Im Kino

Gefesselter Blick

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
26.03.2008. Julian Schnabels Film "Schmetterling und Taucherglocke" fesselt erst unseren Blick an den seines völlig gelähmten Helden - und macht es sich am Ende doch zu leicht. Ryan Flecks Film "Half Nelson" hat einen grandiosen Ryan Gosling als drogensüchtigen Lehrer zu bieten und ist nicht didaktisch, sondern dialektisch.
Aus heiterem Himmel trifft den 43 Jahre alten Elle-Chefredakteur Jean-Dominique Bauby der Schlag. Julian Schnabels Verfilmung von Baubys autobiografischem Bericht "Taucherglocke und der Schmetterling" aber beginnt nicht damit, sondern mit Baubys Erwachen, einer Wiedergeburt wie ein Höllensturz. "Sie sind im Krankenhaus", sagt man ihm. Er blickt verstört in die Welt, er blinzelt und stellt fest: Er versteht, was gesagt wird, aber er kann sich weder bewegen noch kann er sprechen. Er ist an einen Körper gefesselt, der nicht mehr tut, was er, Jean-Dominique, will.



Der Coup des Beginns von Julian Schnabels Verfilmung des autobiografischen Buchs von Bauby ist dieser: Er zwingt uns die Perspektive des Protagonisten auf. Wir sehen nicht ihn, sondern wir sehen, was er sieht. Die Kamera (von Steven Spielbergs Kameramann Janusz Kaminski) nimmt die Stelle des verstört Blickenden ein und gibt sich gefesselt wie er. Die Umrisse einer Umwelt, die in Fehlfarben verschwimmt, sind mal scharf und mal unscharf. Wenn Jean-Dominique blinzelt, senkt sich ein Augenlid über die Leinwand und sie wird schwarz. Wenn gleich darauf ein Auge zugenäht wird, sehen wir die Nadel, den Faden, das schwindende Licht. Vom Gegenteil aber, davon, dass das Licht nicht schwindet trotz allem, davon erzählt in Bildern, die nichts Düsteres haben, dieser Film.

"Locked-In-Syndrom" ist der wissenschaftliche Name für einen Sachverhalt, an dem kein Arzt etwas ändern kann. Keinen Teil, kein Glied seines Körpers hat Jean-Dominique unter Kontrolle - nur sein linkes Auge und dessen Lid. Damit aber eröffnet sich eine ganze Welt. Einmal blinzeln heißt ja, zweimal blinzeln heißt nein. So kann er, ja blinzelnd, nein blinzelnd, reagieren und durchs Reagieren aufs vorgesagte Alphabet mühsam auch wieder Buchstaben zu Worten und Worte zu Sätzen formen. Im ersten Satz teilt er seiner Therapeutin dann erst einmal mit, dass er sterben will. Dieser Wunsch wird vergehen, "Schmetterling und Taucherglocke" wird, je länger er dauert, desto mehr zur Hymne aufs Leben.



Dagegen wäre nichts zu sagen, machte es sich der Film mit dieser Botschaft nach dem so viel versprechenden Beginn nicht allzu leicht. Schnabel springt bald genug aus der Bauby-Perspektive um in die filmische Darstellungsnormalität. Überhaupt wird der doch sehr relative Wiedergewinn einer vom Geist dem Körper abgerungenen Freiheit ästhetisch verdoppelt und -dreifacht. Dazu gehört, dass Bauby am Krankenbett umgeben ist von schönen Frauen sonder Zahl. Von Krankenschwestern, Therapeutinnen, der Mutter seiner Kinder. Der Film nähert sich seinem bewegungsunfähigen Helden (nun: Mathieu Amalric) von außen und lässt ihn so in seiner Gefangenschaft zurück. Die strenge Bindung ans Erzähler-Ich wird gelöst und die Grammatik der Filmsprache weitestgehend konventionalisiert.

Die Metaphern des Buch- und des Filmtitels werden recht schlicht visualisiert - wieder und wieder sehen wir Bauby als Mann in der Taucherglocke, verloren in tiefer See. Zugleich macht er aus seiner hoffnungslosen Lage aber das beste. Er träumt sich davon in Erinnerungen und in die Fantasie. Und er beginnt, mit Hilfe der Augenlidkommunikation ein Buch zu "schreiben" über sein Leben. (Darauf beruht eben dieser Film, den Bauby, der kurz nach Veröffentlichung seines Buches starb, allerdings nicht mehr zu sehen bekam.) Gerade weil Schnabel zu Beginn so tut, als suche er nach einer adäquaten Darstellungsform für den unermesslichen Schicksalsschlag, ist die Leichtigkeit, mit der der Film sich die banale Konventionalität des gefälligen Arthouse-Kinos zurückerobert, eine arge Enttäuschung. Er macht, was inkommensurabel ist, nur allzu kommensurabel. Er nutzt die Fesselung seines Helden zur Entfesselung von Zuschauer-Gefühlen, etwa in kleinen melodramatischen Miniaturen wie der um Baubys Geliebte, die sich nach langem Schweigen telefonisch meldet in Gegenwart der von Bauby verlassenen Ehefrau. Die Trauer, das Glück, die Hymne aufs Leben - all das liefert Julian Schnabel, gegen den ersten Anschein, zuletzt einfach frei Haus.

