Im Kino

Schweres Uffz

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh
04.03.2010. Tim Burton schickt mit seiner "Alice im Wunderland"-Verfilmung eine Postkarte an Lewis Caroll: Nachricht erhalten, von hier schönen Gruß! Aber wo früher Wonderland war, ist jetzt Burtonland. In Grant Heslovs "Männer, die auf Ziegen starren" fragen sich Jeff Bridges und George Clooney: Wie kam man von den 70ern eigentlich in den Irak, welcher Weg führte vom Garten Eden auf Erden zu so einem wie George W. Bush?


Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" endet mit einem schönen Epilog: Nachdem die große Schwester die kleine, unter dem Baum träumende Alice aus ihrem Schlummer geweckt und diese ihr von ihren unglaublichen Abenteuern erzählt hat, berginnt die große Schwester an einer schimmernd fragilen Kippstelle zwischen Realität und imaginierter Fantasiewelt ihrerseits zu träumen. Nicht nur vom Wunderland, sondern von einer kleinen, aber charmanten Utopie, aus der Caroll zum einen deutlich selber spricht und in der zum anderen der Kinderbuchautor, sich deutlich selbst verortet: Dass Alice - und ganz allgemein auch jeder einzelne - sich das Herz des Kindes, die Erinnerungen an die goldenen Sommer der Kindheit auch im Alter bewahren möge, um nachfolgenden Kindern davon zu erzählen - ein ewiger Kreis des sense of wonder, der sich für immer um die Magie des Erzählens und des faszinierten Lauschens drehen möge.

Zwischen Carroll und uns liegt freilich der Erfahrungsschatz des 20. Jahrhunderts und dessen Literatur, die dem Fabulierhandwerk mit gehöriger Skepsis begegnete und es regelrecht zersplitterte. Doch in der Postmoderne darf, wenngleich unter anderem Vorzeichen, aufs Neue erzählt werden: Von solcher Skepsis und ihrer Überwindung erzählt gerade auch der Postmodernist Tim Burton in seinem wundervollen "Big Fish" (2003), in dem sich kleine und kleinere zwar zu keiner großen, aber mit Nachdruck erzählten Erzählung über das Kind- und Erwachsen- und Wieder-Kindsein verschmilzt. Eine Postkarte über die Jahrzehnte rückwärts an Carroll: "Nachricht erhalten, von hier schönen Gruß!" Aber auch eine Setzung, anschmiegsam zwar, und doch latent bedrohlich: Wo "Wonderland" ist, soll "Burtonland" werden.

Und gerade deshalb, weil "Big Fish" (Youtube) so ein toller Film und die simple, aber schöne Utopie aus Carrolls Buch so zerbrechlich ist, muss man das Wunderland vor Burtons Übergriff unbedingt in Schutz nehmen.

Burton erzählt nämlich in einer kaum verhohlenen Ausradierung von "Alice im Wunderland" nicht die Geschichte des Buches, sondern unter schwerem Uffz eine unbeholfen eigene unterm selben Titel, eine Quasi-Fortsetzung, in der Alice (eine Entdeckung: Mia Wasikowska) mit 20 Jahren kurz vor ihrer Verheiratung durch den berühmten Hasenbau ins Wunderland zurückstolpert (ihre ohnehin verblassten Erinnerungen tat sie als kindliches Lektüreerlebnis ab), wo man sie bereits als Erlöserin erwartet. Das Joch der herzlosen Herzkönigin (Helena Bonham Carter) drückt schwer auf die Schultern des Wunderlandes und seiner Bewohner, zur Errettung legt ein Schriftrollen-Bildorakel (eine der schöneren Ideen des Films: Zu sehen sind Motive nach den Arbeiten des Carroll-Illustrators John Tenniel) Alice die unwahrscheinliche Niederschlagung des grausligen Drachenwesens Jabberwocky auf.



