Im Kino

Der Country des BWLers

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
07.10.2009. Um Familienbande im amerikanischen Hinterland geht es dem Indie-Film "Shotgun Stories", Jeff Nichols' erstaunlich souveränem Debüt. Alles andere als souverän ist Marko Doringer, der im Dokumentarfilm "Mein halbes Leben" nüchtern und nicht ohne Ironie Bilanz des Erreichten zieht, bei sich und bei Freunden.
Wulstige Blasen auf dem Rücken: ein von Schrotkugeln gezeichneter junger Mann (Michael Shannon). Er sitzt, er steht, er geht, als trüge er das Gewicht der Welt. Nichts ist leicht für ihn, nicht die Hoffnung, die er noch nicht aufgegeben hat, nicht die Verachtung für das Leben im Niemandsland, seiner Vaterstadt. Unter den starken Brauenknochen lauert etwas, das sind die Augen, aber sie blicken um sich, als trauten sie keinem. Der Mund ein wie grob mit dem Messer gezogener Schlitz, etwas Überbiss, die Worte und Sätze, immer knapp, kämpfen sich eher ins Freie, als dass er sie spricht. Tonlos, aber nicht weil ein Gefühl fehlt, sondern weil er jedes Gefühl unterdrückt.



Am liebsten würde er, denkt man, seine Worte spucken, nicht sprechen, und man wundert sich nicht, dass er dann, womit das Drama beginnt, den toten Vater verflucht und auf den Sarg des Vaters tatsächlich spuckt. Das ist der Sohn. Er steht und sitzt in verlassener Landschaft, Arkansas Hinterland. Die Sonne geht unter, in aller Ruhe, der Wind rauscht in den Bäumen, ein Rasen wird gemäht, Autos fahren vorbei, in seinem Pickup ist die Beifahrertür eingedrückt, im Hintergrund ein Zugsignal als amerikanisches Urgeräusch. Das ist der Sohn seines Vaters, er hat keinen anderen Namen, damit beginnt es, als eben diesen: Son Hayes. Alle nennen ihn Sohn, dabei hat er schon lang keinen Vater mehr.

Vor der Tür steht, es ist Nacht, die Mutter des Sohns. Der Vater ist gestorben, die Frau steht im Schwarzen, der Sohn steht in der Tür des Hauses, sie blicken sich an, nicht mit Liebe, sondern mit Hass, aber einem Hass, der in langjähriger Übung abgenutzt ist. Die Frau wendet sich ab, ins Schwarze, der Sohn geht zurück ins Haus, da ist Licht. Sie teilen sich die Einstellung nicht, man sieht ihn im Hellen, man sieht sie im Dunkeln, es trennt sie immer ein Schnitt. Der Sohn hat zwei Brüder, auch sie ohne eigene Namen, Kid und Boy. Kid lebt ihm Zelt im Garten des Hauses, Boy hat kein Haus, er schläft jetzt auf der Couch, nachdem Sons Freundin, sie haben einen gemeinsamen Sohn namens Carter, ihn wieder einmal verlassen hat, weil er das wenige Geld, das er auf der Fischfarm verdient, ins Casino trägt, das sich in einem Boot, das am Fluss liegt, befindet. "Ich spiele nicht. Ich habe ein System" sagt er später. Es kann einer das Gewicht der Welt auf den Schultern tragen und ist doch nicht Herr seines Tuns.



Der Vater hat die Familie, die drei Söhne (Son, Boy, Kid), die Mutter, vor Jahren verlassen. Damit hat es begonnen. Er ist vom Trinker zum frommen Christen geworden, hat am selben Ort eine neue Familie gegründet, vier weitere Söhne gezeugt, großgezogen, geliebt offenbar, sie tragen richtige Namen (Cleaman, Mark, Stephen, John). Die alte Familie hat er behandelt, als gäbe es sie nicht. Jetzt ist er tot. Zur Beerdigung ist die zweite Familie versammelt, der Priester spricht salbungsvoll, die Söhne tragen Hemd und Krawatte. Der Tote war ihnen liebender Vater. Kid, Boy und Son nähern sich von der Seite dem Baldachin über dem Grab, der gegen den Regen dort aufgebaut ist. Sie tragen Alltagskleidung, Jeans, T-Shirt, in den Gesichtern, in Sons Gesicht jedenfalls, steht der Hass. Son schleudert dem Vater, der tot ist, der Familie des Vaters, die nicht die seine ist, die Verachtung entgegen. Dann spuckt er auf den Sarg, eine Rangelei, sie gehen davon, unversöhnt. Du hättest uns sagen sollen, was du vorhast, klagen die Brüder gleich darauf im Auto. Ich wusste es selbst nicht, sagt Son. Damit beginnt es.