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Dan Dunne (Ryan Gosling) ist ein großartiger Lehrer, das führt Anna Bodens und Ryan Flecks Spielfilmdebüt "Half Nelson" zu Beginn eindrucksvoll vor. Er unterrichtet die Geschichte amerikanischer Bürgerrechtsbewegungen und als ihn seine Schüler fragen, ob nicht auch er als Lehrer Teil der allgemeinen Unterdrückungsmaschinerie ist, kann er das nur bejahen. Geschichte, lehrt er, ist Dialektik, ist gesellschaftlicher Wandel im Kampf der Gegensätze, die es zu überwinden gilt. Gegensätze wie die zwischen Mann und Frau, Schwarz und Weiß. Oder Schüler und Lehrer.

Das ist aber nur die eine Seite von Dan Dunne. Mit der anderen sieht sich bald seine Schülerin Drey (Shareeka Epps) konfrontiert. Sie findet ihn, kaum zurechnungsfähig, auf der Mädchentoilette. Er hat sich mit Crack zugedröhnt, sie kühlt ihm die Stirn und sie verrät ihn nicht. Es zeigt sich schnell: Auf einen simplen Gegensatz lassen sich die beiden, weißer Lehrer und schwarze Schülerin, nicht reduzieren. Dreys Bruder sitzt im Gefängnis, der Drogenhändler Frank (Anthony Mackie) kümmert sich um Drey und zieht sie in seine Geschäfte. So wird aus dem Gegensatz ein seltsam symmetrisches Verhältnis. Als Abhängiger verliert Dan die Autorität, die er als Lehrer hat. Drey, deren Mutter als Polizistin selten zuhause ist, wird für Dan eine Freundin und Dan wird für Drey ein Freund, der sich in ihr Leben einmischt.

Dass er das Schematische - und auf den ersten Blick auch reichlich Unglaubwürdige - dieser Konstruktion aufbricht, ist die große Leistung dieses Films. Es gelingt ihm, weil er auf elliptisches Erzählen setzt, wenig aus- und zu Ende erklärt und es trotz massiven Handkamera-Einsatzes mit der Nähe zu den Figuren nicht übertreibt. Er rückt an sie heran und springt wieder weg. Er zeigt sie als Menschen, die auch nicht genau wissen, wie ihnen geschieht. Dan ist ein toller Lehrer und auch ein Arschloch. Ein Träumer und ein Versager, einer, der die Welt verändern möchte und sich völlig sinnlos zugrunde richtet. Drey lässt sich, gegen ihren Willen eigentlich, in die Drogengeschäfte von Frank hineinziehen, verharrt am Rande, bleibt oft passiv.

Vor allem aber überzeugen die beiden Hauptdarsteller Ryan Gosling (im letzten Jahr für diese Rolle Oscar-nominiert) und die Debütantin Shareeka Epps. Beide sind ganz frei von allen Indie-Manierismen, beiden gelingt es, nur das Nötigste zu tun, ihre im besten Sinn komplizierten Figuren geradezu skizzenhaft hinzuwerfen und ihnen gerade so ein Eigenleben jenseits des Konstruktionsschemas zu geben. Der Titel des Films verdankt sich dem Namen für einen Ringergriff, bei dem der eine Kämpfer den anderen auf den Boden drückt. In ironischer Weise beschreibt "Half Nelson" so eine Situation, in der Annäherung zwischen den Gegensätzen möglich scheint, ohne dass daraus schon Lösungen für die vielfach verfahrene Lage entspringen.

Schmetterling und Taucherglocke. Frankreich / USA 2007 - Originaltitel: Le scaphandre et le papillon - Regie: Julian Schnabel - Darsteller: Mathieu Amalric, Emmanuelle Seigner, Marie-Josee Croze, Anne Consigny, Patrick Chesnais, Marina Hands, Max von Sydow

Half Nelson. USA 2006 - Regie: Ryan Fleck - Darsteller: Ryan Gosling, Shareeka Epps, Anthony Mackie, Monique Curnen, Karen Chilton, Jeff Lima, Tyra Kwao-Vovo, Rosemary Ledee, Tristan Wilds, Bryce Silver, Kaela C. Pabon, Stephanie Bast

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