Im Kino

Schönere Störung

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
11.11.2009. In "Kapitalismus. Eine Liebesgeschichte" wählt sich Michael Moore diesmal gleich den Kapitalismus im Ganzen als Zielscheibe seiner populistischen Agitatorik: ein Gegenstand, den nicht mal ein Schrotgewehrschütze wie er so richtig verfehlen kann. Almut Gettos Liebesgeschichte "Ganz nah bei dir" dagegen muss man gesehen haben, um zu glauben, was für Drehbücher hierzulande so durchgewinkt werden.


Alles, was gegen Michael Moore gesagt wird, ist richtig: Er ist ein Populist, der nach Beispielen, Argumenten, Zustimmung, Zitaten, Ausschnitten greift, wo er sie findet und in seinen Film-Pamphleten dann sehr skrupellos einsetzt, ganz wie es ihm passt. Sein Stil, seine Methode sind rein boulevardesk: Er bietet nicht mehr als simple Reiz-Reaktionsmuster und ersetzt Analyse durch Schlagzeilen, in seinem Sinn zurechtgebogene, jedenfalls vereinfachte Fallbeispiele und bevorzugt allemal Attacken ad hominem, wo es ihm ad rem zu kompliziert wird, also praktisch überall und immer. Der Begriff Totschlagargument ist wie für ihn erfunden und vor verlogenem Witwenschütteln und krassen Sentimentalitäten schreckt er sowieso nicht zurück. Man glaubt ihm aufgrund der Präsentation seiner Behauptungen noch da nicht, wo man auf seiner Seite steht und nur zu gern glauben möchte, es wäre stichhaltig, was er sagt. Moore ist außerdem die Eitelkeit in Person, ein Mann, der sich für das Geschenk Gottes an den Aufklärungsjournalismus hält und diesen Glauben massiv vor der eigenen Kamera in Szene zu setzen versteht.

All das ist zweifellos richtig. All das macht Michael Moore und seine Filme oft unerträglich. All das stimmt im Prinzip auch für sein jüngstes Werk, sein nicht nur im Titel weit ausholendes Pamphlet "Kapitalismus. Eine Liebesgeschichte". Und doch. Beinahe könnte man diesmal sein Vergnügen haben an Moores Pamphlet. Nicht dass Moore zum Klassentheoretiker gereift wäre, ein mehr als nur oberflächliches Interesse an soziologischer oder ökonomischer Analyse entwickelt hätte oder auf die penetrante - wenngleich dann doch immer wieder lustige - Selbstinszenierung als Gewissen eines gewissenlosen Systems verzichtete. Natürlich nicht, denn schließlich ist das sein Erfolgsrezept, inzwischen höchst erfolgreich nachgeahmt etwa vom Atheismus-Comedian Bill Maher und anderen, die diese Form populistischer Agitdoc-Spaßguerilla als einträgliches Geschäft entdeckt haben.



Und doch. Manchmal spricht, was Moore an Abscheulichkeiten aus dem kapitalistischen Alltag der USA ausgräbt, was immer er dann selbst damit anstellt, wie immer er es zum ihm passenden Argument auch zurechtbiegt, einfach für sich. Die von eigener Hand als Zeugnis angefertigten Videoaufnahmen einer Familie etwa, die sich weigert ihr Haus zu verlassen und sich, als die Polizei anrückt, darin verschanzt. Die Solidaritätsaktionen in einem von der Stilllegung bedrohten Betrieb. Ein leerstehendes Gefängnis in der amerikanischen Provinz. Ein haarsträubend durch Richterkauf zusammenbestochenes Kinderstraflagerunternehmen. Lebensversicherungs-Wetten von Unternehmen auf den Tod ihrer Mitarbeiter. Man muss gar nichts weiter glauben, als dass dergleichen geschieht (oder geschah) und dass dergleichen nicht als Auswuchs, sondern als immanentes Funktionieren des systemischen Kapitalismus so passiert. Und für einmal zielt Michael Moores wüster Rundumschlag unweigerlich wieder und wieder ins Schwarze, schon weil das Schwarze, auf das er zielt, so umfassend und groß ist: dass nämlich eine fortgeschritten kapitalistische Wirtschaftsordnung die Anreize und Grundlagen für die von Moore vorgeführten Ungeheuerlichkeiten (oder, um das mindeste zu sagen, Unbarmherzigkeiten) systematisch kreiert und schafft, wird nur deren glühendster Verehrer angesichts dessen, was die Finanzkrise für jeden sichtbar gemacht hat, noch bezweifeln.

