Im Kino

Versuchsanordnungen

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Ekkehard Knörer
09.09.2009. In "Antichrist" stellt Lars von Trier die Macht-Frage. Über die Ironie-Frage wollen wir hier schweigen. Neill Blomkamp beobachtet in seinem Science-Fiction-Film "District 9" das Auseinanderfallen einer Welt - bis der Held in Schwierigkeiten gerät. Dann geht's nur noch um Wumm.
In erhabenem Musikvideostil stirbt, schwarz-weiß und parallel montiert mit Händel und Sex und Waschmaschine, zu Beginn des Films ein Kind. Sie (Charlotte Gainsbourg) und Ihn (Willem Dafoe), namenlos für den Rest des Films beide, sehen wir in der Seligkeit gemeinsamer Lust. Mit perverser Seelenruhe montiert Lars von Trier dazu den Weg des Kindes in den Tod wie in Trance. Und damit, in der sadistischen Montage-Lust des Regisseurs, ist gleich im Prolog die bei von Trier alles bestimmende, nämlich die Macht-Frage gestellt.

Immer insistierend, immer bereit, zum Äußersten zu gehen, immer bereit auch, sich in Widersprüche und Unklarheiten zu verwickeln, fragt Lars von Trier wie in vielen Filmen zuvor so auch hier: Was heißt es, die Macht zu haben? Und was folgt aus der Macht? Was folgt aus der Ohnmacht? Und wie sind Macht und Ohnmacht ineinander gewirkt? Immer behandelt der Regisseur diese seine Grundfrage auf (mindestens) zwei Ebenen: der des Geschehens in seinen Geschichten, die in aller Regel Versuchsanordnungen sind. Und der des Verhältnisses dessen, der die Geschichten inszeniert, zu seinen (seinen?) Geschichten und vor allem den Figuren in ihnen. Manchmal bringt er, als eine Art Gott (oder Christus; oder Antichristus), sich selbst ins Spiel, dann aber als Herr und Teil der Geschichte zugleich, zuletzt in seiner überaus sprechend betitelten Komödie "The Boss of it All". Die Macht, die der Boss hat, verdankt sich hier, nichts Dialektisches ist von Trier fremd, seiner Abwesenheit. Anwesend und abwesend ist auch der Regisseur selbst, der die Kameraeinstellungen einem Computerprogramm überlässt, und zwischendurch aus einem nicht näher bestimmbaren Off spricht: einem Off, das Olymp, Regisseursstuhl, Abseits und Jenseits gleichzeitig ist. Auch in "Dogville" sprach jemand aus dem Off - im Original: John Hurt - als Setzung eines allwissenden Erzählers, dem man trauen durfte oder auch nicht.



Die Macht, dies die essenzielle These von Triers, versteht sich niemals von selbst. Sie ist, alte Geschichte von Herren und Knechten, immer schon verstrickt in ihr Gegenteil, weil der Mächtige ohne den Machtlosen ohnmächtig wäre. Aus dieser Dialektik führt kein Weg hinaus, vielmehr führen alle Wege bei von Trier nur immer tiefer in diese Dialektik hinein wie in einen tiefen, finsteren Wald. Da hilft es nichts, Brotkrumen zu streuen, da hilft es nichts, das Licht der Rationalität als Laterne bei sich zu tragen, da hilft es nichts, im Walde zu pfeifen, da hilft es nichts, Brücken hinter sich abzubrechen und die Einsamkeit zu suchen, ja, da hilft auch die abgefeimteste Ironie nicht. Ironie ist sogar das, was am wenigsten hilft. Ironie ist vielmehr die Machtfrage in anderer Form, ist, genauer gesagt, die Machtfrage als Form. Keiner nämlich bleibt Herr seiner Ironie. Ironie ist das, was die Position dessen, der spricht, sobald er es - und sei es noch so laut und machtvoll - ausgesprochen hat, selbst in Frage stellt. Als Ironie frisst sich die Ohnmacht in die Macht, zersetzt die Macht und ihre Souveränität, führt von einer Ironie zur nächsten und wer ironisch spricht, wird am Ende der Ironie ein anderer sein als der, der im Anfang mit noch so großer Macht und Kraft die Ironie in die Welt gesetzt hat. Darum ist es auch so verdammt schwer, wenn nicht unmöglich, dem Mega-Ironiker von Trier eine Position, eine Haltung, eine Ideologie zuzuschreiben: Er ist, souverän ironisch, immer schon wieder woanders. Kein Dogma gilt ewig. Keine Regel bleibt ohne Ausnahme. Und wenn dann, zu guter Letzt, die Ironie selbst zu sprechen beginnt, mit wessen Stimme auch immer (oder auch, wie in der Geschichte vom "Kannitverstan": als "Wessenstimmeauchimmer"), hat sie nur eines zu sagen: "Chaos regiert". So wird, nur zum Beispiel, in "Antichrist" Wessenstimmeauchimmer ein Fuchs. Listig spricht der Fuchs, wie Füchse nun einmal listig sind, aber es ist die List der ironischen Vernunft, die hier die Wahrheitsworte spricht: "Chaos regiert".



