Im Kino

Sozialsurrealismus

Die Filmkolumne. Von Thierry Chervel, Thomas Groh, Ekkehard Knörer
23.06.2009. In ihrem beeindruckenden Spielfilmdebüt "Home" erzählt die Schweizer Regisseurin Ursula Meier eine Parabel mit Widerhaken und Isabelle Huppert. Michael Bay dagegen fetischisiert in "Transformers - Die Rache" Frauenkörper, Waffen und Militär und, wie es sich fürs Franchise gehört, gestaltwandelnde Roboter. Petra Seeger begibt sich mit dem Hirnforscher Eric Kandel auf die Suche nach dem Gedächtnis. Mit Nachtrag.

Einfache Elemente in seltsamem Arrangement: Eine Familie, ein Haus, eine Straße. Zug um Zug, Stück für Stück baut Ursula Meier mit Hilfe ihrer Kamerafrau Agnes Godard daraus eine Parabel. Eine Parabel, die nur deshalb funktioniert, weil jedes einzelne Teil eine eigene, übers Funktionale hinausreichende Kraft hat. Hinausreichend, soll das heißen, über eine Rolle im Fortgang dieser Geschichte. Hinausreichend über die Bedeutung, die es fürs Ganze hat. Diese Einzelteile stellt der Film hin, er sammelt sie ein, er lässt sie als Bruchstücke gelten, die sich nicht einfach fügen.

Zum Beispiel: Ein Camping-Liegestuhl, ein unbrauchbar gewordener Swimmingpool, ein Fahrrad auf dem Asphalt. Eine Kühltruhe, eine Badewanne, ein Radio. Blicke, die man wirft wie Gegenstände. Durchs Fenster, auf die Straße, über die Straße. Gegenstände, die man den Blicken hinterher wirft, die Pausenbrote, über die ein Auto fährt, aber man kann manches noch essen. Wege, abgeschnittene und neu gefundene. Das Wasser, die Panik, ein Lachen, befreit und hysterisch. Wie nebenbei fängt die Kamera am Ende eines Schwenks ein beinahe surreales Bild ein. Oder sie beginnt eine Einstellung mit dem Blick auf Straßenarbeiterbeine in Knallorange. Tüten, ein Tiefkühlhähnchen an der Wange, ein Mundschutz mit Loch für die Zigarette. Der Blumenbikini von Judith, die aggressive Zuneigung der Geschwister Marion und Julien, die tränenverquollenen Augen der Mutter, gespielt von Isabelle Huppert.

Am Anfang weiß man nicht, wo man ist. Ganz buchstäblich: Was ist das für ein Ort? Eine Autobahn, auf der kein Auto fährt. Stattdessen spielt eine Familie Hockey auf dem Asphalt und lässt alles, was zum Spiel gehört, hinterher einfach liegen. Und neben der Autobahn das Haus, in dem die Familie lebt: Vater, der morgens zur Arbeit fährt (man weiß nicht wohin, man weiß nicht was, abends kehrt er wieder); Mutter, die Wäsche wäscht, am einen Tag weiß, am anderen bunt; erwachsene Tochter, die jeden Tag auf der Campingliege neben der Autobahn Hardrock hört; die pubertierende Tochter, die später zu Hypochondertum neigt; und ihr jüngerer Bruder, dessen Freunde der einzige Sozialkontakt scheinen, den die Familie in der Welt hat.


Man weiß am Anfang auch nicht, in welches Genre der Film gehört. Alles beinahe postapokalyptisch hier. Oder ein Horrorfilm? Eine Familienkomödie? Absurdes Theater? Sozialsurrealismus? Keineswegs schüttelt sich das alles bis zum Ende ganz eindeutig zurecht. Man lernt nur: Wir alle kommen hier, aus dieser Situation, bis zum Ende nicht raus. Stattdessen bricht etwas ein in die Idylle am äußersten Rand der Gesellschaft. Die Autobahn wird nach zehn Jahren, die der Weiterbau brachlag, doch noch für den Verkehr geöffnet. Entsetzte Blicke werden aus dem Fenster geworfen. Die Tochter zeigt den hupenden LkW-Fahrern den Finger und setzt, um ihren Hardrock zu genießen, nun Kopfhörer auf.

