Im Kino

Der Job-Schnitter

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
03.02.2010. Fast als Vergnügen stellt es sich Jason Reitmans Komödie "Up in the Air" vor, von George Clooney als luftreisendem Überbringer schlechter Botschaften gefeuert zu werden. In Bewegung gesetzt ist auch die Heldin von Guo Xiaolus preisgekröntem Spielfilm "She, a Chinese" - er erzählt allerdings vor allem, wie man von einer Abhängigkeit in die andere gerät am Rand der Gesellschaft.

Von oben blickt der Vorspann des Films auf die Welt. Sie teilt sich in diesen Blicken in Zonen, in Landschaften, Städte, Bundesstaaten. Zur Souveränität dieses Blicks kommt ein Verfügen anderer Art, ein Verfügen nämlich über diese Bilder selbst. Wie ein Puzzle werden sie aneinandergelegt, auseinandergeschoben, neu zusammengestellt. Der Vorspann suggeriert: Souverän ist, wer von oben blickt und wer über die Bilder, die er da sieht, dann auch noch verfügen kann nach Belieben.

Allerdings, wer oben ist in der Luft, ist alles andere als mittendrin. Wir haben uns Ryan Bingham, den Luftgeist, also als einsamen Mann vorzustellen. Er ist, glaubt er, glücklich dabei. Er reist fast ohne Gepäck und macht eine Ideologie daraus und bringt sie bei Vorträgen an den Mann. Er hat ein Apartment, doch darin lebt er fast nie. Die Hotels, die Flughäfen, die Flugzeuge: die Bindungslosigkeit der Nicht-Orte unserer Zeit sind sein Aufenthaltsort, übergangsweise. "Up in the Air" beschreibt zu Beginn geradezu euphorisch diesen Zustand. Das ist interessant: Es wird durchaus plausibel, dass man von diesem Leben im permanenten Übergang tatsächlich berauscht sein kann.

Allerdings ist Jason Reitman, das hat man schon bei "Juno" gesehen, ein konservativer Regisseur, wenngleich ganz flott stets auf der Höhe der Zeit. Alle Geschichten, die "Up in the Air" aus seinem Ausgangszustand entwickeln wird, sind daher Enttäuschungs- und Bestrafungsaktionen für den lufttrunkenen Mann. Nicht subtil, aber wirkungsvoll inszeniert ist der Kontrast, den er lebt: Er ist eine Art Auftragskiller, nur dass er nicht buchstäblich tötet. Vielmehr mieten ihn Firmen, die ihren Angestellten nicht selbst beibringen wollen, dass sie gefeuert sind. Der reisende Mann ohne Bindung schneidet also Menschen von ihren Jobs los. Aber gekonnt, aber schonend. Mit der Aura des Menschenfischers tritt Bingham auf und zaubert manch Entlassenem noch im Moment seiner Demütigung ein Lächeln ins Gesicht. Dieser Schnitter hat den Charme des Verführers. Allgemeiner gesprochen sind die Souveränität und ihr Gegenteil in diesen Gesprächen geradezu emblematisch im Bild. (Und wie Reitman das wiederum, immer flott, immer lustig ins Bild setzt, macht den Zynismus deutlich, mit dem wiederum er über Menschenschicksale verfügt.)


Zwei törichte Geschichten erzählt dann, von hier aus, der Romanvorlage Walter Kirns hinzugefügt, "Up in the Air". Töricht sind sie, weil sie den Blick auf jede tatsächliche Analyse verstellen und bei sehr simplen Weisheiten - allerdings punktgenau - landen. Die lauten, zum einen: Wahres Glück ist erstens nie sonderlich groß und findet sich zweitens dann einzig im Schoß der Familie. Anders gesagt: Vielfliegen macht nicht glücklich. Bindung bringt Wärme in unsere existenzielle und kapitalistische Obdachlosigkeit. Und zweitens, das geht aber in eine ähnliche Richtung: Feuern von Menschen ist nun einmal nötig, aber wenn, dann bitte in der nicht-virtuellen Face-to-Face-Konfrontation mit Takt, Charme und Gefühl. Oder auch: Kapitalismus muss sein, aber bitte mit menschlichem Antlitz. Zwei Frauen verkörpern diese herzlich konservativen Lektionen, die der Film an seinem Helden vollstreckt. Vera Farmiga und Anna Kendrick geben diesen Lektionen, womöglich sogar in oscarwürdiger Weise, Ausdruck.

Wirklich spannend ist "Up in the Air", ein in eigentlich jeder Hinsicht mediokrer Film, nur als Symptom. Soll heißen: Die Leute lieben ganz offensichtlich haargenau das Mediokre daran. (Und George Clooney, das menschliche Antlitz noch des ärgsten Kalküls.) In den USA hat das Werk bereits ein Vielfaches seiner Entstehungskosten eingespielt und dort wie nun auch hier verzückt es einen großen Teil der Kritik. Das macht den Film zu einem interessanten Lackmus-Test. Er verkörpert eines nämlich in Vollendung: einen jede Konsequenz scheuenden Kuschelkonservatismus; rasch in die Knie gehende Gesellschaftskritik. Er tut zeitdiagnostisch, verkriecht sich in Wahrheit aber einfach unter der Decke. Analyse muss kalt sein, aber der Weg von "Up in the Air" geht nach innen, dahin, wo es so angenehm nestwarm mieft. Offen bösartig wird der Film konsequenterweise erst am Ende, wenn er Einstellung für Einstellung seinen Helden als einen, der selber schuld ist, demütigen kann. Souverän, so die These, ist nicht, wer bindungslos lebt, souverän ist nur, wer sich ohne falsche Hoffnungen als Normalsterblicher dem Gegebenen fügt.