Fangen wir deshalb noch einmal von vorne an. Vergessen wir den Prolog, das Schwarz-Weiß, Händel, den Schwanz in der Vagina (nicht so leicht zu vergessen, diese Großaufnahme), vergessen wir das engelgleich stürzende Kind (nicht so leicht zu vergessen, diese Zeitlupe), vergessen wir die Obszönität der lustvollen Parallelmontage, die Musikvideostilisierung. Aus, vorbei, noch mal von vorne. Lassen wir uns auf die Ironie gar nicht erst ein. Sprechen wir, ganz einfach, einfacher geht es nicht, von Ihr und von Ihm, die das Typische selbst sind, ohne individualisierenden Namen. Sie bricht zusammen am Grab ihres Kinds. Er ist bei Ihr, Er bleibt bei Ihr, Er ist und wird Ihr Therapeut. Und als Therapeut ist Er die Axt im Haus, die den Zimmermann... - nein, nein, fangen wir gar nicht erst damit an, in Sprichwörtern und Figuren zu reden. Am Ende werden sonst ironischerweise metaphorische Äxte noch zu ganz realen.



Es ist doch so einfach: Er hat Sie. Sie hat Ihn. Er ist Ihr Mann. Er ist Therapeut. Er ist dann Ihr Therapeut als Ihr Mann. Er hat die Macht des Experten. Er hat die Macht der Sprache. Er fickt sie, als Therapeut, als Mann, wir haben die Großaufnahme vergessen, wir haben die Zeitlupe vergessen, einzig Sie, die Sie doch das eine wie das andere nicht gesehen hat, Sie allein kann beides niemals vergessen. Das Trauma sitzt fest, wie eine Großaufnahme, wie eine Zeitlupe. Dabei hat Sie beides, anders als wir, niemals gesehen. Er hat die Sprache und Er will nicht mit Ihr schlafen und dann tut Er es doch. Er tut also nicht, was Er sagt. (Das vergessen wir. Das wäre doch wieder Ironie: etwas anderes sagen, als man meint. Etwas anderes tun, als man sagt.) Er hat die Macht, Sie zu heilen. Er hat die Macht, Sie mit der Sprache zu heilen. Er hat die Macht, Seine Macht zu missbrauchen. Geschlechterverhältnisse, Therapeutenverhältnisse, Sprachverhältnisse, Machtverhältnisse. Was könnte einfacher sein als diese Zweisamkeit.

Wir haben großes Glück gehabt. Wie man es, im tiefen Wald, in der Hütte, in Eden, auch wendet und dreht: Lars von Trier ist ganz aus dem Spiel. Nur noch Er und Sie. Wenn das nicht das Paradies ist: Ein Lars-von-Trier-Film ohne Lars von Trier. Kein "Boss of it All". Keine Stimme aus dem Off, keine sadistische Parallelmontage. Der reine Zweikampf. Aufs Blut, aufs Messer, aber: ein Duell. Kein Dritter im Spiel. Keine Inszenierung mehr, keine Setzung mehr: Er und Sie, allein im finsteren Wald, in dem keiner mehr pfeift. Der Prolog ist vergessen. Die Kapitelüberschriften vergessen wir gleich hinterher. Wir vergessen die Eicheln, deren Hagel tock-tock-tock aus dem Jenseits dieser Geschichte auf diese Geschichte niedergeht. Wir vergessen den Raben, der doppelt und dreifach totgeschlagen immer noch weiterkrächzt mit wessenstimmeauchimmer. Und die Fabel von den "Drei Bettlern": vergessen. Was für ein Segen. Der Film selbst vergisst seinen Prolog und er vergisst, anders als zuletzt noch in "The Boss of it all", auch seinen Regisseur. (Nun gut: "Ich bin Sie", sagt Lars von Trier, in Interviews. "Ich verfilme meine eigene Depression." Aber das vergessen wir auch gleich wieder. Denn dann steckte er ja doch wieder drin, ganz tief drin, tiefer drin als in all seinen anderen Filmen. Nein, das vergessen wir gründlich, abgrundtief gründlich. Nehmen wir einfach an: Er meint das ironisch.)