Mutter und Vater wollen die Kinder, sich selbst, die Familie, gegen dieses Eindringen des Außen, dieses aggressive Vorbeifließen der Gesellschaft isolieren. Auch daraus macht Ursula Meier, wie aus so vielem in diesem Film, ein Szenario blanker Buchstäblichkeit. Ja, "Home" ist eine Parabel mit möglicherweise sogar recht einfacher Botschaft. Sie erzählt von Innenwelt und Außenwelt und vergeblichem Abschottungsversuch. Aber in beinahe jedem Bild steckt ein Widerhaken. Der verblüffendste dieser Widerhaken ist die Komik des Films. Über alles kann man, so bitter es ist, fast immer auch lachen. "Home" ist ein Film, der sich nach Ansicht so ohne weiteres nicht von der Haut schrubben lässt.

Ekkehard Knörer

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Michael Bay, so könnte man in Autoquartett-Logik sagen, sticht "Cloverfield". Zu letzterem jedenfalls prangt ein Kinoplakat in dem College-Dormroom, den Sam Witwicky (Shia LaBeouf) fortan mit einigen ausgesucht gruseligen Internet-Videonerds bewohnen soll, und wenig später, kurz bevor Witwicky nach anfänglichen Revierdifferenzen das Ruder übernimmt, hängt da, wie als Spielkarte fast drüber gelegt, noch zusätzlich eins von "Bad Boys 2", für den "Transformers"-Regisseur Michael Bay verantwortlich zeichnete.

Man kann das als weiteren Ausweis für Bays mangelndes Talent für Humor lesen (und bekommt vom Film manches Argument geliefert), genauso auch für Bays - im guten wie im schlechten - völlig ungeniert unüberlegte Art, seine Filme möglichst mit allem vollzustellen. Wie meist bei Bay fliegt das Reaktionäre und das Fortschrittliche, das Charmante und das Plumpe wieder auf eine Weise durcheinander, dass viel mehr als Salat darin zu sehen Schwierigkeiten bereitet. Oder man versteht das einfach als Signatur: "Dies, gelobe ich, ist ein Film von Michael Bay."

Denn das ist "Transformers - Die Rache" im Gegensatz zum vorangegangenen ersten Teil mit Nachdruck - eine erstaunlich kurzweilig, erfreulich unpathetisch geratene Hommage ans Teenie-Blockbusterkino der 80er Jahre, die den Einfluss des neuen Bay-Produzenten, Steven Spielberg, nicht verleugnen kann. Zumindest die guten unter den titelgebenden Alien-Robotern, die sich unter einigen Verrenkungen vom knalligen Auto zur Kriegsmaschine und wieder zurück verwandeln können, sind mittlerweile nun ganz ins US-Militär integriert, was Bay die Gelegenheit gibt, sich von Anfang an auf altbewährte Weise in Bildern von betont maskulin sonnenbebrillten Soldaten, von mit viel Pathos fetischisiertem Heeresgerät und Hochglanz-"Babes" zu schwelgen. So kann er in seinem Projekt einer hyperkinetischen Filmwelt, in der Raum als filmische Kategorie nur in seiner schnellstmöglichen Durchdringbarkeit von Interesse ist, eine weitere Eskalationsstufe zünden.


In Windeseile verquickt Bay Shanghai und Middle Class America, Ägypten und ferne Planeten, das Detail mit dem großen Ganzen, die Peripherie mit dem Zentrum. Gerade noch in Paris, werden Witwickys Eltern wenig später in Afrikas Wüste regelrecht ausgespuckt. Wenn ein überböser Über-Transformer eine der Pyramiden von Gizeh stürmt, um daraus eine Maschine hervorzuholen, die unsere Sonne vernichten kann (man denke sich nun das US-Militär und einige den Menschen verbundene Transformer hinzu, dann hat man den Plot), so wechselt Bay als Fan des Multiperspektivischen ganz selbverständlich zwischen souverän-genüsslicher Helikopterperspektive und eingeschränkter Untersicht, wie sie etwa für "Cloverfield" typisch wäre.

