmal, von der Gegenwart der tiefen Vergangenheit aus gesehen, weit, weit zurück. Beinahe, sagt nun der Voiceover-Erzähler, den wir schon kennen (er nimmt einfach den Faden des älteren Bruders auf, der die andere Geschichte zu erzählen begonnen hat), ist dies schon die Zeit der Gründungsmythen - aber nein, nicht ganz, denn die Bäume und Tiere haben schon Namen, die große Flut, mit der alles beginnt, ist bereits Vergangenheit.

Von dieser tiefen, dieser vorvergangenen Zeit erzählt nun der Film, und er wechselt dafür wieder zurück zur Farbe. Zwischen seine Erzählung aber schiebt er immer wieder - in Schwarz-Weiß - die Rahmenerzählung, die einher geht mit der Arbeit an den Kanus, einer Arbeit, das berichtet dann immer der Erzähler, die das Weitererzählen von Mal zu Mal unterbricht. Der jüngere Bruder in der jüngeren Vergangenheit beschwert sich - erzählt der Erzähler -, dass die Geschichte aus der vorvergangenen Zeit nicht schnell genug voran und vor allem nicht schnell genug auf den Punkt kommt.

Das ist wahr. Diese Geschichte um Ridjimiraril (Crusoe Curddal), den älteren Bruder, und Yeeralparil (Jamie Gulpilil), den jüngeren Bruder, führt eine Menge weiterer Figuren ein. Der Erzähler stellt sie vor, die Kamera zeigt frontal ihre Gesichter. Die Geschichte, die er erzählt, ist auch ihre Geschichte. (Nicht unsere Geschichte.) Den dicken Mann stellt er vor, der so gerne Honig nascht. Die drei Ehefrauen stellt er vor, die ältere, die mittlere und die junge. Auf die junge hat es Yeeralparil abgesehen, aber die mittlere unterbindet jeden Kontakt. Dann taucht ein Fremder auf. Dann verschwindet die mittlere Ehefrau und Ridjimiraril hat den Verdacht, der Fremde habe sie gewaltsam entführt. So entfaltet sich die Geschichte und der Erzähler gibt zu, diese Geschichte ist ein Baum, ein immer größer werdender Baum, der sich in Äste und Zweige entfaltet und was der Zuhörer braucht, vor allem der, den sie angeht (also der jüngere Bruder in der jüngeren, schwarz-weißen Vergangenheit), ist Geduld. (Für uns, die diese Geschichte nicht direkt angeht, vergeht die gewundene, sich windende Zeit des Erzählens dagegen fast wie im Flug.)

"Zehn Kanus, 150 Speere und 3 Frauen", der Film des vor einiger Zeit von den Niederlanden nach Australien ausgewanderten Rolf de Heer und des Aborigine-Regisseurs Peter Djigirr, ist, das dürfte klar geworden sein, ein Film über das Erzählen. Er nähert sich seinem Gegenstand auf erzählerischen Umwegen - und auch wenn er seinen Figuren sehr nahe kommt, bleibt immer die Distanz dieses Umwegs und die Distanz dieser Erzählerstimme, die mit dem Zuhörer (dessen Geschichte es nun mal nicht ist) spielt. Und obwohl der Betrachter Anteil nimmt an dem Geschehen, sich zu identifizieren beginnt mit den Figuren, bleibt die Distanz dieses Spotts, bleibt der Filter des sympathischen, aber eigensinnigen Erzählers.

Anders gesagt: "Zehn Kanus, 150 Speere und 3 Frauen" tappt in keine der vielen bereitstehenden Fallen. Seine Annäherung sucht nicht die Distanz einer vermeintlichen ethnografischen Objektivität, aber auch nicht die anteilnehmende Nähe der ethnografischen Filme Jean Rouchs. Sein Blick ist sehr direkt, aber durch den schelmischen Erzähler und seine Worte ist dieser Direktheit alles Auf- und Zudringliche genommen. Die Kamera ist selbst bewegliche Agentin, sie zeigt immer wieder nicht nur das, was (als Erzähltes) geschieht, sondern auch das, was die Figuren als das, was geschehen sein könnte, sich ausmalen. Der Blick exotisiert das Fremde nicht, aber er legt es uns auch nicht als uns allzu Ähnliches nah.

Der Film stellt, was er zeigt, unserem Interesse anheim, aber in der Vermittlerfigur des Erzählers (der womöglich weniger souverän ist, als er tut) stoßen unser Interesse und unsere Neugier auf eine Instanz, die wir nicht übergehen können. Wir wissen nicht, ob uns dieser Erzähler mit seiner Geschichte nicht gelegentlich auch veräppelt. Es ist ihm zuzutrauen. Und in der Anerkenntnis, dass ihm dies zuzutrauen ist, dass er allein uns diese Geschichte vermittelt (denn auch die Bilder scheinen nur über das Relais seiner Position zu uns zu gelangen), stoßen wir auf ein Fremdes, über das wir (unsere Neugier, unsere Fantasie, unser Wille zur Identifikation) nicht einfach so verfügen können. Es ist in der Tat nicht unsere Geschichte, die hier erzählt wird. Dass uns die Aneignung dieser Geschichte, in einer doppelten Geste der Verlockung und der Abwehr, unmöglich bleibt, bei allem Genuss, den uns das Zusehen und Mitgehen bereitet, darin liegt der Triumph dieses Films.