Was beginnt, ist eine Fehde der beiden Familien des Vaters. Ein Schlangenbiss, der Hund - er heißt Henry - wird begraben. Blut fließt. Alle laden Schuld auf sich und der Film wird zur Meditation über die Frage, wie man aus dem Teufelskreis der eskalierenden Rache und Gegenrache entkommt. Oder man muss sagen, weil es ja ein Leichtes ist und manchem Mann doch unmöglich, aus einem solchen Teufelskreis zu entkommen: Der Film kennt Gnade mit seinen Figuren, bevor alles zu spät ist. Jeff Nichols, Jahrgang 1978, um dessen Debüt es sich bei "Shotgun Stories" handelt, tut dabei zum Glück niemals so, als wäre er der erste, der eine solche Geschichte erzählt. Auch der amerikanische Independent-Film wird nicht neu erfunden. Eher ist den Bildern aus dem amerikanischen Süden anzusehen, dass es ihresgleichen lange schon gibt. Der Kritiker der französischen Zeitung Liberation schreibt, der Film sei wie ein gelungener Country-Song. Das ist völlig richtig. Irgendwie immer dieselbe Geschichte: Vater tot, Frau weg, die selbstgerechte Melancholie weißer Männer, die glauben, sie müssten tun, was ein weißer Mann tun muss. Und doch kriegen sie einen immer wieder. (Mich jedenfalls.)

Souverän ist Nichols gerade darin, dass er nach Originalitäten nicht sucht. Er entwirft Porträts in andeutenden und zugleich klaren Strichen. Er gibt jeder Schwere eine Spur Leichtigkeit. Er setzt auf Glut eher als Feuer. Und darauf, Stimmungen, Stimmen, die Landschaft im Breitwandbild, das alles andere als Freiheit signalisiert, beim Betrachter einsinken zu lassen. Darum lässt er sich Zeit. Darum öffnet er das Bild für die Töne des Hintergrunds, für die runtergerockte Stadtlandschaft und die Natur, die auch keinen tröstet. Weil er nicht tragische Wucht will, sondern eine mittlere Tonlage findet, weil er auch die Darstellung der Gewalt mit sanfter Eliptik auf das Nötige reduziert - darum nimmt man ihm seine Figuren und seine Geschichte tatsächlich ab.

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Und noch so ein Melancholiker. Marko Doringer heißt er, aus Österreich kommt er, in Berlin lebt er, Filmemacher ist er - oder will er jedenfalls sein - und nun wird er dreißig. Er zieht Bilanz, dafür sind solche Schwellen wohl da, und die Bilanz fällt schlicht und ergreifend vernichtend aus. Aus dem Off spricht er zu uns. Ich habe, sagt er, in meinem Leben nichts erreicht. Studium abgebrochen, sich durchgeschlagen, als Regisseur nicht reüssiert. Das halbe Leben vorbei, nichts vorzuzeigen, der erste Backenzahn eben gezogen, der Freund des Vaters rät ihm wohlmeinend zur Umschulung in Richtung Pflegeberuf. Voila, die Melancholie des weißen Mannes, mitten unter uns, wenn auch nicht ohne Selbstironie. "Mein halbes Leben" ist ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2008.

Zwischenbilanz mit Folgen. Doringer schnallt sich die Kamera auf den Kopf und trägt sie und damit unseren Blick mit sich rum. Es beginnt eine Expedition in den Alltag, den eigenen auch, vor allem den aber der anderen. Er sucht nämlich Freunde auf, solche, zu denen er Kontakt gehalten hat, andere, zu denen er sich irgendwann verlor. Da ist Martin, Redakteur einer Sportzeitschrift, recht erfolgreich eigentlich, aber auch er unzufrieden mit seinem Leben. Der Sport interessiert ihn nicht mehr, Schriftsteller will er werden, drum steigt er erst einmal aus. Auch nach Südafrika folgt ihm Doringer, unser Mann mit der Kamera auf dem Kopf.



