Im Kino

Durch eine Tür

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
08.07.2009. Sacha Baron Cohen schickt in seinem neuen Film "Brüno" einen schwulen österreichischen Modejournalisten durch die Welt und beweist dabei wenig bis nichts. Außerdem kommt der Howard-Hawks-Klassiker "Tote schlafen fest" mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall wieder ins Kino, in dem Philip Marlowe durch viele Türen geht.

Nur zu Beginn ist Brüno das, was die Schatten, die die PR-Maschine vorauswarf, verhießen: ein schwuler österreichischer Modekritiker, der mit gezielter Unbeholfenheit die Laufstege Europas unsicher macht. Der, spektakulärstes Beispiel, als Farbkissen mit schwarzem Vorhang-Cape in eine Modenschau platzt bzw. unter die Models buchstäblich fällt. Die bessere Gesellschaft am Rande des Laufstegs ist erwartbarer Weise entsetzt. Die Welt der Mode ist der Satire der unfeinen Art, die Sacha Baron Cohen bevorzugt, kaum zugänglich. Wo erklärtermaßen alles Schein ist, gibt es nichts zu entlarven. Der Spaß, den es bereitet, einen wie Brüno in diese feine und dumme Gesellschaft brachial hineinplatzen zu sehen, hält sich darum in Grenzen.

Rasch ist diese Episode denn auch vorbei. Brüno aber ist ein Mann polymorph perverser Identitäten und begibt sich an anderer Stelle auf die Suche nach seinen fünfzehn Minuten des Ruhms. Er fliegt nach L.A. und setzt Paula Abdul auf einen zum Stuhl-Ersatz umfunktionierten, auf alle Vieren befindlichen Mexikaner. Von Harrison Ford bekommt er ein herzliches "Fuck You" zu hören. Da sind wir schon in der TV-Show, die Brüno einem Test-Publikum vorsetzt. In dieser Show gibt's Geschmacklosigkeiten wie den Rat an Britney Spears' Schwester, das Kind, mit dem sie schwanger ist, wegen absehbar mangelnder Prominenz abzutreiben. Und dann kreist und wippt noch, mutmaßlich body-gedoubelt, in Großaufnahme der Schwanz von Brüno und sagt sogar was. Das Testpublikum für die TV-Show ist erwartbarer Weise entsetzt.

Weiter geht's zum Nahostkonflikt, den Brüno zu Nutz und Frommen des eigenen Ruhms lösen will. Er setzt Kontrahenten an den Tisch, singt ein Lied, nimmt ihre Hände, verulkt in schwul/orthodoxem Cross-Dressing die Orthodoxen, wird gejagt, bringt der Welt nicht den Frieden und kehrt über Afrika nach L.A. zurück. Aus Afrika eingeführt werden Elfenbein und der Fuß eines Elefanten, aber auch ein schwarzes Kind. Mit dem geht Brüno als alleinerziehender schwuler Vater in eine Krawall-Talkshow mit afro-amerikanischem Publikum. Als er erklärt, dass er seinen Sohn im Tausch gegen einen iPod erworben hat, als er hinzufügt, dass das Kind den schönen afro-amerikanischen Namen OJ trägt, ist der verbliebene Rest des Publikums erwartbarer Weise entsetzt.

Kurz gesagt: "Brüno" hat ein paar lustige Stellen, funktioniert insgesamt aber nicht. Das hat strukturelle Gründe. Ohne eine überzeugende Antwort nämlich auf die Frage, was die lustvoll tabuverletzende Brachialkomik von Sacha Baron Cohen bezweckt, wäre diese nicht mehr als eine Nummernrevue, die mit dem Gelingen einzelner Szenen mal steht und mal fällt. Ohne eine solche Antwort wäre, schlimmer noch, die Tabuverletzung nichts weiter als ein Mittel zum Zweck der Belustigung, der dann die Überschreitung aller Geschmacksgrenzen heiligt. Gewiss liegt in aller Überschreitung immer auch ein Moment der Befreiung. Allerdings hinterlässt Cohen - mutmaßlich - ehrlich verletzte Menschen. Man muss ihre Verletzungen ganz sicher nicht teilen. Dennoch bräuchten sie, um die Instant-Verurteilung zur rechtfertigen, der Cohen und Regisseur Larry Charles sie überantworten, doch etwas wie eine faire Chance.



