Im Kino

Das undankbare 13. Jahrhundert

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
07.07.2010. Jaco van Dormael, manchem seit "Toto le heros" in guter Erinnerung, taucht mit einem ganz großen Film über alles - Titel: "Mr. Nobody" - aus der Versenkung auf und erzählt von einem sterblichen Mann und seinen vielen möglichen Leben. "The Office"-Erfinder Ricky Gervais kommt in "Lügen macht erfinderisch" drauf, dass die Wahrheit nicht immer die erste Wahl sein muss.

Der Lebenstraum manchen Regisseurs scheint es zu sein, einmal mindestens einen ganz großen Film über alles (kurz: GGFÜA) zu drehen. Der Zeitpunkt, zu dem es wirklich möglich wird, kommt in Karrieren an unterschiedlichen Stellen und meist, da die Geldgeber in der Regel ja nicht wahnsinnig sind, gar nicht. Richard Kelly hatte das Glück, nach seinem zum Kultfilm avancierten Erstling "Donnie Darko" schon mit dem Nachfolger "Southland Tales" (Kosten: zig Millionen, US-Einspiel: 160.000 Dollar; in Deutschland kein Kinostart) aufs Ganze gehen und der Welt zeigen zu dürfen, was eine Apokalypse ist, die wirklich nichts auslässt. Darren Aronofsky gilt nach seinem monströs ambitionierten Eso-Drittling "The Fountain" nicht unbedingt mehr als die große weiße Hoffnung des gehobenen US-Blockbuster-Kinos. Wim Wenders' "Reise ans Ende der Welt" verdankte sich dem Erfolg von "Der Himmel über Berlin" und leitete die katastrophale Spätphase des Wenderswerks ein. Francis Ford Coppola musste erst Weinbauer und durch Weinanbau von Hollywood-Geldgebern völlig unabhängig werden, um sich mit dem hochnotpeinlichen "Jugend ohne Jugend" seinen Traum erfüllen zu können. Bei den Wachowskis hat man erst an den Fortsetzungen so recht erkannt, dass sie mit ihrer "Matrix" auf einen GGFÜA im Strickpullover hinauswollten.

Das prinzipielle Problem mit dem ganz großen Film über alles: Diese Projekte sind eigentlich immer eine Kombination aus grandioser Selbstüberschätzung und einer im Kern adoleszenten Idee davon, was Kunst und/oder Philosophie ist. Nun heißt allerdings, dass jemand sich selbst überschätzt, noch lange nicht, dass er nichts kann. Der eine oder andere ist halt tatsächlich ein Genie. (Richard Kelly etwa ist auf insgesamt doch sehr interessant unerschrockene Art überambitioniert.) Und gewiss sind aus adoleszentem Allotria nicht nur bei George Lucas schon gewaltige Dinge entstanden. Was aber die Ausnahme bleibt, und zwar ganz entschieden. Leider nämlich kommt der ganz große Film über alles in aller Regel philosophisch daher, und zwar, um genauer zu sein, in jener geek-typischen Pop-Form der Philosophie, die Weltschmerz für Tiefsinn und naturwissenschaftliche Erkenntnisse für hoch bedeutende Existenzphilosophie hält. Urknall, Stringtheorie, die Zeit, der Raum, das Universum: drunter geht nichts. Die größte Himmelsmacht dann aber gerne: die Liebe.

Mit einer Taube im Skinner-Labor beginnt so bezeichnend wie beliebig Jaco van Dormaels "Mr. Nobody". Auf die Taube und überhaupt das Thema Konditionierung kommt er nicht mehr zurück. Vielmehr stellt der Film den Zufall ins Zentrum. Auf einem idyllisch abgelegenen Bahnhof am Ort namens "Chance" muss sich als Kind unser Held zwischen dableibendem Vater und davonfahrender Mutter entscheiden. Dieser Moment kehrt in der Erinnerung als Ausgangspunkt alles weiteren wieder und wieder. An Fragen des Zufalls und der Entscheidung laboriert er allerdings so, dass er sich für den eigentlich doch wichtigen Unterschied zwischen beidem nie sonderlich zu interessieren scheint. Das jeweils nächstliegende Blödmann-Theorem zieht er da vor. Warten wir etwa vergeblich aufs Herbeizitieren des Schmetterlingseffekt-Schmarrns? Aber nein! Ausführlich wird das ganze noch einmal dargestellt, und dann noch einmal. An einer Stelle haut sich Jaco von Dormael (Cameo) höchstselbst ein brasilianisches Ei in die Pfanne und versaut seinem Helden so (vorläufig) durch Regen am anderen Ort die Wiederbegegnung mit der Frau (Diane Krüger, unblond), der er als Teenager unter der Bettdecke ewige Liebe geschworen hat.


