Im Kino

Lies, lies, lies

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
15.04.2009. In die koreanische Provinz, in der die Sonne nur heimlich scheint, folgt Lee Chang-dong in seinem preisgekrönten Film "Secret Sunshine" seiner Heldin. In Paolo Sorrentinos groteskem und stilwütigem Andreotti-Porträt "Il Divo - Der Göttliche" ist der Protagonist selbst eine Art Schwarzes Loch, in dem Anstand und Demokratie fast geräuschlos verschwinden.

"Secret Sunshine" ist die englische Übersetzung des koreanischen Wortes "Milyang". Milyang ist gleichzeitig der Name einer koreanischen Provinzstadt im Süden des Landes. Die Stadtbewohner sind, so erzählt der Automechaniker Kim Jong-chan der jungen Frau Lee Shin-ae (großartig verkörpert von Jeon Do-yeon, die für diese Rolle zurecht in Cannes ausgezeichnet wurde), als er die junge Frau in seinem Auto in die Stadt mitnimmt, politisch eher rechts eingestellt, ihr Dialekt ähnelt dem der größeren Nachbarstadt Pusan, ansonsten aber sind Milyanger, und das wird Jong-chan später noch mehrmals wiederholen, Menschen genau wie überall sonst.

Shin-ae lässt sich von Jong-chan mitnehmen, weil ihr eigenes Auto einen Motorschaden hatte. Mit diesem Motorschaden, mit einem Misslingen, einem Aus-dem-Takt-geraten, beginnt der Film. Genauer gesagt beginnt er mit einem Kamerablick aus Shin-aes Auto heraus auf den Himmel über Milyang, der vielleicht ein thematischer establishing shot ist, weil die utopische Schönheit der Natur und das Erlösungsversprechen, das sie zu geben scheint, von Anfang an unerreichbar bleiben hinter der Windschutzscheibe des Autos. Die nächsten knapp zweieinhalb Stunden zeigen Shin-aes ausdauernden Kampf, den Takt wieder zu finden, einen Lebensrhythmus zu etablieren, in dem sie und die Menschen um sie herum glücklich werden können. Und Shin-ae wird in diesen knapp zweieinhalb Stunden erfahren, dass das Leben außerhalb dieses Taktes für sie das einzig mögliche ist.

Den ersten Schlag hat Shin-ae bereits hinter sich, als der Film einsetzt. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie beschlossen, mit ihrem jungen Sohn Jun in die Heimatstadt des Toten, nach Milyang zu ziehen. Sie arbeitet als Klavierlehrerin und träumt davon, sich mit Jun in einem geräumigen Haus nieder zu lassen. Zunächst inszeniert der Film die Bewegungen Shin-aes und Juns in Milyang als vorsichtiges, tastendes Kennenlernen. Neben Jong-chan, der in seiner tollpatschigen, fast asexuellen Aufdringlichkeit den gesamten Film über nicht mehr von ihrer Seite weichen wird, lernt Shin-ae einige andere Bewohner kennen: Jong-chans pubertäre Tochter, eine missionierungswütige Christin in der Apotheke und die Inhaberin eines Kleiderladens.


Letzterer rät sie in einer der ersten Szenen des Films, ihren düsteren Laden mit helleren Farben attraktiver zu machen. Erst ganz am Ende von "Secret Sunshine" taucht diese Ladenbesitzerin wieder auf. Sie hat ihren Rat befolgt und den Laden renoviert, die Geschäfte laufen wieder gut. Gemessen an ihrer narrativen Funktionalität mag diese Episode peripher erscheinen. Aber in dem kleinen Bogen, den diese Begegnungen spannen, in der kompositorischen Sorgfalt, mit der sich der Film dieser Frau widmet, - einer Frau, die in fast jedem anderen Film eine anonyme Nebenfigur geblieben wäre - artikuliert sich der spezifische Humanismus des Films.

Ähnlich wie die Vorläuferfilme "Peppermint Candy" und "Oasis" entfernt sich "Secret Sunshine" zwar von der klassisch linearen Erzählökonomie, gibt sich andererseits aber auch nicht mit einer episodischen Form zufrieden, sondern besteht auf der Zwangsläufigkeit des Gezeigten. Lee Chang-dong strukturiert auch seinen bislang besten, weil am sorgfältigsten konstruierten Film über Wiederholungen, Spiegelbilder und Variationen. Einmal versteckt sich Jun vor Shin-ae, als sie nach hause kommt, um sich ihr gerade, als sie sich ernsthaft Sorgen zu machen beginnt, zu erkennen zu geben. Als sie dann einige Zeit später, gerade hat sie begonnen, in ihrer neuen Heimat Anschluss zu finden, beim Nachhausekommen Jun wieder nicht findet, sucht sie die üblichen Verstecke ab und nur ganz langsam schlägt sich auf ihrem Gesicht die grausige Erkenntnis nieder, dass der Sohn ihr diesmal keinen Streich spielen möchte.

Jun ist Opfer eines Entführers geworden und eine knappe halbe Stunde lang könnte man "Secret Sunshine" fast für einen Genrefilm halten: Es gibt erpresserische Telefonanrufe und Geldübergaben, zielgerichtete Verzweiflung und den suchenden Kamerablick. Der Film allerdings ist ganz entschieden nicht am Genrehaften interessiert, ganz im Gegenteil bleibt ihm dieses zutiefst fremd. Lee Chang-dong weigert sich, seine Figuren fürs Spannungskino zu instrumentalisieren und verzichtet auf dramaturgischen Taschenspielertricks jeder Art. Wenn die Entführungsgeschichte schließlich auf denkbar grausame Art zuende geht, verweigert er ostentativ die Großaufnahme der Kinderleiche ebenso wie den cut back auf das Gesicht der verzweifelten Mutter. Statt dessen bricht Shin-ae im Bildhintergrund einer Totalen vor ihrem toten Sohn zusammen.