Da ist Thomas, der BWL studiert hat. Er hat einen Job bei einer bulgarischen Firma, ist selten zuhause bei Frau und Kind, und in Sofia verhandelt er nur und geht mit den Kollegen was trinken, für anderes bleibt unter der Woche keine Zeit. Glücklich ist er nicht, die Heavy-Metal-Band "Shapeless", deren Sänger er war, hat er aufgegeben. Der Sinn des Lebens, behauptet er, fast eher trotzig als voll und ganz überzeugt, ist die Familie. Dafür tut er das, arbeitet hart, schimpft über den bulgarischen Hang zur Bürokratie. An den alten Rollenzuschreibungen - Mann arbeitet, Frau bleibt mit Kind zu Haus - hält er fest, durchaus freundlich. Schließlich ist er alles andre als ein Macho, denn, come on, wer nennt denn eine Heavy-Metal-Band "Shapeless". Ein nicht mehr ganz Junger, nie wirklich Wilder, ein etwas läppischer Konservativer mit schlechtem Gewissen. Vielleicht ist Heavy Metal der Country des BWLers.

Da ist Katha, sie will ein Kind, auch von Ingo, der schläfrig ist, wo sie wach ist, aber doch noch nicht jetzt. Sie hat erste Erfolge als Mode-Designerin, sie fertigt in kleiner Stückzahl, Unikate, die Sachen, die man so sieht, sehen ziemlich klasse aus. Kann man sich auch auf ihrer Website km/a ansehen. Das Schöne - und Unheimliche - an Dokumentarfilmen ist: Man kann die Leute googeln, kann vielleicht sogar sehen, wie es weiterging mit ihrem Leben. Oder mindestens: Man findet sie wieder, man staunt auch ein wenig, dass es sie wirklich gibt. Irgendwie geht ein Riss durch diese Person, die an einer anderen Schwelle zu stehen scheint, der zum Erfolg. Der Riss ist: Auch sie zweifelt, kämpft mit Impulsen, die sie mal hier-, mal dorthin zu drängen scheinen. Man wundert sich nicht, dass sie dann schwanger ist, gegen ihren Willen. Aber natürlich sind das so Ferndiagnosen, die die doch auch falsche Nähe hervorbringt, die ein Film wie "Mein halbes Leben" erzeugt. Ein bisschen "Big Brother" ist das durchaus. (Aber als tolles, spannendes Format.)



Eine Ex-Freundin gibt es noch und die Eltern. Letztere sind der Horror, der Vater überprotektiv und überfordernd und absicherungsfanatisch und dabei zugleich brutal das Selbstbewusstsein des Sohnes zersetzend. So stellt sich das dar. Es ist kein freundliches Porträt, aber man denkt, das hat der Vater nicht anders verdient. Dagegen, solche Urteile zu fällen, kann man sich kaum wehren. Dafür geht der Film einfach zu nah ran. Dafür fragt er zu direkt und zu persönlich die Porträtierten nach intimen Dingen. "Mein halbes Leben" macht da keine halben Sachen. Es geht sehr grundsätzlich darum, was einer und eine vom Leben erwartet. Darum, was einer, was eine tut, um das Erwartete auch zu erreichen. Darum, was gelingt und ob man zufrieden ist mit dem, was gelingt. Und eigentlich weichen Martin und Katha und Thomas und als der, der sich in ihnen spiegelt, auch Marko den Fragen nicht aus. Es sind Fragen, die sich alle Beteiligten - und oft, scheint's - selbst stellen. Sie gleichen sehr nüchtern das Erreichte mit dem Erhofften ab. Manche ändern ihr Leben, andere zögern und Thomas rechnet sich das Ergebnis vielleicht schön.

Einerseits ist natürlich klar, dass einer wie Marko Doringer eher offene, brüchige Menschen wie diese zu Freunden hatte und hat. Andererseits will einem das dennoch als Porträt eines Lebensgefühls vorkommen, dessen Zeit und dessen Ort spürbar unsere Gegenwart ist. Es scheint mir nicht falsch zu sagen, dass diese Personen bei aller - und gerade angesichts ihrer fast schon übersteigerten - Individualität auch typisch sind für einen gar nicht so geringen Teil der Generation, der sie angehören. Und weil die Fragen, die sich stellen, so grundsätzlich sind; weil der Film so nüchtern, fast ein wenig schonungslos ist, bleiben die Momente natürlich nicht aus, in denen man auf die Leinwand blickt und der da hadert und zweifelt und Bilanz zieht, ist, als wäre sie ein Spiegel, man selbst.

Shotgun Stories. USA 2007 - Regie und Buch: Jeff Nichols - Darsteller: Michael Shannon, Douglas Ligon, Barlow Jacobs, Michael Abbott Jr., Travis Smith, Lynnsee Provence, David Rhodes, Glenda Pannell, Natalie Canerday, Coley Canpany

Mein halbes Leben. Österreich / Deutschland 2008 - Regie: Marko Doringer - Darsteller: (Mitwirkende) Marko Doringer, Katha Harrer, Martin Obermayr, Thomas Berger
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