Im Kino

Zermahlener Mythos

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
10.06.2009. Steven Soderbergh zeichnet den Revolutionär Ernesto "Che" Guevara in seinem Großporträt nicht als Ikone. Als was er ihn stattdessen sieht, bleibt allerdings einigermaßen rätselhaft. In seinem Dokumentarfilm "Drifter" zeigt Sebastian Heidinger drei Kinder und junge Erwachsene vom Bahnhof Zoo.


Che, nicht Ernesto Guevara, ist eine Ikone, aber gerade als Ikone filmt Steven Soderbergh in seinem viereinhalbstündigen Porträt "Che" Ernesto Guevara nicht. Nicht dass er den Mythos frontal attackierte, er schickt ihn eher in den zermürbenden Kampf, als den er nicht nur - im zweiten Teil - das Scheitern, sondern schon das Gelingen der Revolution zeichnet. Was viele Betrachter dieses aufwendigen Films verstört hat und noch immer verstört und was an diesem Film schlicht und einfach verstörend ist, ist die Tatsache, dass Soderbergh aus dem zermahlenen Mythos kein neues, kein anderes Bild des Che Guevara formt und errichtet.

Es bleibt deshalb schwer zu sagen, was "Che" eigentlich ist. Einfacher schon, festzustellen, was er nicht ist. Ein Biopic zum Beispiel, das aus einem Leben ein aktförmiges Drama macht. Die Vorgeschichte des argentinischen Arztes Ernesto Guevara, alles Biografische überhaupt, bleibt fast völlig ausgespart. Kurz sitzen zu Beginn die späteren Revolutionäre Che (Benicio del Toro) und Fidel (Demian Bichir) in Mexiko City an einem Tisch. Dann aber geht es hinein in den Guerilla-Kampf in den Bergen und Wäldern und Straßen Kubas, wo rekrutiert wird, wo um die Rolle der Beteiligten in der revolutionären Bewegung gestritten wird, wo vor allem vorgedrungen, sich zurückgezogen, postiert, geschossen, gepflegt, geheilt, getötet und gestorben wird. Zwar montiert Soderbergh zwischen die unspektakulär inszenierten Kampfsituationen einen Vorausblick: Che in New York, ein Auftritt bei den Vereinten Nationen, ein Fernsehinterview. Das alles in grobkörnigem pseudo-authentischem Schwarz-Weiß. Das allerdings bleibt unverbunden mit den Szenen, die vorher spielen - und nachher -, das einzige, aber eben unverbindlich dazwischen geschnittene Scharnier zwischen Aufstieg zum Ruhm und dem kläglichen Ende von Revolution und Guevara in Bolivien.

Beim Kampf ist Steven Soderbergh einerseits mitten drin. Und zwar buchstäblich, denn wie meist hat er unter dem Pseudonym Peter Andrews die Kamera selbst geführt. Die Kamera übrigens ist hoch interessant, es handelt sich um die als technische Sensation geltende neu entwickelte, handliche, günstige, dennoch exzellente Bilder produzierende Digitalkamera "Red", von der Soderbergh in diesem Youtube-Clip schwärmt: "Eine Kamera, wie ich sie mir immer gewünscht habe. Die ich mit einer Hand halten und problemlos herumschwenken kann." In nicht zu unterschätzender Weise bestimmt bei einem intellektuellen Technik-Fanatiker wie Soderbergh diese neue Kameraerfahrung die Bilder von "Che". Das Mittendrinsein, das Hinterhergehen, die Bewegung, die Gräser im Bild, all das macht den Film zu einer Art Expedition; und aus dieser Perspektive ist die die Revolution nicht zuletzt der perfekte Gegenstand einer revolutionären Kameratechnik.