Vor fast zwanzig Jahren hat der Belgier Jaco van Dormael das Publikum mit seinem "Toto le heros" charmiert. Seit dreizehn Jahren hat man von ihm nichts mehr gesehen. Jetzt weiß man: Er brütete was aus. Er sammelte Geld (und bekam 47 Millionen Dollar!) und er saß am Drehbuch zu seinem ganz großen Film über alles: "Mr. Nobody". Der Held ist, wie es sich fürs Genre gebührt, ein wahrer Niemand und Jedermann. Sein Name ist sprechend, wenn es je einer war: Nemo Nobody. Subtil. So subtil wie vieles am Film, der gerahmt ist durch eine Zukunftsszenerie aus dem Jahr 2092. Der letzte sterbliche Mann - Nemo Nobody - stirbt und erinnert sich vorher noch an das Leben, das er geführt hat. Vielmehr: an mehrere Leben, die er potenziell gelebt haben könnte. Eine sich vielfach verzweigende Biografie, nach der (Nicht)Entscheidung am Bahnhof von Chance exemplarisch vorgeführt an drei Frauen, die Nemo wählt oder auch nicht. Diese Geschichten erzählt van Dormael, mal so und mal so, weiter, zwischen Großbritannien, Kanada, Mars und vom Comic-Star Francois Schuiten entworfener Zukunft.

Der Film beschränkt sich nicht auf diese im Ansatz Alain-Resnais- oder Chris-Marker-haft klingende Proliferation durch Eingriff des drehbuchdeterminierten Zufalls alternierender Lebensverläufe. Er setzt das in digitaler Tricktechnik um. Herr Niemand stirbt mehr als einmal. Er taucht aus einem See, in den sein Auto fuhr, in einer Badewanne auf und wird von einem Herrn, der davor sitzt, erschossen. (WTF würde die Internetjugend von heute hier sagen.) Eine Art Membranismus regiert den Film überhaupt. Nicht durch Logik, auch nicht durch gekonntes Erzählen, sondern durch Willkürakte der Kamera (bzw. dem, was per Trick als Kamera erscheint), ist "Mr. Nobody" in erster Linie strukturiert. Man fährt in unbewegte Bilder hinein und kommt in einem Spielfilmszenario heraus. Man sitzt im Theater und die gespielte Szene wird, wenn die Kamera sich in sie hineinbewegt, zum Kino bei realistisch geschlossener vierter Wand. Virtuosenstücke dieser Art gibt es manche. Man könnte sogar sagen: In sie zerfällt recht eigentlich dieser Film. Dazwischen geschoben gibt es Übererklärung, Pseudo-Tiefsinn. Wer bei Verstand ist, leidet nicht wenig. Und staunt dann gelegentlich doch, was van Dormael da jetzt wieder zusammengepuzzelt bekommt.


Seine Verspieltheit ist, in Maßen, auch seine Rettung. Den GGFÜA-Gesten erschwerten Ernstes fahren Drehbuch und Regie mit Lust auch mal an der Albernheit in die Parade. Ganz große Filme über alles leiden sonst oft sehr schwer an dem bleiernen Glauben an ihre eigene Bedeutung, mit dem die Macher ihre Second-Hand-Weisheiten auftischen. "Mr. Nobody" dagegen ist zwischendurch lustig. Neben schwerhändigen Metaphern (Gleise, Weichen) gibt es dann auch mal den großen Bollywoodklassiker "Mughal E-Azam" (die kolorierte Version) als Marsflugbegleitprogramm. Oder "Harold and Maude"-Reminiszenzen mit Selbstmord-Fakes. Und gegen den Drunter- und Drüberstreuselcharakter der zur Verwendung kommenden Popmusik kann man viel, aber gegen die Auswahl zwischen Eurythmics, den Pixies und Mr. Sandman in Varianten eher wenig einwenden. Eigentlich geht sogar "99 Luftballons" als leicht abgründige Kindergeburtstagsmusik in Ordnung. (Was die Songrechte dieses Films allein gekostet haben müssen!)

