Im Kino

Die Schrift ist ein Virus

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
27.12.2007. David Cronenberg konfrontiert in seinem Film "Tödliche Versprechen" Körper, Inschriften und einander sehr ferne Milieus - das Ergebnis ist eine hoch explosive Mischung. Und Pia Marais' erzählt in ihrem Spielfilmdebüt "Die Unerzogenen" von der großen Freiheit, als Teenager von den Eltern alleingelassen zu sein.
"Tödliche Versprechen", David Cronenbergs jüngster Film, erzählt von zwei Familien in London. Die eine Familie: Eine Mutter, eine Tochter, ein Onkel aus der unteren britischen Mittelschicht. Und die andere Familie: Ein Vater, ein Sohn, und ein Fahrer, höchste Kreise der russischen Mafia in London. Sehr unwahrscheinlich ist es, dass die beiden Familien einander begegnen, und doch geschieht genau das. Der Zufall nämlich will dies: Ein vierzehnjähriges Mädchen namens Tatiana (Sarah-Jeanne Labrosse), von Cronenberg wie ein von einem tödlichen Virus befallenes Wesen gefilmt, gebiert ein Kind und stirbt. Das Kind gelangt in die Obhut der Hebamme Anna (Naomi Watts), aber neben dem Kind auch ein Tagebuch, in russischer Sprache abgefasst. Annas Vorfahren stammen aus Russland, es gibt einen Onkel (gespielt vom Regisseur Jerzy Skolimowski), der aber weigert sich, aus dem Tagebuch zu übersetzen. Weil Anna die Karte eines Restaurants zwischen den Seiten findet, begibt sie sich dorthin und trifft auf den scheinbar gütigen Besitzer Semyon (Armin Müller-Stahl).

Damit aber hat sich die Kontamination ereignet, die Familien geraten in gesellschaftlichen Kontakt. Wie in einer Experimentalanordnung beobachtet David Cronenberg diese Konfrontation und ihre Folgen. Denn auch die vom Körper der jungen Tatiana abgelöste Sprache, die Schrift im Tagebuch, die Information,die es enthält, agieren wie ein Virus: Sie springen zuletzt über vom einen ins andere Milieu. Erst scheint es, als könne die Übertragung nicht gelingen, dann aber passiert sie doch, mit potenziell tödlichen Folgen. Der Körper, der tot ist, aber ein prekäres Leben und schwer zu entzifferende Schrift hinterlässt, wird von Cronenberg immer wieder als Voice-Over-Stimme mit Geigenmusik reanimiert - ein unerwarteter Zug dieses Films, der nicht nur hier ein Pathos des menschlichen Lebens artikuliert im Unterschied zu vielen früheren Filmen des Regisseurs, die eher ein Pathos des Post-Humanen auszeichnet.

Auf der einen Seite also der Körper des Mädchens, der ein Kind und eine Schrift "entbindet" - und so stirbt und doch als "Virus" weiterlebt. Die virale Schrift des Tagebuchs ist jedoch nicht die einzige Schrift in dem Film. Auf der anderen Seite nämlich gibt es die Körper der Russen, die selbst mit eintätowierten Bilder-Schriften und Hieroglyphen übersät sind. Früh im Film erleben wir einmal den rabiaten Versuch, die Lesbarkeit eines toten Körpers zu löschen: Der Fahrer Nikolai (Viggo Mortensen) schnippt mit der Gartenschere Fingerspitzen von einer aufgetauten Leiche. Und doch bleibt diese Leiche lesbar, wenngleich nicht ohne Ambivalenzen: die Tätowierungen weisen sie als Mitglied der russischen Mafia aus, jedes Tattoo hat etwas zu bedeuten, sagt etwas über Rang und Zugehörigkeit. Und darum taugt auch eine Leiche noch als Medium mindestens der minimalen Botschaft "nicht mit uns".

Zug um Zug entwickelt der Film knapp und präzise diese komplexe Konstellation der Körper und Schriften, der Berührungen und Lektüren, der klaren Schnitte und der unauflösbaren oder lange nicht aufgelösten Ambivalenzen. Alles kulminiert in der zu Recht jetzt schon klassischen Szene des Films: einem Hand- und Messer- und Schriftgemenge in einer russischen Sauna. Wir sehen einen gezeichneten Körper, der in Narben und Tätowierungen seine Heldengeschichte erzählt und wir erleben (nicht nur hier), wie sich diese Sorte lesbarer Erfahrung, sichtbarer Geschichte in einen Körper einträgt.