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Auch "She, A Chinese" ist ein Film, dem man am ehesten über die vielfachen Bewegungen, die er vollzieht, näher kommt. Wo aber "Up in the Air" den ideologischen Weg nach Innen sucht, zur Familie, ins Vertraute, wo er überhaupt den Horizont USA nie übergreift, da ist "She, A Chinese", der Wettbewerbsgewinnerfilm von Locarno, ein Werk auf dem Weg nach Draußen, ins Offene. Ein Offenes allerdings, das nicht per se schon das Freie oder die Freiheit ist. Umgekehrt eher: Wie wenig die reine Bewegung, das Aufbrechen, das Nicht-Verharren, das Weiter-Kommen-Wollen mit Freiheit zu tun haben, wenn es nichts als die Bewegung von einer Abhängigkeit in die nächste ist, dies vor allem führt der Film vor.

Ihren Ausgang nimmt die Geschichte von Mei in einem Provinzkaff in China. In der Kneipe im Freien, in der sie arbeitet, hängt sie herum. Von der Mutter getadelt, vom Leben gelangweilt, von einem Mann im Kleinlaster abgeschleppt. Eigentlich wollen sie zur "King Kong"-Vorstellung, er aber fährt auf einen Abweg und vergewaltigt dort Mei. Sie muss raus, sie will weg, sie gerät an andere Männer. Einer von ihnen, in der chinesischen Großstadt, sammelt das Bargeld unter der Matratze seines Bettes. Als er in Ausübung seines Berufs als Geldeintreiber ums Leben kommt, schnappt sich Mei das Geld und flieht, up and away, mit dem Flugzeug nach London. Da ist sie nun, schließt sich einer chinesischen Reisegruppe an, schippert über die Themse und erkennt den Big Ben wieder, den sie als Fotohintergrund kennt. (Weitere Parallele zu "Up in the Air". Dort macht Ray Bingham ständig Fake-Fotografien vor Touristen-Attraktionen der USA. Für seine Schwester - die nämlich hat kein Geld für eine Hochzeitsreise: Man fügt sich, man macht das Beste daraus, man schafft sich Ersatzvergnügen und gibt sich zufrieden damit. )

Mei sucht die Konfrontation mit der Wirklichkeit. Sie ist überhaupt nicht zufrieden. Nicht mit dem, was sie hat, nicht mit dem, was sie bekommt. Sie will mehr als das. Nicht nur einen alten Mann, der sie keusch heiratet und dann lüstern betatscht. Die junge Regisseurin und Romanautorin Guo Xiaolu setzt diese Konfrontationen als nonchalante Queste in Szene. Sie erklärt ihre Heldin nicht und macht aus ihr doch kein Rätsel. Mit eigentümlicher Leichtigkeit gleitet Mei in dieser Auf- und Abstiegsgeschichte von einem Unglück ins nächste. Manches Unglück sieht zwischendurch wie eine Art Glücksfall aus, ist es dann aber nicht.


Plausibel bleibt dieses Gleiten, weil Mei im Grund selbst nicht viel mehr als ein Shifter, eine bewegliche Leerstelle ist. Eine Figur, über die man wenig erfährt. Eine leere Figur und gewiss auch eine Figur für die Leere eines globalisierten Gefühls von der Wirklichkeit. Diese Leere macht im Gegenzug fast alles, was ihr widerfährt, einigermaßen unspezifisch: Vergewaltigung, Triadengangsterei, Scheinehe, dann sogar noch Begegnung mit einem Proto-Islamisten. Ein wenig wird hier auch ein Themenkatalog abgehakt. Dass der Film daran nicht schweren Schaden nimmt, liegt aber genau daran, dass es ihm auf das Gleiten der Figur viel eher ankommt als auf die Milieus, in die sie gerät, durch die sie fließt.

Xiaolu reagiert überdies nicht mit konservativen Rückzugswünschen auf die Diagnose, sondern mit einer Lakonie, die sich eines Urteils weitgehend enthält. Eher spielerisch, ein Gestus erzählerischer Souveränität: Vorangestellt ist jeder einzelnen Episode eine Kapitelüberschrift, die weniger Ordnung schafft oder strukturiert, als dass sie das Sprunghafte dieses Erzählens selbst ausstellt. Über einzelne Dinge hat "She, a Chinese" - generisch ist schon der Titel - nichts Besonderes zu erzählen. Nur so aber gelingt dieses Experiment: Gerade in der Sprunghaftigkeit seines Erzählens, in der psychologischen Neutralisierung der Hauptfigur und im Generischen, das ihr widerfährt, gewinnt der Film seine Richtigkeit.

Up in the Air. USA 2009 - Regie: Jason Reitman - Darsteller: George Clooney, Vera Farmiga, Anna Kendrick, Jason Bateman, Danny McBride, Melanie Lynskey, Amy Morton, Sam Elliott

She, a Chinese. Großbritannien / Frankreich / Deutschland 2009 - Regie: Guo Xiaolu - Darsteller: Huang Lu, Wie Yi Bo, Geoffrey Hutchings, Chris Ryman.