Es kommt dazu, dass "Kapitalismus. Eine Liebesgeschichte" immer mal wieder ziemlich fetzt. Was schon mit dem Vorspann beginnt, einer rasant montierten Collage von Videoüberwachungs-Banküberfall-Bildern und darunter legt Moore Iggy Pops trocken-harsche Version des Rockklassikers "Louie Louie". Und in der Wahllosigkeit, mit der Moore auf Bildmaterial aller Art zurückgreift (Super-8-Privatfilme, CCTV-Material, Video-Aufnahmen, Werbeclips, historische Fernsehansprachen etc.), nähert er sich fast schon Experimentalfilmmethoden - um dann natürlich wieder mit aller Gewalt dies verstreute Material an den Evidenz-Körper Moore, seine Stimme aus dem Off, seine Auftritte im On, an seine populistischen Thesen und schlichten Ursache-Wirkungs-Behauptungen rückzukoppeln. Dass ihm dies angesichts des Überformats seines Themas, der Heterogenität seines Materials nicht wirklich überzeugend gelingt, dass "Kapitalismus. Eine Liebesgeschichte" ein in sich alles andere als geschlossenes Sammelsurium ist: das ist den Verhältnissen, die er anklagt, im Endeffekt sehr viel angemessener, als ein populistischer Simplifikateur wie Michael Moore selbst je begreifen wird.

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Ein brav geschniegelter Mann, der sein Geld damit verdient, gefälschte Euro-Scheine zu prüfen und nach ihren Herkunftsländern zu sortieren; der jeden Morgen von seiner Hemdaufblas-Bügelmaschine geweckt wird mit der Ansage "Die Betriebstemperatur ist erreicht"; der aus nicht wirklich einsichtigen Gründen Buster Keaton verehrt und davon träumt, einmal selbst als Komödiant auftreten zu können; der im richtigen Leben ein schlimmer Stinkstiefel ist, der die Leute, die ihm begegnen, immer erst mal vor den Kopf stößt und der entsprechend auch keinen Freund hat außer seinem Analytiker und einer Schildkröte namens Paul, mit der er sich vorzugsweise identifiziert. Das ist Phillip (Bastian Trost), der Held des vorliegenden Films, und also eine von jeder auch nur zufälligen Ähnlichkeit mit dem in der Wirklichkeit Möglichen gewaltsam befreite Figur.

Fehlt nur noch ein entsprechender weiblicher Konterpart aus dem Klischeereservoir. Da passt eine blinde, aber forsche Cellistin namens Lina (Katharina Schüttler) doch bestens. Mann mit Gemütsschaden begegnet Frau mit Augenschaden, Hand in Hand rennen sie nach Hause, so beginnt der per-aspera-ad-astra-Liebes- und Erlösungsparcours. Umwege müssen her und so denkt das Drehbuch sich viel Unfug und Schmarrn aus, der sich ganz sicher nicht aus einer ohnehin nicht vorhandenen Figurenpsychologie erklärt, sondern nur aus dem dringenden Wunsch, das unabwendbar glückliche Ende so lang noch hinauszuschieben, bis die Laufzeit eines Spielfilms mit Mühe und Not dann gefüllt ist. Also wird Phillips Wohnung von Dieben ausgeräumt, nur die Bügelapparatur bleibt, warum auch immer, zurück - aber was das Schlimmste ist: auch Schildkröte Paul ist verschwunden. Zwei Polizisten aus dem Stereotypenhandbuch nehmen die Ermittlungen auf. Phillip schenkt Lina eine Sonnenbrille, worauf sie ihn sehr zu recht als unsensibelsten Menschen beschimpft, der ihr jemals begegnet ist. Später kommt es noch zu einer pantomimischen Buster-Keaton-Privat-Performance vor blindem Ein-Frau-Publikum. Das ist nicht tragisch, das ist nicht komisch, das ist einfach nur noch peinlich.



