Im Kino

Ein amorphes Gebilde

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
10.09.2008. Eine sehr reale Dystopie, nämlich eine von der neapolitanischen Camorra zerstörte Gesellschaft, beschreibt Matteo Garrone meisterlich in seiner Bestseller-Verfilmung "Gomorrha". Futuristisch-unterkühlt, aber nicht weniger dystopisch geht es zu in Christian Froschs Architektur-Meta-Thriller "Weiße Lilien".

Marco und Ciro tragen bunte Hemden und imitieren auch sonst Al Pacinos Titelrolle in Brian De Palmas "Scarface". Gangsterrap hören sie nicht, statt dessen italienischen Dance-Pop. Beide sind lächerlich, doch nicht viel lächerlicher als die Bosse der örtlichen Mafia-Niederlassung, denen sie einige Waffen stehlen. Später stehen sie in Unterhosen am Strand und jagen begeistert Kugeln in die Luft. Aus dem Spiel wird Ernst werden. Die beiden wissen es und dass sie nichts daran ändern wollen, heißt nicht unbedingt, dass sie etwas ändern könnten, wenn sie wollten.

Die Geschichte von Marco und Ciro ist eine von fünf, die Matteo Garrone in "Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra" erzählt. Neben den beiden jugendlichen Möchtegerngangstern sind da Toto, ein dreizehnjähriger Laufbursche für den Clan, Don Ciro, der alternder Mafiabuchhalter, dem das Geschäft langsam aber sicher über den Kopf wächst, Pasquale, ein Modeschneider, hilflos ausgeliefert seinem Boss und dessen kriminellen Kontakten sowie der idealistische Universitätsabsolvent Roberto, den seine erste feste Anstellung in eine moralische Zwangslage befördert.

Zusammengehalten werden die fünf Episoden weniger durch interne Überschneidungen als durch das System, in das sie eingefügt sind. Das System ist die titelgebende Camorra, neapolitanische Version der sizilianischen Mafia. Garrones Film zeichnet die Aktivitäten der Organisation in beachtlicher, wenn auch sicher nicht erschöpfender Breite nach, vom Elend des innerstädtischen Drogenhandels über die Verflechtungen mit Abfallbeseitigungsunternehmen bis hin zu Scarlett Johanssons Designerkleid, an dessen Herstellung Pasquale beteiligt war.

Dieser Wille zum Gesellschaftspanorama ist nicht das einzige, was "Gomorrha" mit dem Kino Francesco Rosis (mehr hier) und dessen soziopolitischen Analysen in Filmen wie "Hände über der Stadt" oder "Lucky Luciano" verbindet. Was Garrone von Rosi trennt, ist sein Verlust des unbedingten Glaubens an den Erfolg der Unternehmung. Erkenntnis verspricht der Film nicht mehr im Ganzen und in Bezug aufs Ganze, sondern höchstens in der Brechung desselben in kleinen, personalisierten Vignetten.

Gefilmt ist das in einer sonderbaren Mischung aus Intensität und Distanz. Manchmal ist die Kamera im Stil von "City of Gods" nah dran an den Protagonisten, insbesondere am jungen Too, immer wieder zwingt der Film dem Zuschauer die selten angenehme und nie souveräne Perspektive seiner Hauptfiguren auf. Bestimmend aber ist der Schnitt zurück in die Totale, der deren Bedingtheit aufscheinen lässt, eine Bedingtheit, die gleichzeitig sozial und architektonisch ist. Die baufälligen Wohnblöcke und schmutzigen Gassen gehen mit ihren unterprivilegierten Bewohnern in diesen Totalen eine unheilvolle Symbiose ein.


Das Abstrakte, Distanzierende, das die Subjektivität der Figuren aufhebt, ist - und dass es dem Film gelingt, dies in glasklare Bilder zu fassen, macht ihn so großartig - nichts anderes als die Camorra. Die Camorra ist auch für den, der Teil von ihr ist, ein amorphes, nicht greifbares Gebilde. Der Krieg, den alle Beteiligten behaupten als absoluten zu führen und an dessen Existenz angesichts der Opfer kein Zweifel bestehen kann, bleibt ein abstrakter. Nur in Ausnahmefällen verlaufen die Trennungslinien parallel zu sozialen und ethnischen Grenzen.