Die bekommen sie nicht. Anders als in "Borat", wo knifflige Fragen des Umgangs mit kultureller Differenz im Modus der Groteske verhandelt wurden, ist in "Brüno" alles von vorneherein klar. Die Brüno-Figur bringt immer nur ans Licht, was sie voraussetzt: dass Schwulenhass böse, dass die Gier nach Ruhm lächerlich, dass humanitäres Engagement oft bigott ist. An keiner einzigen Stelle des Films wird man von irgendwas, das man sieht, ernstlich überrascht. Solange Cohen und Charles sich nämlich beharrlich weigern, die Vorführ-Bedigungen der einzelnen Szenen zu offenbaren, muss man immer alles für möglich halten. Indem sie den Status des Films zwischen Dokumentation und Fiktion so ganz bewusst im Unklaren halten, machen sie die Beurteilung des Verhaltens der vorgeführten Personen schlicht unmöglich. Wo alles manipuliert sein kann, wird sich nicht zuletzt der Zuschauer selbst manipuliert fühlen müssen. (Sacha Baron Cohens Trick: Er verkauft uns auch und gerade diese Manipulation noch als Aufklärung.)

Cohen und sein Doku-Komödien-Miterfinder Charles wollen in Wahrheit nur eins: den "money shot". Dieser, die Einstellung also, die ihr Geld wert ist, sieht immer gleich aus: entsetzt aufgerissene Augen und Münder. Diese "money shots" sind, so wie "Brüno" sie zeigt, nur in einer Weise lesbar: Hier ist mal wieder jemand dem Agenten der Überschreitung nicht gewachsen. Man kann in "Brüno" deshalb nur über zwei Dinge lachen. Über die Faxen und den Tabu-Verletzungs-Einfallsreichtum der "Brüno"-Figur zum einen. Das ist die "unschuldige" Slapstick-Seite, die aber dummerweise ihre Unschuld fast durchweg wieder verliert. Weil man in Wahrheit nämlich vor allem über die lachen soll, die das, was Brüno da aufführt, alles andere als komisch finden. Und weil Cohen und Charles einem das eine und das andere Lachen auf untrennbare Weise ineinander vermischt servieren, kann einem der Spaß an der Sache sehr schnell vergehen.

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Darüber, wie man den Plot eines Detektivromans vorantreibt, hat Raymond Chandler einmal gesagt: "Wenn du nicht weiterweißt, dann schicke einfach einen Mann mit einer Waffe in der Hand durch eine Tür."

36 mal geht Humphrey Bogart als Detektiv Philip Marlowe in "Tote schlafen fest" durch eine Tür, nicht mitgerechnet jene, die offen stehen. Allerdings hat er in der Mehrzahl der Fälle keine Waffe in der Hand. Die Tür und das Hindurchgehen also sind wichtiger als die Waffe, der beim Zitieren der Chandler-Stelle sonst die Aufmerksamkeit gilt. Auf die Länge des Films mit seinen 110 Minuten berechnet: Alle drei Minuten betritt Marlowe einen anderen Raum. Der Privatdetektiv ist in diesem Film vor allem eins: immer unterwegs. Er geht hinein in Häuser und wieder heraus. Er betritt Zimmer und verlässt sie bald darauf. Nicht die Begegnungen und Dialoge machen das Privatdetektiv-Sein aus, sondern das, was dazwischen liegt. Das Gehen und Rennen durch ebenso wie das Lauern vor Türen, das Eindringen, das Hindurchwollen und das Abwarten auch.

Man wird sich deshalb über den Beginn des Films nicht wundern. Philip Marlow steht vor einer Tür. "Sternwood" ist der Name darauf. Er klingelt und es wird ihm geöffnet. Dann steht er im Flur, die jüngste Tochter des Hauses wirft sich in seine Arme. Er lässt sie zurück, er geht durch eine Tür und die nächste in einen überhitzten Raum voller Orchideen, in dem sein Auftraggeber, der alte Mann namens Sternwood, der Hitze zum Trotz friert. Wenn Bogart, das Hemd durchgeschwitzt, aufsteht, hat er noch 33 Türen vor sich, jene nicht mitgerechnet, die offen stehen - wie etwa die zum Zimmer der älteren Tochter Vivian, der femme fatale des Films, gespielt von Lauren Bacall. Mit dieser verwickelt sich, zwischen dem Gehen durch die verbleibenden Türen, Marlowe in ein Verhältnis, das so uneindeutig ist, wie es sich für einen Film Noir auch gehört.