Auch in anderen Belangen spielt Bay Quartett. Die Internet-Freaks, wohl schon deshalb, weil die empfindliche Verwertungskette des Blockbuster-Systems sie und ihre dunklen Vertriebskanäle längst zum Feind erkoren hat, sind kaum mehr als Jammerlappen. Sie brillieren in den Männlichkeitsprüfungen, die der auch nicht über-virile Sam Witwicky zu bestehen hat, genauso wenig wie der wachsweiche Abgesandte der Obama-Regierung in den Reihen der Militärs, die ihn mal eben aus dem Flugzeug schubsen. Und nicht zuletzt ist Michael Bays Kino eines der maximalen Sichtbarkeit, das sich erst unter Ägyptens gleißender Sonne am wohlsten fühlt: Im hektischen Halbdunkel fetischisiert es sich schlecht. Frauenkörper, wuchtige Transformationen, Flugzeugträger und Düsenjets sind bei Bay allesamt Münzen derselben Währung.

Fast drei Stunden peitscht Bay den Zuschauer durch sein ganz persönliches, in Erich-von-Däniken-Kitsch ersäuftes Über-Super-Monstermovie, das sich in zahlreichen Anspielungen und Zitaten durch die Blockbuster-Geschichte der letzten Jahre samplet. Und doch scheint dies, bei aller Dynamik, bei aller Vollgestopftheit und noch in jeder Geschmacklosigkeit und Volte gegen jede Form des Kulturrespekts (Bibliotheken, antike Wandmalereien und Pyramiden sind zum Zerstören da; im triumphalen Schlussbild sitzt im Gesicht der Sphinx ein Huhn), streng innerhalb festgesteckter Grenzen zu verharren. Auf den großen Knall, der vom bloß daneben gesetzten Ton den Graben öffnet zur grellen Drastik des völlig Unpassenden, wartet man vergebens. Stattdessen: Pyramidische Überfülle an allen Ecken und Enden, deren Quantität sich auch unter den Maximen des Blockbusters nicht in Qualität umsetzt. Anästhesiert, nicht euphorisiert, verlässt man den Saal.

Thomas Groh

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Er lacht wie ein rostiger Eimer. Er zieht die Luft ein, und dabei entsteht dieses große kaputte Geräusch. Für andere, die dabei stehen, scheint das immer ein bisschen schmerzhaft zu sein, und Eric Kandel lacht gern, auch wenn seine Geschichte in mehrerer Hinsicht recht ernst ist.

Kandel ist Hirnforscher. Für seine Forschungen über die Entstehung des Gedächtnisses, hat er den Nobelpreis bekommen. Immer wieder streut Petra Seeger in ihrer Dokumentationen Erläuterungen Kandels und seiner Mitarbeiter und Studenten zu ihren grundsätzlichen Erkenntnissen ein. Das Gedächtnis ist eigentlich das erste. Zumindest hirnstrukturell gesehen liegt es sozusagen vor dem Ereignis, das es memoriert. Ohne Wiederholung kein Gedächtnis, ohne Gedächtnis kein Lernen, ohne Lernen kein Hirn. Kandel hat trotz seines vorgerückten Aters - geboren 1929 - noch ein Laboratorium an der Columbia University.

Kandel ist auch ein Wiener Jude, der die Stadt 1939 verlassen musste. Seeger kehrt für den Film mit ihm und seiner Familie nach Wien und an andere Stationen ihrer Emigration zurück. Zum Teil sehen er und seine Frau die Orte erstmals wieder. In Wien stößt man auf sympathische Leute, die nun in der Wohnung der Kandels wohnen oder auch im ehemaligen Spielwarenladen von Kandels Vater Konfitüre verkaufen. Es ist also auch in anderer Hinsicht ein Film über das Gedächtnis.

Manche Szenen sind als Spielszenen nachgestellt und bebildern in der für Fernsehdokumentationen heute üblichen verschmockten Weise Kandels Erinnerungen. Man sieht ein Kind, das auf einem Stuhl sitzt und mit den Beinen baumelt. Und man meint die Fernsehredakteure oder Förderfunktionäre förmlich vor sich und auf Einbau solchen Materials beharren zu sehen. Aber vielleicht war es auch nur die Regisseurin, die nach Bildern für das Trauma suchte, das Kandel schildert. Diese musikalisch untermalten und absichtsvoll illustrativ wirkenden Szenen stören in dem Film eher.

