Im Kino

Selberautobahnreisen

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
18.06.2008. Auf den Spuren von Julio Cortazar und Carol Dunlop sind wir in "Lucie et Maintenant" auf den Autobahnrastplätzen der autoroute de soleil unterwegs. Der Dokumentarfilm "Über Wasser" berichtet von sehr unterschiedlichen Wasserproblemen in Bangladesch, Kasachstan und Kenia.

Im Jahr 1982 setzten der Schriftsteller Julio Cortazar und seine Lebensgefährtin Carol Dunlop einen schon seit längerem gehegten Plan um in die Tat. Sie machten sich mit ihrem knallroten VW Camper-Bus - dem sie den Namen des nibelungenschatzbewachenden Drachen Fafnir gaben - auf die Reise und fuhren von Paris nach Marseille. Über die Autobahn A7, die autoroute du soleil. Es wurde keine gewöhnliche Fahrt und sollte es auch nicht werden. Es gab nämlich von vorneherein feste Regeln und die zentrale Regel war diese: Auf der gesamten Strecke würden sie an jedem Rastplatz halten und auf jedem zweiten übernachten. Es müssen sechsundsechzig Rastplätze gewesen sein, damals, auf der Autobahn zwischen Paris und Marseille, denn die beiden waren dreiunddreißig Tage unterwegs. Hatten vitaminreiche Nahrung eingepackt aus Angst vor Skorbut (sie verglichen ihre Fahrt mit den großen Entdeckungsreisen der Vergangenheit). Ließen sich zwischendurch von Freunden versorgen, hielten sich sonst aber ausschließlich ans auf den Rastplätzen gegebene Nahrungsangebot. Ungewöhnlich an der Reise auch: Die beiden, Cortazar, Ende sechzig, und seine dreißig Jahre jüngere Freundin waren, was sie wussten, todkrank. Dunlop starb noch im selben Jahr (an Leukämie). Das Buch zur Reise - "Die Autonauten auf der Kosmobahn" -, das Texte von beiden enthält, viele Bilder und auch eine fiktive Rahmengeschichte, hat Cortazar alleine fertiggestellt. Dann starb, 1984, auch er.


Fünfundzwanzig Jahre später reist ein junges französisches Künstlerpaar, Oceane Madelaine und Jocelyn Bonnerave, auf derselben Strecke mit denselben Regeln auf den Spuren der Vorgänger. Wiederholung mit Differenzen: Der VW Bus ist nicht rot, sondern weiß und er hat auch keinen Namen. Und der Weg, der einst durch die Regeln gebahnt war, ist nun doppelt gebahnt: Man folgt nicht der Regel, sondern den Vorgängern, die den Regeln folgten. Die beiden Nachfahrer kennen, natürlich, das Buch, in dem die Originalfahrt dokumentiert ist. Sie zitieren gelegentlich daraus, sie blättern darin, sie vergleichen die Eindrücke von 1982 mit denen der Gegenwart. (Die Bäume, die klein waren damals, sind jetzt groß und hoch, ja, herangewachsen zum Wald.) Man kann Madelaine und Bonnerave beim Wiederholen, Vergleichen und Selberautobahnreisen zusehen, denn sie sind die Protagonisten in einem Film, den Simone Fürbringer, Nicolas Humbert und Werner Penzel gedreht haben. Wie sich alles genau verhält - wie spontan alles ist, ob die Texte, die man per Voiceover hört, die Dialoge, die die beiden im Film sprechen, Drehbuchzeilen sind oder improvisiert: man weiß es nicht. Abgesehen von einigen Stellen, an denen tatsächlich vorgelesen wird oder zitiert. Deleuze/Guattari, zum Beispiel, über Nomadologie. Oder ein eher dämlicher deutscher Text über die Metaphysik des Wohnens, man erfährt nicht, von wem. (Man erfährt so vieles nicht, eine seltsame Gleichzeitigkeit von Text- und Blickproduktionslust und Verweigerungshaltung. )


Absurd war schon die Reise von Dunlop und Cortazar, unternommen im Bewusstsein ihrer Absurdität und gewendet ins spielerische Entdecken von poetischen und sonstigen Reizen im Angesicht des eigenen Todes und ausgerechnet am Rande der Autobahn. Man sollte von ihren Wiedergängern einen strengen Konzeptfilm erwarten, aber genau das ist "Lucie et Maintenant" nicht. Viel eher ist der Film impressionistisch. Es geht ganz - im guten und ein bisschen auch im schlechten Sinne - naiv um die fast schon wieder gewaltsame Verzauberung und Wiederverzauberung eines transitorischen Nicht-Orts, wie es die Autobahn und der Autobahnrastplatz ist. Die Kamera hält zitternd und im Zittern doch auch wild entschlossen fest, was verweht und vergeht, vorüberrollt und vorüberkriecht: Plastikflaschen, Kaffeebecher, Raupen, Katzen, Vögel. Die beiden Protagonisten beobachten und behandeln Automaten wie Wunderdinge. Sanft und zart und in ihrer obstinaten Sanftheit schon auch in sich selbst verliebt sind die Blicke, die fallen. Sieh, wie der Kaffee fließt. Schau an, man kann eine Schuhputzmaschine zum Rhythmusinstrument umfunktionieren. Dazu gibt es, mitunter selbstgemachte, mitunter eingespielte Musik vor Autobahnrauschhintergrund. Manchmal gelingt die Verzauberung durch Gegenwartsemphase, die "Lucie et Maintenant" so unbedingt will. Manchmal aber, und je länger der Film dauert, desto öfter denkt man sich, dass man einen scheißhässlichen Ort wie einen Autobahnrastplatz auch mal einen scheißhässlichen Ort sein lassen muss.