Eigentlich beginnt der Film nach dieser Totalen, nach einem guten Drittel seiner Laufzeit, erst richtig. Lee Chang-dongs episches, von Grund auf ehrliches Psychodrama führt Shin-ae unter anderem in die christliche Kirche. Deren Heilsversprechen werden vom Film nicht besserwisserisch dekonstruiert, sondern aus ihrer eigenen Logik heraus ad absurdum geführt: Zu Gott finden kann nicht nur Jin-ae, noch leichter fällt das Juns Mörder. Das führt zur vielleicht schönsten, im besten Sinne des Wortes aufklärerischen Szene des Films, in der Shin-ae die Rede eines Predigers sabotiert, indem sie über die Lautsprecher einen Popsong schallen lässt: "Lies, lies, lies".

Lukas Foerster

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Eine der verblüffendsten und zugleich bezeichnendsten Einstellungen findet Paolo Sorrentino in seinem an mangelndem Gestaltungswillen gewiss nicht leidenden Film gleich zu Beginn, wenn der auf höchste politische Ämter dutzendfach abonnierte Guilio Andreotti sich zur Einnahme einer aufgelösten Aspirintablette - er leidet dauerhaft an Migräne - vom Küchentisch erhebt und sein Kopf hinter einer blendend weißen, tiefhängenden Lampe verschwindet. Andreotti stand stets im Verdacht, seine politische Laufbahn der Mafia und deren wenig subtiler Vorgehensweisen zu verdanken. Erst nach dutzenden Immunitätsverfahren kam er vor Gericht und wurde gleich mehrfach freigesprochen.

Sorrentino findet für die Ungreifbarkeit seines Protagonisten dieses Bild: Andreotti als buchstäblich ausgestanzte Leerstelle, ein Nichts, aus dem nichts dringt, an dem zugleich alles, und noch jede Projektion, abprallt. "Wenn Andreotti eines Tages sterben sollte", feixt ein Komiker resignierend an einer Stelle, "dann wird man aus ihm die Black Box herausschneiden, dann wissen wir endlich die Wahrheit!" Toni Servillo spielt diesen stoisch eingepanzerten Mann mit einer Konsequenz, die einen das Fürchten lehrt.

Andreotti ist ein Rätsel. Ein Rätsel, das Sorrentino zwar mit Metaphern und Symbolen traktiert - ein Bild von Andreotti mit Akupunkturnadeln im Kopf erinnert an den ikonischen Dämon Pinhead, dann wieder läuft er wie Nosferatu durchs Bild -, die an der Figur aber geradezu abperlen. Sorrentino weiß darum und erhebt erst gar nicht den Anspruch, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit im Stil einer Oliver-Stone-Reportage zu deklarieren. Im Gegenteil, sein Andreotti bildet das windstille Auge eines Hurrikans regster Betriebsamkeit, einen ruhenden Schwerpunkt in einem sich darum rankenden, kaum durchschaubaren Dickicht aus Namen, Posten, Mauscheleien und Intrigen.

Woher der Mann kommt, wie er an die magnetische Aura der Macht gelangt ist, die ihn umgibt, was sich hinter seiner eisern verschlossenen Miene abspielt und welche Mittel er wenigstens lanciert, dazu gibt "Il Divo - Der Göttliche" - trotz aller Andeutungen und Suggestionen - keine Auskunft. Statt dessen formuliert Sorrentino im steten Wechsel der Zeitebenen, vermittels eines nicht enden wollenden Informationsstakkatos und mit unbändig viel Stilbewusstsein das Rätsel rein des Rätsels wegen: Entropie statt Aufklärung, Stillstand statt Erkenntnisgewinn. Und gut anzuschauen ist das bei einem virtuosen Stilisten wie Sorrentino allemal.

So ist Andreotti denn auch eine absurd in sich absorbierte Figur, die aus Macht und Intrigen keinerlei persönlichen Gewinn schlägt. Kein Machiavelli steckt hinter diesem trüben Blick, hinter der geduckt beengten Haltung des Spieß- und Kleinbürgers; eher ein Meursault aus Camus' "Der Fremde", der sich inmitten des Betriebs ringsum als Beobachter in sich zurückzieht. Oder vielleicht noch am ehesten ein Adolf Eichmann, der mit aller Gelassenheit einfach das schrecklichste tut, indem er es einfach tut. An den Zufall glaube er nicht, beteuert Andreotti stets, nur an den sich fügenden Willen Gottes. Es muss ein Gott mit einem ganz besonders seltsamen Humor sein, der sich eine solche Farce gefallen lässt.

Thomas Groh

Secret Sunshine. Südkorea 2007 - Originaltitel: Milyang - Regie: Lee Chang-dong - Darsteller: Jeon Do-yeon, Song Kang-ho, Jo Yeong-Jin, Kim Mi-Kyung, Kim Yeong-Jae, Ko Seo-Hie, Park Myeong-Shin, Seon Jung-yeop

Il Divo - Der Göttliche. Italien / Frankreich 2008 - Originaltitel: Il Divo - Regie: Paolo Sorrentino - Darsteller: Toni Servillo, Anna Bonaiuto, Flavio Bucci, Carlo Buccirosso, Giorgio Colangeli, Piera Degli Esposti, Ennio Fantastichini, Paolo Graziosi, Fanny Ardant