Das Trauma Kandels können sie ohnehin nicht bebildern: Es besteht in dem Gefühl totaler Verlassenheit, als in Wien die Nazis einrücken und die Kandels von einem respektierten Teil der Gesellschaft zu Parias werden, ohne dass auch nur ein nichtjüdischer Bekannter oder Freund der Familie seine Solidarität oder Anteilnahme bekundet. Dieses Trauma und die Erinnerung daran haben Kandel zur Psychoanalyse und dann zur Hirnforschung geführt. Er wollte das Gedächtnis erforschen. Er wollte wirklich wissen, wie der fortwirkende, ständig sich wiederholende Schmerz des Traumas im Hirn funktioniert.


Kandel (in der Mitte) mit seinen Kollegen Aaron Beck (Psychotherapeut) und Micky Stunkard (Neurobiologe)

An einer Stelle des Films werden Kandel und seine Mitarbeiter im Institut feierlich. Man sieht in einem unter einem Mikroskop gefertigten Video sozusagen als Weltpremiere, wie sich - wenn ich es richtig verstanden habe - ein Partikel aus einer Hirnzelle löst und zu einer anderen Zelle hinbewegt. Das ist das erstmals im Hirn einer Meeresschnecke gefilmte Gedächtnis in Aktion.

Wie genau soll man jetzt Kandels Trauma in Verbindung bringen mit dem Bild des glitschigen Geschehen zwischen zwei Zellen im Hirn einer Meeresschnecke?

Am beeindruckendsten in Seegers Film sind die Szenen in Kandels Institut. Man stellt sich bei dem Thema glitzernde Apparaturen, Ultramodernität, weiße Kittel und Sterilität vor. Aber was einen an dem Institut eigentlich rührt, ist seine sympathische Schäbigkeit, die Flurpflanzen, die Sekretärinnen, die heitere Banalität der Räumlichkeiten. Hier tummeln sich in jener stoischen Bescheidenheit, die nur Naturwissenschaftler ausstrahlen, wahrscheinlich einige der brillantesten Köpfe der kommenden Hirnfoschung, Kandels Assistenten und Studenten, Männer und Frauen aus Bulgarien, Syrien, Indien, und man versteht, was Amerika ist: ein Tummelplatz versprengter Parias aus allen mögliche Weltgegenden, die mit allen ihren Traumata und Erinnerungen etwas ganz Neues zusammenbauen.

Vielleicht rührt daher auch Kandels manchmal etwas schmerzhafte Fröhlichkeit. Er hat versucht, ein Trauma zu bewältigen, und hat dabei gelernt wie ein Neuron sich mit einem anderen verbindet. Hat er sein Trauma dadurch verstanden? Vielleicht nicht, aber was er gefunden hat, ist eine neue Welt.

Thierry Chervel

Nachtrag: Am Montag, den 29. Juni diskutieren um 19 Uhr im Berliner Broadwa-Kino der Neurobiologe Björn Brembs von der Freien Universität Berlin und Dr. med. Anika Bick-Sander von der Neurologischen Klinik und Poliklinik, Max Dellbrück Centrum zu Eric Kandels Forschungsthema. Für Karten für diese Sondervorführung wenden Sie sich bitte direkt an das Broadway-Kino, Herrn Hohl, 030-26 55 02 76

Home. Schweiz / Frankreich / Belgien 2008 - Regie: Ursula Meier - Darsteller: Isabelle Huppert, Olivier Gourmet, Adelaide Leroux, Madeleine Budd, Kacey Mottet Klein

Transformers - Die Rache. USA 2009 - Originaltitel: Transformers: Revenge of the Fallen - Darsteller: Shia LaBeouf, Megan Fox, Josh Duhamel, Tyrese Gibson, John Turturro, Matthew Marsden, Isabel Lucas, Ramon Rodriguez, Kevin Dunn, Julie White


Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Dokumentarfilm, Deutschland 2008 - Regie: Petra Seeger - Mitwirkende: Eric Kandel