Das Dingsymbol der Bewegung ist, schon weil wir in Los Angeles sind, natürlich das Auto. 18 mal öffnet und schließt Humphrey Bogart als Philip Marlowe im Lauf des Films eine Autotür. Überhaupt wird in "Tote schlafen fest" so viel Auto gefahren wie sonst nur in Filmen von Christian Petzold. Marlowes Auto, andere Autos, etwa das jener Frau namens Agnes, die Männer verschleißt wie das arme Spiegelbild Marlowes mit Namen Harry Jones. (Der trinkt, ohne es zu wissen, Gift und lacht und stirbt.) Als Marlowe einmal ein Taxi nimmt, gibt ihm die Fahrerin ihre Karte, er dürfe sie gerne, nicht aber während der Arbeitszeit, kontaktieren. Einmal wird ein Auto aus dem Wasser gefischt mit einem Toten am Steuer. Wer den umgebracht hat, versuchten die Macher des Films, geht die Legende, per Telegramm von Romanautor Raymond Chandler zu erfahren. Der wusste es auch nicht, es ist in der Tat ausgesprochen egal.

Das mit den Türen ist eigentlich gar nicht erstaunlich. Jede Tür ist ein Spannungsmoment. Man weiß nicht, was einen dahinter erwartet. Eine schöne Frau, eine unerwartete Wendung, der überraschende Tod. In einer Szene wird das ausdrücklich durchgespielt. Marlowe kommt durch eine Tür ins Zimmer eines Manns mit Namen Joe Brody. Man redet über den zu klärenden Fall, es klingelt. Brody öffnet die Tür, herein kommt die jüngere Sternwood. Man redet über den zu klärenden Fall, es klingelt. Brody öffnet die Tür, niemand kommt herein, es fallen Schüsse, Brody sackt zu Boden, Marlowe rennt zur Tür, dem Täter hinterher. Es ist die die 22. der Türen, durch die Marlowe im Laufe des Films geht. Er hat also weitere 14 noch vor sich. These: In "Tote schlafen fest" sind die Dialoge nur Füllsel. Das deutlich als fadenscheinig erkennbare Herstellen eines Plot-Zusammenhangs dient keinem anderen Zweck, als es Humphrey Bogart als Marlowe zu ermöglichen, durch Türen zu gehen.



Eine andere Hauptbeschäftigung hat der Detektiv noch. Er grübelt, er rätselt, er denkt. Für diesen inneren Vorgang haben sich Regisseur Howard Hawks und/oder Bogart ein äußeres Korrelat ausgedacht. Jedesmal, wenn er denkt, fasst sich Bogart als Marlowe mit der rechten Hand an sein rechtes Ohrläppchen. Diese Geste wiederholt er im Laufe des Films 13 mal. Er geht also drei Mal so oft durch eine Tür wie er denkt. Er öffnet öfter eine Autotür als er ins Grübeln gerät. "Tote schlafen fest" ist, darf man schließen, der Inbegriff eines Action-Films.



Man wird sich über das Ende des Films nicht wundern. Ein Mann namens Eddie Mars (viele Männer, viele Frauen, es ist alles so kompliziert, dass man mit dem Nacherzählen besser gar nicht erst anfängt), ein Mann namens Eddie Mars geht durch eine Tür und wird davor, was man nicht sieht, weil er sie hinter sich schließt, von seinen eigenen Männern erschossen. Was man sieht, ist ein Schussmuster wie eine Schrift in der Tür auf der dem Blick des Betrachters zugewandten Seite. Der Mann namens Mars fällt dann rücklings wieder zurück durch die Tür. Bogart geht nicht hindurch (es wäre Tür Nummer 37), sondern schließt sie vorsichtig mit dem rechten Fuß. Er ruft per Telefon die Polizei und stellt sich für die abschließende Halbnahe neben Lauren Bacall. Die verwickelten Verhältnisse sind geklärt. Und doch geht sein Blick zur Tür. Dann ihrer auch. Dann blickt er zur ihr. Ihr Blick noch immer zur Tür. Dann geht auch ihrer zurück. Die Blicke, die die Liebe besiegeln, versiegeln in alle Ewigkeit die Türen des Films.





















Brüno. USA 2008 - Regie: Larry Charles - Darsteller: Sacha Baron Cohen, Richard Bey, Ron Paul, Alice Evans, Trishelle Cannatella, Sandra Seeling, Alexander von Roon, Paula Abdul, David Hill, Ben Youcef, Amy Tiehel, John Grant Gordon

Tote schlafen fest. USA 1946 - Originaltitel: The Big Sleep - Regie: Howard Hawks - Darsteller: Humphrey Bogart, Lauren Bacall, John Ridgley, Martha Vickers, Peggy Knudsen, Regis Toomey, Dorothy Malone, Charles Waldron