Garrone enthält dem Zuschauer systematisch Informationen vor, die in der literarischen Vorlage, dem Reportageroman und Weltbestseller Robert Savianos, noch zu finden waren. Wie die beiden verfeindeten lokalen Clans heißen, denen im Lauf des Films Dutzende von Menschen zum Opfer fallen, erfährt man nur in Nebensätzen, worin sie sich unterscheiden gar nicht. Die resultierende Orientierungslosigkeit ist in vielem das exakte Gegenteil zum allwissenden Blick des klassischen Gangsterfilms, der seinen hermetischen Mikrokosmos aus Großfamilien mit pittoresk italienischen Nachnamen so lange hegt und pflegt, bis diesem noch das letzte Stück Welthaltigkeit ausgetrieben ist.

"Gomorrha" ist kein perfekter Film. Manchmal lädt sich Garrone mehr auf, als er einzulösen vermag, vor allem in den Episoden, die nicht in der neapolitanischen Arbeiterklasse - beziehungsweise in dem, was von dieser übrig ist - angesiedelt sind und den Blick zu erweitern suchen in Richtung Mittelschicht, Sweat Shop und Haute Couture. Anderes wirkt unnötig didaktisch und einigen Figuren nimmt man ihr Verhalten nicht ganz ab. Diese Schwächen sind weniger Konstruktionsfehler als fast zwangläufige Nebeneffekte der Offenheit und des Muts, mit dem sich Garrone der sozialen Wirklichkeit nähert. Der Film, der aus dieser Annäherung entstanden ist, darf schon heute zu den absoluten Highlights dieses Kinojahres gezählt werden.

Lukas Foerster

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Wenn ein Kritiker einen Film hasst (das kommt vor), dann klingt das zum Beispiel so: "Ein konfuser futuristischer Thriller, in dem eine Schizophrene auf der Flucht vor ihrem sie schlagenden Mann in einem riesigem Apartmentblock wahnsinnig wird. 'Weiße Lilien' wäre gern hip und gruselig, ist in Wahrheit aber nichts als ein dümmliches Pastiche. Der Versuch des Regisseurs Christian Frosch, Gesellschaftskritik mit Elementen aus 'Ekel' und 'Persona' zu versetzen, scheitert auf ganzer Linie in einem Film, dessen Chancen außerhalb des deutschen Marktes gleich Null sind." Das Urteil ist tödlich, denn es steht im einflussreichen, in der Regel übrigens gar nicht blöden oder populistischen Branchenfachblatt Variety. Der Verfasser der Kritik heißt Eddie Cockrell und was die Marktchancen angeht hat er wohl recht, nicht einmal nur aus Gründen des zu erwartenden self-fulfilling-prophecy-Effekts.

Den Film aber hat er nicht verstanden. "Weiße Lilien" ist kein Möchtegern-Thriller. Im schlimmsten Fall ist er, wenn schon, Möchtegern-Kunst, die in ihrer Anstrengung, Kunst zu sein, Schnitt für Schnitt zu erstarren droht. Allein, hoch virtuos ist gerade die Art, in der der Film die drohende Erstarrung und die Verfestigung zum Genre wie zur bloßen Stilübung mit jeder Vorwärtsbewegung vermeidet. Gewiss, er ist ein Pastiche und er will es sein, jedenfalls wenn man Pastiche als eine Auseinandersetzung mit Mustern und Konventionen versteht, die nicht zum Nennwert genommen werden. Oder die man antäuschungsweise zum Nennwert nimmt, um sie dann zu drehen, zu wenden, auf den Kopf zu stellen oder ad absurdum zu führen.