***

Als im Juni 2003 Natalie Maines, die Leadsängerin der amerikanischen Country-Frauenband Dixie Chicks auf einer Londoner Bühne verkündete, sie schäme sich, aus demselben Bundesstaat zu stammen wie US-Präsident George W. Bush, war das ein unfreiwilliges Experiment in angewandter Zielgruppenforschung. Es ist dieser Moment, den Barbara Kopples und Cecilia Pecks Film "Dixie Chicks. Shut Up & Sing" gleich zu Beginn dokumentiert. Man sieht, wie der Satz Natalie Maines eher so rausrutscht. Man sieht, im Kontext, den die Filmemacherinnen liefern, dass es angesichts der Londoner Anti-Kriegsdemonstrationen sogar ein ziemlich opportunistischer Satz ist. Man sieht, oder glaubt jedenfalls, weil man die Folgen schon kennt, das leise Erschrecken in Maines' Gesicht zu sehen, als ihr klar wird, was ihr da rausgerutscht ist - so klar einem so etwas mitten im Auftritt werden kann.

Gesagt aber ist gesagt. Und die Hölle bricht los. Das konservative Herzland der USA, dem die Dixie Chicks zu großen Teilen ihre Erfolge verdanken, ist aufgebracht und empört. Hier liebt man George W. Bush, zumal er als Kriegsherr bald darauf von Erfolg zu Erfolg zu eilen scheint und landesweit hohe Werte auf der Beliebtheitsskala erhält. Die Country-Radiosender boykottieren die Dixie Chicks, rechtsextreme Gruppen schüren den Hass, CDs werden in der Öffentlichkeit mit Planierraupen zermalmt, das ganze Empörungsprogramm läuft ab, der Sponsor Lipton wird, statt abwartend Tee zu trinken, unruhig.

Die drei Frauen aus Texas sind wie vom Donner gerührt. Das also ist ihr Publikum. Gemeinsam mit dem klugen Manager Simon Renshaw werden Widerrufs- und Reaktionsszenarien durchgespielt. Aber die Dixie Chicks tun, nach leisen Versuchen des Zurückruderns, dann doch, was keiner erwartet hat: Sie schalten auf stur. Gesagt ist gesagt und war so gemeint. Sie lassen sich für das auflagenstarke Unterhaltungsmagazin "Entertainment Weekly" nackt und mit "Verräter"-Tattoos gebrandmarkt fotografieren. Ihre Pressefrau hält das für nicht sehr klug und verschwindet sehr schnell aus dem Film. Es gibt Morddrohungen, in Dallas wagen sich die drei nur unter Polizeischutz auf die Bühne - und werden begeistert empfangen.

"Shut Up & Sing" ist, auch wenn er zwischendurch unangenehm menschelt und privatisiert, ein lehrreicher Film. Der einem zum Beispiel klar machen kann, wie segmentiert die US-Gesellschaft tatsächlich ist. Die Welt der (konservativen) Country-Musik und der entsprechenden Radiosender ist ein Ghetto, aber womöglich majoritär - schließlich sind beziehungsweise waren die Dixie Chicks die Band mit den meisten Plattenverkäufen der letzten zehn Jahre (und schließlich ist George W. Bush der zweimal hintereinander mehr oder minder demokratisch gewählte US-Präsident). Der Fall führt vor, was passiert, wenn aus dem Innersten dieses Ghettos heraus jemand sagt, was außerhalb alle Welt denkt. Politisch gesprochen: Der ganze intolerante Fundamentalismus wird sichtbar. Aufmerksamkeitsökonomisch gesprochen: Die Dixie Chicks werden erstmals für liberale Medien interessant, die natürlich auch ein Ghetto sind. Es handelt sich da offenkundig um gesellschaftliche Gruppen, zwischen denen es Austausch und Verbindung vor allem über sich gegenseitig stabilisierende Vorurteile gibt, auch das führt das Beispiel Dixie Chicks, führt dieser Film, der ganz aus dem liberalen Ghetto kommt, vor.

Und künstlerisch gesprochen: Rick Rubin erklärt sich bereit, die neue Dixie Chicks-Platte zu produzieren. Er ist im Film ein dicker Mann mit langem Bart, in dessen Wohnzimmer ein ausgestopfter Eisbär steht und dessen zotteliger Hund zur Musik des Meisters headbangt. Er ist aber auch der Mann, der Johnny Cash ein grandioses Karriereende verschafft hat, das Time Magazine - als dessen Titelgeschichte die Dixie Chicks natürlich auch irgendwann auftauchten - zählt ihn in diesem Jahr zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt.

Der Film erzählt, wider die aktuellen Platten- und Konzertkartenverkaufszahlen übrigens, eine Erfolgsgeschichte, oder auch: Er erzählt diese Geschichte als das Drama dreier lange recht ahnungsloser schwerreicher und erfolgsverwöhnter Frauen aus Texas, denen ein Realitätsschock zur künstlerischen und menschlichen und politischen Reife verhilft (und hervorragenden Kartenverkäufen in Kanada). Als Analyse taugt "Shut Up & Sing" also nicht so viel. Als Teil des Syndroms, das er beschreibt, ist der Film hoch interessant.

10 Kanus, 150 Speere und 3 Frauen. Regie: Rolf de Heer, Peter Djigirr. Mit Crusoe Kurddal, Jamie Dayindi Gulpilil Dalaithngu, Richard Birrinbirrin, Peter Minygululu, Frances Djulibing. Australien 2006, 91 Minuten.

The Dixie Chicks: Shut Up & Sing. Regie: Barbara Kopple, Cecilia Peck. Mit Natalie Maines, Martie Maguire, Emily Robison, Simon Renshaw, Rick Rubin, Adrian Pasdar, Richard Wilkins.
USA 2006. 88 Minuten.