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Der Titel verspricht nicht zu viel und auch nicht zu wenig: "Über Wasser". Genau darum geht es, in Triptychon-Form. Über Wasser eins: Bangladesch. Über Wasser zwei: Kasachstan. Über Wasser drei: Kenia. Über Wasser eins, Bangladesch: Zu viel Wasser. Über Wasser zwei, Kasachstan: Zu wenig Wasser. Über Wasser drei, Kenia: Zu teures Wasser. Die Kamera nimmt uns mit auf die Reise.

Also sind wir in Bangladesch. Wasser frisst das Land und Grund und Boden, von denen die Bewohner des am dichtesten bevölkerten Landes der Erde leben. Beweglich sind alle Güter, die sie besitzen. Die Häuser vor allem: Stange, Stange, Decke, Wand; alles komplett und schnell zu verfrachten auf Boote und am anderen, nicht überschwemmten Ort umstandslos wieder zu errichten. Die Männer, die Frauen hocken in der Mitte des Bildes und schildern ihr Leben, ihr Schicksal, eine Ehefrau klagt auch über die Faulheit der Ehemänner. Alle kämpfen sie gegen die Widrigkeiten der Natur, aber die Ohnmacht gegenüber dem Wasser, das alles verschlingt, ist groß.

Also sind wir in Kasachstan. Auf dem trockenen, staubigen Land stehen Schiffe. Schiffe auf dem Trockenen, ein alter Mann wandert etwas verloren zwischen ihnen herum, geht dann an Bord einer der rostigen Ruinen, sagt: "Mein Schiff" und imitiert mit den Händen die Gischt, die sich vorzustellen die Fantasie hier auf dem Trockenen für den Betrachter kaum reicht. Hier war ein Hafenstadt vor wenigen Jahrzehnten, hier lebten einst sechzigtausend Menschen, hier war, damals, der Aralsee und hier wurden Fische gefangen und in die Welt geschickt. Ein Bewässerungsplan für die Wüste am anderen Ort hat den Aralsee austrocknen lassen, fünfzig Prozent seiner Fläche sind verschwunden, die einstige Hafenstadt ist verlassen und selber nun Wüste, alle sind arbeitslos, die Ohnmacht ist groß.


Also sind wir in Kenia. In Kibera, genauer gesagt, dem größten Slum des Landes, Teil von Nairobi, Lebensraum für 1,4 Millionen Menschen. Es gibt hier nicht mehr als fünfzehn Wasserstellen, offiziell, und viele weitere illegale, gegen die die Wasserverwaltung nichts unternimmt. Das Wasser ist teuer, es fließt nicht immer, manchmal sind die Bewohner stundenlang unterwegs mit ihren Kanistern. An den Leitungen sitzen Männer, die bei ihren Kunden kassieren, sie leben davon, es scheint ein einträgliches Geschäft. Ein anderer, der ein Restaurant betreibt, träumt von der Zeit, die er hätte für andere Dinge, müsste er nicht das Wasser besorgen auf langen Wegen durch Kibera, stundenlang. Er erzählt auch, wie er einen Dieb ermordet hat, an einen Reifen gebunden und angezündet und er erklärt, warum das die einzig richtige Art ist, mit Dieben umzugehen.

Also waren wir in der ganzen Welt unterwegs. Wir haben Bilder gesehen und Dinge gelernt. "Über Wasser" ist Teil einer neuen Dokumentarfilmschule fürs Kino, die uns im Westen vor Augen führt, wie es anderswo aussieht und zugeht. "Über Wasser" ist weniger manipulativ als etwa Hubert Saupers "Darwins Alptraum", er ist weniger in seine schaurig-schönen Bilder verliebt als "Workingman's Death" (dessen Regisseur Michael Glawogger an der Konzeption von "Über Wasser" beteiligt war). Es ist, wie auch Sigmar Gabriel und die Klima-Allianz meinen, die den Film unterstützen, gegen eine solche Massierung des guten Willens rein gar nichts zu sagen. Zitieren wir den Filmkritiker Gabriel: "Ich bin überzeugt, dass dieser Film nicht nur das Verständnis vieler Menschen in Deutschland für ein so fundamental wichtiges Thema vergrößert, sondern auch die persönliche Haltung zu natürlichen Ressourcen nachhaltig verändert. Dem Film gelingt es, sowohl emotional zu faszinieren als auch rationale Aufklärungsarbeit zu leisten."

In Wahrheit ist es aber so, dass all diese Filme in blindem - strukturblindem, ökonomievergessenem - Glauben an die Evidenz ihrer Bilder und die Dignität ihrer Anliegen niemandem wehtun. Sie sind die ökologische Bewirtschaftung unseres schlechten Gewissens. Sie sind die Schlechtfühl-Feelgood-Movies der westlichen Postmaterialisten. In ihrer Angst, es sich und dem Betrachter - durch Denkanstrengung, unschöne Empörung, konsequentes Fragen nach Verantwortlichkeiten - allzu unbequem zu machen, sind sie im Grunde sogar zum Kotzen.

Lucie et Maintenant. Schweiz 2007. Regie: Simone Fürbringer, Nicolas Humbert, Werner Penzel - Darsteller: (Mitwirkende) Oceane Madelaine, Jocelyn Bonnerave - Länge: 80 min.

Über Wasser. Österreich / Luxemburg 2007 - Regie: Udo Maurer - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 85 min.