Die Wackelbilder, die hier als Bilder eines bewaffneten Kampfes entstehen, haben mit den unscharfen, hässlichen Bildern herkömmlicher Digital-Kameras wenig zu tun. "Die Bilder gleichen nichts, das ich bisher gesehen habe", meint Soderbergh und es stimmt. Diese Bilder sind schön, aber auch seltsam flach, sie laden - ganz im Geist dieses Films - das, was sie zeigen, nicht mit dem Mythos des Filmischen auf. Sie sind frei und unbelastet von der Tradition und epischen Vorbildern wie, um mal gezielt ans ganz andere Ende der Filmgeschichte zu greifen, David Leans "Lawrence von Arabien". Eher erinnern sie an digitale Fotografien in der gegenwärtigen Kunst. Sie haben etwas Installatives und tendieren eigentümlicher Weise sogar in ihren bewegten, aus der Hand gefilmten Momenten in Richtung Tableau.

Dem Tableau-Charakter entspricht auch die momentane Ton-Bild-Entrückung, die Soderbergh immer wieder vornimmt, wenn er als Voiceover Auszüge aus Che Guevaras Tagebuch über die fortlaufenden, aber nunmehr stummen Bilder legt. Keineswegs kommt aber andererseits Che einem über diese Text-Annäherungen näher als er es in den kleinteiligen, an- und abschwellenden Ereignismodulationen des Kampfgeschehens, des Diskutierens, Herumstehens, auch des Ächzens und Keuchens des schwer Asthmakranken tut. Wie man es dreht und wendet, bleibt "Che" ein Rätsel. Ein Tableau, das etwas Großes als von Alltäglichkeiten Bestimmtes vor Augen stellt. Eine Revolution, die nur kleinteilig voranschreitet - und noch die Bilder des Triumphs lässt Soderbergh weg. Eine auf Phasen begrenzte Biografie, die einem den Gegenstand nicht näher bringt. Der Umgang mit einer Ikone, der diese weder erklärt noch zerstört, sondern in apathisch-schönen Bildern einen niemals sonderlich charismatisch scheinenden Dschungelkämpfer sein lässt.

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Ein großer Schatten liegt über Sebastian Heidingers Filmhochschulabschlussarbeit "Drifter". Es ist der Schatten des Uli-Edel-Klassikers "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo". Heidingers Dokumentation nämlich begibt sich an Ort und Stelle von Edels Film, zum - nunmehr freilich zur Lokalstation degradierten - Berliner Bahnhof Zoologischer Garten und beobachtet, den vom Edel-Film geworfenen Schatten einfach ignorierend, drei dort Lebende, Herumhängende, Driftende. Aileen, Angel und Daniel. Sie verdienen ihr Geld mit Prostitution und sie geben es aus für den nächsten Schuss. Das ist die freudlose Ökonomie ihres Lebens, ein Kreislauf in Richtung Abgrund. Dafür aber interessiert sich Heidinger nur am Rande.

Was ihn mehr interessiert, ist das, was bleibt. Der Rest Leben, den die Prostitution und die Drogen seinen Protagonisten lassen. Sie reden, sie sitzen herum. Sie sind, im Rahmen angesichts ihres harten Lebens nötiger Egoismen, miteinander recht solidarisch. Aileen, 16, verkauft Obdachlosenzeitungen. Daniel bringt Aileen mit züchtigem Kuss im Nachtasyl zu Bett. Angel trägt eine Jacke, auf der steht hinten drauf "Sick of it All", und er putzt öffentliche Toiletten. Der Film endet auch auf einer öffentlichen Toilette, mit der einzigen Szene, in der sich einer der drei, Daniel nämlich, einen Schuss setzt. Dazu die aus den Wall-Toiletten vertraute Dudel-Muzak. Dazu die Trauer über Aileens Absage an einem gemeinsame Zukunft.