Das ist es, was Christian Frosch in "Weiße Lilien" tut. Er rückt eine Frau namens Hannah Schreiber (grandios: Brigitte Hobmeier) ins Bild, aber sie einfach so "schizophren" zu nennen, vereinfacht die Sache gewaltig. Weil es eine Psychologisierung wäre, also eine Rückführung unerklärlicher oder zum mindesten unerklärter Geschehnisse auf ein derangiertes Innenleben. In Wahrheit geht es jedoch um ein derangiertes, bei lebendiger Narration seziertes Außenleben: das dieses Films nämlich, der Bild an Bild rückt, ohne dass das eine Bild schon wüsste, was im nächsten geschieht. Die Tücke - und die Spannung und die Finesse - liegt zu großen Teilen in der Montage (meisterlich: Michael Palm), denn zwischen Schuss und Gegenschuss kann alles passieren.


Zu behaupten, der Film scheitere in seiner Bemühung, ein Thriller zu sein, das ist, als werfe man einem Lyriker vor, das sei aber keine Prosa, die er da schreibt. Die Elemente eines Thrillers sind in "Weiße Lilien" völlig wiedererkennbar vorhanden und mit denen, ebenfalls wiedererkennbar, einer Science-Fiction-Dystopie verschnitten. Nur geht der Film weder im einen noch im anderen noch in der bloßen Kombination von beidem auf. Am ehesten ist er eine Art Essay (aber ein spannender, ein dystopischer Essay) über genau das: das Nicht-Aufgehen selbst.

Räumlich ist alles ganz konzentriert: auf eine anonyme riesige Apartmentanlage, die Neustadt heißt (gedreht in der digital überarbeiteten Wiener Alt-Erlaa-Siedlung). Darin geht es um. Eine junge Frau stürzt sich aus ihrer Wohnung im elften Stock. Ein Mann namens Ludwig von Auerbach (Peter Fitz) zieht Fäden im Hintergrund und fliegt in die Luft. Der Sicherheitsdienst verbreitet Schrecken und Angst. Hannah Schreiber flieht vor dem Mann, der sie schlägt, in die Arme eines Mannes (gespielt vom Theater-Star und Tatort-Kommissar Martin Wuttke), der in der totalitären Hierarchie der Neustadt sehr hoch rangiert. Später wird ein anderer Mann (dargestellt von Fassbinder-Star Günter Kaufmann) als Agent verhaftet.

"Weiße Linien" ist ein Film unklarer Machenschaften in grandios genauer Mise-en-Scene. Der Sog, den er entwickelt, ist weder - wie der erste Blick vielleicht suggeriert - von Lynch noch von Bergman geklaut, sondern sehr eigenständig aus dem Zusammenspiel von Inszenierung, Montage und nicht zuletzt der auf die haargenau richtige Temperatur runtergekühlten Darstellung der durchweg exzellenten Schauspielerinnen und Schauspieler erarbeitet. Ihr Spiel (Johanna Wokalek als Mitbewohnerin unbedingt noch zu erwähnen) balanciert, wie der ganze Film, haarscharf auf der Linie zwischen primären Unheimlichkeitseffekten und bewusstem Gefühls- und Versatzstück-Pastiche. Diese Grenze ist es, auf die es "Weiße Lilien" ankommt. Wer nicht, wie der Variety-Kritiker, das Klischee sucht und die vermeintlichen Vorbilder, auf die sich Regisseur Christian Frosch immer nur doppelbödig bezieht, der wird den Blick für die Dauer seiner 96 Minuten von diesem Film nicht ohne weiteres wenden wollen.

Ekkehard Knörer

Gomorrha - Reise ins Reich der Camorra. Italien 2008 - Originaltitel: Gomorra - Regie: Matteo Garrone - Darsteller: Toni Servillo, Gianfelice Imparato, Maria Nazionale, Salvatore Cantalupo, Gigio Morra, Salvatore Abruzzese, Marco Macor, Ciro Petrone, Carmine Paternoster

Weiße Lilien. Österreich / Deutschland / Luxemburg / Ungarn 2007 - Regie: Christian Frosch - Darsteller: Brigitte Hobmeier, Martin Wuttke, Johanna Wokalek, Erni Mangold, Walfriede Schmitt, Xaver Hutter, Gabriel Barylli