"Ganz nah bei dir" könnte man getrost ignorieren, wäre er nicht Teil eines Syndroms. Von deutschen Filmen nämlich, die nichts wissen wollen über irgendeine Realität. Die aus dem Drehbuchchemiebaukasten zusammengerührt sind und dann, notdürftig zu einer halbwegs funktionierenden Geschichte ausgehärtet, an einem beliebigen Ort (ist das eigentlich Berlin oder nicht hier?) abgeworfen werden. Man vermisst den leisesten Impuls, der darauf zielte, sich mit irgendetwas an gesellschaftlicher Wirklichkeit im Ernst zu befassen. Auch und gerade der Schaden an der Seele des Protagonisten ist bloße klappernde Drehbuch-Funktion und Motivierung von hinten: für eine schöne Erlösung bedarf es einer noch schöneren Störung. Den Helden dann von einer Blinden wachküssen zu lassen, das ist im Rahmen des Happy-End-Beschaffungsbetriebs - aber nur in diesem Rahmen - eine prima Idee. Behinderung rührt erfahrungsgemäß wirkungsvoll an Herzen, die an Problemersatzstoff gewöhnt sind. Alles nur Placebo und damit Fernseh-Primetime-tauglich, Risiken und Nebenwirkungen gibt es nicht. (Und indem man das Etikett "Märchen" draufklebt, kann man auch gleich dreist alle Ansprüche an ein Mindestmaß von Wirklichkeitsnähe und genauer Figurenbeschreibung beiseite wischen.)

Und das wäre alles immer noch nur halb so schlimm, wären an einem Film wie "Ganz nah bei dir" nicht sichtlich hoch talentierte Menschen beteiligt. Vom ersten Bild an zeigt Michael Wiesweg, einer von Deutschlands besten Kameramännern, was er kann. Vielleicht ist die erste Einstellung - Regenschirme von oben - aus Johnnie Tos "Sparrow" geklaut, vielleicht nicht: wirkungsvoll ist sie, wie viele weitere, sehr genau komponierte, allemal. Und die Differenzierung der Welten in nächtlichen Schummer (mit der Lina-Figur assoziiert) und kaltes klares Tageslicht (Phillips Realität) bekommt Wiesweg ebenfalls nur zu gut hin. Auch Bastian Trost, der Hauptdarsteller, ist ein hoch interessanter Mann. Seit Jahren im deutsch-britischen Experimental-Performer-Kollektiv Gob Squad eine feste Größe, einer, dessen Horizont über biedersinnigen Quatsch wie "Ganz nah bei dir" eigentlich weit hinausreicht. Und Katharina Schüttler wird demnächst (hoffentlich auch in Deutschland) in Olivier Assayas' Fernseh-Film-Biopic des Terroristen Carlos zeigen, was sie eigentlich kann. Almut Gettos Film jedoch ist ein Trauerspiel, weil er aus alledem nichts macht, eine Bankrotterklärung auch der Entscheidungsgremien, die ein unterirdisches Drehbuch wie dieses einfach so durchgewinkt haben.

Kapitalismus. Eine Liebesgeschichte. USA 2009 - Originaltitel: Capitalism: A Love Story - Regie: Michael Moore - Darsteller: (Mitwirkende) Michael Moore, William Black, Wallace Shawn, Jimmy Carter, Marcy Kaptur, Elizabeth Warren, Baron Hill

Ganz nah bei dir. Deutschland 2009 - Regie: Almut Getto - Drehbuch: Speedy Deftereos, Almut Getto - Darsteller: Bastian Trost, Katharina Schüttler, Andreas Patton, Traute Hoess, Heiko Pinowski, Jürgen Rißmann, Aline Staskowiak, Axel Olsson