So, alles glücklich vergessen. Irgendwas war da noch mit einem Schleifstein. Irgendwas war da noch mit einer Klitoris. Irgendwas war da noch mit einem Schwanz, aus dem Blut spritzt. Nun ist's gesagt. Und durch Benennung: vergessen. Stille. Wessenstimmeauchimmer: schweigt. Kein Pfeifen im Wald. Kein Krächzen der Raben. Kein sprechender Fuchs. Der Schleifstein wird nicht den Berg hinauf gewälzt, Mal für Mal. Mit einem Wort: Wir haben uns den Regisseur Lars von Trier, wir haben uns Ihn und Sie und wir haben uns am Ende des Films sogar Uns als glückliche Menschen vorzustellen. Das haben wir sauber hingekriegt. Ganz und gar leer aus geht da die Ironie. Deshalb, bevor einer widerspricht: Finis. Vielmehr: Was für ein Happy End!

Ekkehard Knörer

***

"Wie man eine Welt erbaut, die nicht nach zwei Tagen wieder auseinander fällt", hatte Philip K. Dick dereinst einen Vortrag überschrieben. Und selbst wenn der große SF-Autor darin eher seine Psychosen reflektiert als eine Anleitung für angehende Autoren zu bieten, hat er damit doch eine der grundsätzlichen Herausforderungen jeglicher Phantastik auf den Punkt gebracht: Der künstlerische Erfolg hängt zum Gutteil von der Plausibilisierung im selbst gesteckten Rahmen der vorgetragenen Unwahrscheinlichkeiten, vom "World Building" im Allgemeinen ab.

Die Unwahrscheinlichkeiten im südafrikanischen Science-Fiction/Horror-Grenzgänger "District 9", den Peter Jackson ("Herr der Ringe") werbewirksam als Produzent unter seine Fittiche genommen hat, sind zwar altbekannt - eine riesige Raumstation mit einer millionenstarken Kolonie insektenähnlicher Außerirdischer erscheint am Himmel -, doch die Vorzeichen sind andere: Nicht New York oder Washington, Johannesburg ist der Ort des Geschehens und die Wesen aus dem All führen keine Invasion im Schilde, sie sind apathische Gestrandete, ein Heer von Flüchtlingen, die um Asyl bitten, eine Multitude buchstäblicher Aliens von der äußersten Peripherie. Und: Dies geschah vor über 20 Jahren.



Seitdem dräut die Station über der Stadt, unerreichbar für die Menschen, die direkt darunter im Ghetto aus Wellblechhütten, Schrott und Pappe mehr siechen als leben. Schwarzmarkt, Waffenhandel, Prostitution und mafiöse Strukturen florieren zum lautstark geäußerten Unmut der Bevölkerung. Die Lösung der brodelnden Spannungen: Eine mit erheblichem Aufwand von einem Konzern durchgeführte Massenumsiedelung in neue "Happy Homes" - andere sagen: Eine Deportation ins Konzentrationslager.

Damit seine Welt nicht auseinander fällt, bedient sich der aus Kanada in seine alte Heimat zurückgekehrte Spielfilmdebütant Neill Blomkamp eines Kniffs, dessen Wirkung er schon im thematisch ähnlichen Kurzfilm "Alive in Joburg" erprobte und der sich im Horror/SF-Kino derzeit ohnehin einiger Beliebtheit erfreut: Eine subjektive Kamera ist über weite Strecken unmittelbarer Bestandteil des Geschehens, embedded journalism sozusagen, der auch das aufzeichnet, was zur Produktion offizieller Bilder später meist geschnitten wird. Daneben skizziert und erdet News Footage die Ausmaße des Szenarios, Soziologen und andere Koryphäen kommentieren in Ausschnitten einer fiktiven Dokumentation rückblickend das Geschehen.