Mit den in den meisten Köpfen existierenden Klischees nicht vereinbar ist das Erscheinungsbild aller drei. Sie tragen Sorge, auf den Straßen Berlins nicht als Obdachlose zu erscheinen. Man kann auch sagen: Sie zeigen sich der Mehrfachbelastung - Drogenkonsum, Prostitution, Körperpflege - erstaunlicherweise gewachsen. Es hilft dabei allerdings auch eine staatliche Infrastruktur, die ihnen nachts eine Unterkunft bereitstellt - mit vorheriger Taschen- und Körperkontrolle, damit keine Drogen ins Haus des Staates gelangen.

Sehr konsequent ist Regisseur Heidinger in der Totalverweigerung von Kommentaren, Interviews, der Preisgabe aller äußeren Informationen im Film. Mehr als das, was man unmittelbar sieht und hört, erfährt man - über die Einblendung der Namen ganz zu Beginn hinaus - nicht. Sehr gezielt sind die einzelnen dokumentarischen Szenen quasi-narrativ zusammenmontiert. Es gibt kleine Spannungsbögen, vor allem den, die Beziehung zwischen Aileen und Daniel betreffend. Aber auch die Sorge um Aileens Gesundheitszustand, die sich, wie man im Laufe des Films merkt, als sehr berechtigt erweist.



Mindestens ebenso interessant wie das, was man sieht, ist denn auch, was man in begleitenden Interviews des Regisseurs erfährt. Er erzählt da zum Beispiel, wie schwierig es war, Zugang zur mit gutem Grund misstrauischen Szene zu bekommen. Er hat dann einfach monatelang Tag für Tag mit dem VW-Bus am Zoo gestanden, eine Couch zum Ausruhen für die "Drifter" hinten drin. So hat er nach und nach seine Protagonisten gefunden und ihr Vertrauen gewonnen. Er hat viele Interviews mit ihnen geführt, diese dann aber aus dem Film selbst komplett herausgelassen, um die drei ihr Leben ganz unkommentiert vor Augen stellen zu lassen. Was man auch aus Interviews erfährt und leider gar nicht im Film, der jede Auskunft über seine Entstehungsbedingungen verweigert, ist, wie sehr der öffentliche Raum im Verschwinden begriffen ist. Die Sorge um sich selbst und das eigene Aussehen ist auch einer massiven Privatisierung der Orte und Räume geschuldet, aus denen, wer stört - und das heißt: nicht als Kunde in Frage kommt - gnadenlos vertrieben wird. Sebastian Heidinger berichtet, dass dies nicht nur seinen Protagonisten, sondern dem ganzen Team oft und oft widerfahren ist.

Die Wirkung, die der ästhetische Zuschnitt des Materials als Dokumentation mit angedeuteter Spielfilmformatierung hat, ist nicht so einfach zu beschreiben. Von der dokumentarischen Seite her stellt sich eher etwas wie ein Verfremdungs-Effekt ein. Selbst als Berlin-Bewohner erkennt man die Stadt als Hintergrund dieser fremden Leben kaum wieder. Oder, anders: Man sieht, was man kennt, aber es nimmt sich mit einem Mal anders aus. Und aus der wie in einer merkwürdigen Kippfigur gleichfalls vorhandenen Spielfilm-Perspektive ist das "Spiel" der Figuren merkwürdig ungeschlacht, unbehauen - ohne dass sich deshalb etwas wie ein gewollter Authentizitätseindruck herstellte. Es ist nicht ganz klar, ob Sebastian Heidinger genau diese Wirkungen angestrebt hat oder ob sie sich dank der gewählten Methode unversehens eingestellt haben. Das ist aber auch keine entscheidende Frage. Wichtiger ist, dass "Drifter" ebend deshalb eine sehr interessante Seh-Erfahrung ist.

Che - Revolucion. Frankreich / Spanien / USA 2008 - Originaltitel: Che - El Argentino - Regie: Steven Soderbergh - Darsteller: Benicio Del Toro, Demian Bichir, Santiago Cabrera, Elvira Minguez, Jorge Perugorria, Julia Ormond

Drifter. Deutschland 2007 - Regie: Sebastian Heidinger - Darsteller: (Mitwirkende) Aileen, Angel, Daniel