Das kindliche Herz, für das Carroll kämpft, ist bei Burton offenbar zu einem Klumpen Plastik geschmolzen. Seit "Big Fish" und "Corpse Bride" jedenfalls wirkt der einstige Visionär einer Ästhetik des Grotesken und des Staunens unrettbar tief in seinem ganz eigenen Hasenbau versunken. Sein überzuckerter "Charlie & die Schokoladenfabrik" führte allenfalls zu Diabetes und Zahnschmerzen, in "Sweeney Todd" war noch jeder Quadratmillimeter Leinwand von einem schrecklich zwanghaften Willen zur Übergestaltung hermetisch verplombt. Der subkulturelle Anspruch, der aus Burtons schaurig schöner Ästhetik einmal schimmerte, ist Zug um Zug einer Ideologie bloßer Machbarkeit gewichen. Was einmal dynamisch Bilder sprengte, folgt bei "Alice" in der Überfülle an Ideen, Nippes und Texturen keiner raumgreifenden Logik mehr, sondern hat nurmehr Aufzählung und Stapelung im Sinn.

"Burtonia" gibt's bei solcher Inventur folglich in rauen Mengen: Kringel und Streifen, nervöser Wahnsinn, sich verzwirbelnde Äste, dicke Jungs mit kurzen Beinen, ein Wachsen und Schrumpfen, ein Auseinanderblasen der Proportionen allenthalben. Nur will das Kreuchen und Fleuchen, das Summen und Stottern nichts mehr außer einfach nur mehr und technisch eben noch besser gefertigt sein als beim letzten Mal - und nun eben auch, in ausgewählten Kinos, in 3-D. Das kindliche, sich ins Bild verlierende Staunen gerinnt bei "Alice" zur Industriearbeit nach Manchester-Modell.

Nur selten, und dafür umso schöner, blitzt er nochmal durch: Die tief und dauerschnurrende, sich gemächlich rollende Grinsekatze etwa (allein wegen Stephen Frys Sprechperformance muss man den Film im Original sehen) ist bei ihren wenigen Auftritten die ganz große Schau. Und wenn am Ende des Films alle Schlachten geschlagen sind, bricht er für einmal völlig auf: Unvermittelt setzt der wahnwitzige Hutmacher (Johnny Depp in erwartbarer Entsprechung seiner bisherigen nervösen Burtonfiguren) zu einem grandiosen Tanz an, wie die Filmgeschichte ihn nicht kennt: In den vertrackten Verwinkelungen, den unmöglichen Windungen und Drehungen schlägt der Film, scheint's, sich selbst für wenige Sekunden ein Schnippchen und wird für ziemlich kurze Zeit ziemlich großartig.

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Solch anarchische Spitzen würde man sich in "Männer, die auf Ziegen starren" auch gelegentlich wünschen, die Story gäbe sie allemal her: Noch während des Vietnamkriegs gründet sich, top secret hinter vielen Mauern, ein Spezialkommando der Armee, das unter dem Motto "Super Powers for the Super Power" mit ganz und gar nicht herkömmlichen Methoden Überkrieger ausbildet: Naturharmonie, OM-Meditation, lange Haare und anderer Firelefanz sollen noch jeden Feind in die Flucht schlagen und es dem erfahrensten unter den Absolventen sogar gestatten, kraft eigenen Willens durch Wände zu gehen und Tiere durch bloßes Anstarren zu töten.

Der auf diese Geschichte stößt, ist der privat abgewirtschaftete Reporter Bob (Ewan McGregor), der auf der Suche nach einem Knüller in Sichtweite zum gerade besiegten Irak herumlümmelt. Der sie ihm erzählt, ist der nicht minder abgewirtschaftete Ex-Soldat Lyn (George Clooney), der in den 80ern diese unwahrscheinliche Ausbildung genossen haben will - und von seinen "Jedi-Kräften" (ein im Hinblick auf McGregors Filmografie freilich unvermeidlicher Running gag) felsenfest überzeugt ist. So überzeugt, dass er sich, Bob im Schlepptau, auf private Mission quer durch den Irak schlägt: Sein einstiger Ausbilder Bill Django (Jeff Bridges) wird vermisst.