Diese Manöver, die im parallel montierten, wechselseitigen Kommentar vom Subjektiven aufs Allgemeine schließen lassen, sind, im Verbund mit dem sorgfältigen Production Design - die Ironie des Schicksals wollte es, dass für "District 9" ein gerade geräumtes Ghetto als Kulisse zur Verfügung stand - und den dezent eingesetzten Computereffekten, zunächst ungeheuer effektiv und der soziale, satirische Kommentar, den gute Science Fiction mitunter auszeichnet, erfreulich gallig.

Und dennoch, es bleiben Manöver zur bloßen Exposition, deren Strategien nie zum Motor des Films - wie etwa zuletzt in "[Rec]" oder "Cloverfield" - werden. Schon bald fällt Blomkamp ins herkömmliche Fabulieren zurück: Der zwar herzige, aber auch sehr kleinbürgerliche Schreibtischheld Wikus (Sharlto Copley), der mit der Durchführung der Operation beauftragt ist, kommt dabei mit einer Flüssigkeit in Berührung, die ihn zum Mensch/Alien-Zwitter und damit zum heißbegehrten Forschungsobjekt skrupelloser Wissenschaftler werden lässt, und muss sich fortan selbst dem Zugriff der Räumungseinheiten entziehen.

Statt das komplexe "World Building" weiterzuführen, sucht Blomkamp in diesem eigentlichen Plot, der viel von dem beiseite wischt, was vorher lang etabliert wurde, nur die Spannung zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Verborgenheit und Hetzjagd, zwischen Fadenkreuz und Explosion. Seinen guten Prämissen zum Trotz ist "District 9" zwar ein mit Anspielungen auf Horror- und SF-Kino reich gespickter, letztlich aber eher doch gewöhnlicher Actionfilm. Seinen faszinierenden Beginn - hilflos wie erschrocken muss man dabei zuschauen - verschenkt Blomkamp für ein an Hollywood adressiertes Bewerbungsschreiben. Für das allegorische Potenzial des Straßenkampfes vor zertrümmerter Kulisse unter gleißender Sonne, für den Subtext seiner Story, interessiert er sich nur gerade soweit, wie sich darin große und größere Wummen verstecken lassen, auf deren Anwendung das Spektakel es schlussendlich auch beruhen lassen will.



Zugegeben, dies geschieht auf beträchtlichem Niveau und "District 9" fällt als Genrefilm markiger aus als jüngste US-Blockbuster. Auch der bisherige Erfolg des Films, zumal unter den Nerds der imdb-Community und beim Publikum des Fantasy Filmfests, das den Film vorab präsentierte, macht offensichtlich, dass "District 9" als von viralen Marketingkampagnen lange vorbereiteter Hype einigen Erwartungen sehr gerecht wird. Da unter solchen Bedingungen ein Franchise unausweichlich ist, bleibt abschließend zu hoffen, dass richtige und fähige Köpfe auf das hier schlummernde Potenzial bereits aufmerksam geworden sind: Eine sorgfältige Adaption durch das US-Fernsehen, das den öden Actionballast als solchen über Bord wirft und den kaum ausgeschöpften Stoff vielleicht sogar im Stil von "The Wire" als Möglichkeit zu einer soziologischen SF-Studie zu nutzen versteht, deren Welt eben nicht unter Getöse wieder auseinander fällt, eine solche Serie also wäre zweifellos atemberaubend gut.

Thomas Groh

Antichrist. Deutschland / Dänemark / Frankreich / Schweden / Italien / Polen 2009. Regie: Lars von Trier - Darsteller: Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg

District 9. USA / Neuseeland 2009. Regie: Neill Blomkamp - Darsteller: Sharlto Copley, Jason Cope, Nathalie Boltt, Sylvaine Strike, Elizabeth Mkandawie, John Summer, William Allen Young, Greg Melvill-Smith, Nick Blake