Auf dem Niveau dieser Komplexitäten, in einem höchst gefährdeten Schutzraum der Zärtlichkeit, erzählt der Film dann von den zwei Körpern, die von der ersten Begegnung an zueinander wollen: vom äußerlich makellosen, weichen Körper der Hebamme Anne (die in Wahrheit selbst gezeichnet ist, als Mutter, die ein Ungeborenes verloren hat) und dem mit Bilder-Schrift übersäten, harten Körper des Fahrers und Mafia-Schergen Nikolai (der trotz seiner Lesbarkeit für alle Beteiligten ein undurchsichtiges Faszinosum bleibt). Was zwischen diesen beiden Körpern ohne jede Familienähnlichkeit geht - und was nicht -, wie sie einander zwischen viraler Kommunikation und tödlichem Schriftverkehr am Motorrad begegnen, davon handelt im Kern David Cronenbergs Film.

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Im Hintergrund das Rauschen der Autobahn. Im Vordergrund schneidet Lily (Pascale Schiller) ihrer vierzehnjährigen Tochter Stevie (Ceci Chuh) die Haare. Lilys Hände zittern. Die beiden sind unterwegs, wir wissen nicht, woher, wir wissen nicht, wohin. Es ist die erste Szene des Films "Die Unerzogenen". Er handelt von Menschen, die keinen Plan haben.

Sie sind dann da. Im Garten eines Hauses. Sie warten, sie schleichen herum, dann wirft Lily einen Stein durchs Fenster, Mutter und Tochter steigen ein. Dies zeigt die Handkamera, immer hinterher, nie vornedran, als habe auch sie keinen Plan. Es wird dann das folgende passieren: Der Vater Axel (Birol Ünel) taucht auf, aus dem Knast. Freunde, Kumpel sind ebenfalls da. Man spricht englisch. Man nimmt Drogen. Man sitzt auf der Couch im Garten. Man ist unterwegs, nach Belgien, es geht wohl um den Kauf oder Verkauf von Drogen, so ganz genau erklärt wird das nicht. Etwas verbindet Stevie mit Ingmar (Georg Friedrich), sie necken sich, sich schlagen sich und einmal, in der stärksten Szene des Films, haben sie, aber beinahe nur, etwas wie Sex. Im Hintergrund das Sirren einer Mücke. (Immer etwas im Hintergrund, das Rauschen, das Sirren, Unordnung auf der Tonspur, da bedürfte es der Musik, die auch bei Gelegenheit einsetzt, fast gar nicht mehr.)

"Die Unerzogenen" ist Stevies Film, um sie geht es, sie ist das Zentrum. Das ist eine gezielte Verschiebung - denn für die Eltern und deren Freunde, die wie restlos ermüdete Tornados ihre kleinen, chaotischen Kreise durch Europa ziehen, ist Stevie immer nur irgendwie mit dabei. Im Hintergrund, wie das Rauschen der Autobahn, das Sirren der Mücke. Und doch ist da auch irgendwo Liebe, als hilfloser Anfall bricht, von Zeit zu Zeit, eine Art Zuneigung aus den Eltern heraus. Bald aber haben sie wieder andere Sorgen, sind auf einem anderen Trip, lassen Stevie völlig im Stich. Sie setzt sich mit Trotz zur Wehr. Sie sucht sich, mit Tricks, Geld und Lügen, ihre eigenen Freunde. Sie erzählt ihnen einen Familienroman von wahren Eltern in Brasilien.

"Die Unerzogenen" ist ein Film über die Freiheit, die sich verflüchtigt, wenn sie zu groß ist. Stevie ist frei, alleingelassen zu sein. Sie ist frei, über den Trotz sich zu definieren, der bleibt, und der beinahe das einzige ist, woraus sie ihren Eigensinn formen kann. Eigensinn, Trotz, Widerstand, das ist die harte Legierung ihres Gemüts. Der Film verzichtet auf ausdrückliche Gesten der Solidarisierung mit der Figur, die er ins Zentrum stellt. Sie in den Fokus zu nehmen, ist Solidarität genug. Der Film verzichtet auch auf die Denunziation der Truppe ohne Plan, mit der Stevie als Teenagerin zurande kommen muss. Was aus Stevie wird, ist nicht gesagt. Das Drehbuch lässt ihr die Freiheit, eine offene Zukunft zu haben.

Tödliche Versprechen - Eastern Promises. Großbritannien / Kanada 2007 - Originaltitel: Eastern Promises - Regie: David Cronenberg - Darsteller: Viggo Mortensen, Naomi Watts, Vincent Cassel, Armin Mueller-Stahl, Sinead Cusack, Jerzy Skolimowski.

Die Unerzogenen. Deutschland 2007. Deutschland 2007 - Regie: Pia Marais - Darsteller: Ceci Chuh, Birol Ünel, Pascale Schiller, Georg Friedrich, Joana Preiss, Joseph Malerba, David Könen, Johanna Gastdorf, Dieudonne Kabonga, Madlene Niesyt