Dass dem Vorspann zufolge das, was man hier sieht - versonnen Blumen pflückende Hippiesoldaten etwa -, keine Phantasie ist, glaubt man gerne. Es ist nicht lange her, da warb David Lynch mit einem Heer yogischer Flieger für die "Transzendentale Meditation" damit, dass sie jedes Land "unbesiegbar" mache. Und offenbar experimentierte man auch im Pentagon angesichts von "New Age"-Kultur und Hippiebewegung mit esoterischen Manövern im Hinblick auf ihre militärische Nützlichkeit. So jedenfalls steht es im Sachbuch "Durch die Wand" von Guardian-Kolumnist Jon Ronson, auf dem "Männer, die auf Ziegen starren" lose fußt.



Die pynchonesquen Dimensionen dieser unglaublichen Begebenheiten nutzt Grant Heslov für eine melancholisch-wahnwitzige, allerdings auch recht uninteressierte Rückschau auf die amerikanische Kulturgeschichte der letzten 40 Jahre: Hippiekultur und Bombast-Rock der 70er ("More than a Feeling" von Boston) repräsentieren, gespiegelt ins Militär als eine Art Totalität der us-amerikanischen Gesellschaft, die naive Hoffnung auf eine bessere Welt. Diese Gesellschaft ist schon wegen ihrer eigenen Heilsversprechen davon überzeugt, auf der hellen Seite der Macht zu stehen (um in der fortlaufenden Star-Wars-Rhetorik zu bleiben), die von einer dunklen Seite (ihr Agent: ein asig spielender Kevin Spacey) fortlaufend torpediert und schließlich - natürlich geht es um Drogen - verraten wurde. Mit viel Wehmut blicken der gealterte Jeff Bridges und George Clooney auf eine Phase des Aufbruchs zurück, aus der man irgendwann die falsche Abfahrt wählte: Wie kam man von den 70ern eigentlich in den Irak, welcher Weg führte vom Garten Eden auf Erden zu so einem wie George W. Bush? "Männer, die auf Ziegen starren" will deshalb nicht nur eine Satire auf das Militär sein, sondern auch auf die selbstgläubige Naivität gegenkultureller Bewegungen, nicht ohne sich allerdings doch mit viel Anstrengung in eine eben solche wieder zurückträumen zu wollen: Es täte uns gut, sagt das Fazit, wenn wir alle wieder häufiger durch Wände gehen wollten.

Das alles geschieht in "Männer, die auf Ziegen starren", passend zum Titel, entsprechend albern: Bridges als Althippie in Militärklamotten ist nicht ohne Reiz, dasselbe gilt für den Rückblenden-Clooney mit selten dämlicher Rockermatte auf dem Kopf und für den im LSD-Rausch durch die Wüste taumelnden Kevin Spacey. Und doch bleibt das alles in Form und Tonfall ziemlich bieder, der Film will wenig. Vermutlich ist das Ambitionslose sogar Absicht, eine Art Slackerhaltung für einen Film, dessen Protagonisten eigentlich auch rumhängen sollten (natürlich denkt man bei Bridges an Lebowski, an wen auch sonst), die stattdessen aber aus unerfindlichen Gründen in ferne Wüste ziehen.


Alice im Wunderland
. Regie: Tim Burton - Darsteller: Mia Wasiskowska, Johnny Depp, Anne Hathaway, Helena Bonham Carter, Matt Lucas, Crispin Glover - USA 2010 - Länge: 108 Minuten

Männer, die auf Ziegen starren. Regie: Grant Heslov - Darsteller: Ewan McGregor, George Clooney, Jeff Bridges, Kevin Spacey, J.K. Simmons, Robert Patrick, Stephen Root, Stephen Lang, Rebecca Mader USA 2009 - Länge: 93 Minuten