Der Gesamteindruck, den "Mr. Nobody" hinterlässt, ist also gemischt. Rasant und oft eher unmotiviert springt das von einem Genre zum andern. Große Geste, adoleszentes Liebesdrama, Möchtegern-Philosophie und zwischendurch sogar Pseudowissenschaftsdoku. SciFi, Scheidungskindtrauma, als seltsamste Interferenz Thrillereinsprengsel, Hanebüchenes neben Charmantem, Jared Leto unter Runzellatex, mit Vollbart, mit zig verschiedenen Frisuren und einem Jugenddarsteller seiner Figur, der tatsächlich exzellent ausgewählt ist. Die Teile rasen vorbei und ergeben als Gesamt keine sehr überzeugende Summe. Merkwürdige Mathematik aber: Obwohl kein Teilstück für sich wirklich gelungen ist, bereitet die Art, wie Jaco van Dormael durch seinen an hier und da geklauten Versatzstücken reichen Film über alles gleitet, springt, fuhrwerkt und schlittert, gelegentlich durchaus Freude.

Ekkehard Knörer

***


Ricky Gervais galt einmal, vor inzwischen auch fast schon wieder einem Jahrzehnt, als funniest man alive. Und zwar nicht ganz zu Unrecht: Die britische Sitcom "The Office" - die einen amerikanischen und unter dem Titel "Stromberg" auch einen deutschen Ableger nach sich zog - zählt heute noch zu den Sternstunden der awkward comedy. Und Gervais' David Brent, diese fleischgewordene Überidentifikation mit den ideologischen Vorgaben des Dienstleistungskapitalismus, zu den denkwürdigsten Figuren der jüngeren Fernsehgeschichte.

Fast zwangsläufig musste Gervais' weiterer Karriereverlauf nach einem solchen Geniestreich enttäuschen. Schon die oft immer noch sehr schöne Nachfolge-Sitcom "Extras" verwaltete den Erfolg des Vorgängers eher, als dass sie wirklich neue Wege beschritt. "The Invention of Lying" ist nun der leider eher missratene erste ernsthafte Versuch des Briten, im Kino - im Hollywoodkino gar - Fuß zu fassen. Auf den ersten Blick ist "der Film eine One-Man-Show. Gervais inszenierte und schrieb den Film nicht nur gemeinsam mit Matthew Robinson, er übernahm auch die Hauptrolle. Und spricht außerdem einen Voice-Over-Kommentar, der bereits über dem Vorspann einsetzt.

Das Problem an der Sache ist allerdings nicht die Überdosis Gervais. "The Invention of Lying" entwirft eine Welt, die die Lüge nicht kennt. Diese Welt, beziehungsweise die Idee, die hinter ihr steht, ist noch vor Gervais der eigentliche Star des Films. Der erste Akt begnügt sich damit, ihre Implikationen auszustellen. In einer Welt, die keine Lüge kennt, nimmt einerseits jeder wörtlich, was der andere meint, anderseits gibt es keine Filter zwischen Gehirn und Kommunikation. Die Leute sagen, was sie denken. Und so positioniert sich jede Figur, die im Film auftaucht, zuerst einmal realistisch zu den Bedingungen der eigenen Existenz: "I'm very embarassed I work here." "Every day is worse than the last." "I'm on pills that make everything orange." Oder es kommt zu Dialogen der folgenden Art: "I was just masturbating." - "That makes me think of your vagina."


Diesen letzten Satz spricht Ricky Gervais als Mark Bellison. Bellison ist ein typischer Gervais-Loser, nur leider ohne die psychotische Schlagseite eines David Brent. Ein grundgütiger Kerl, der unter seinem Aussehen und den Verhältnissen leidet (verwiesen sei auf David Bowies großartigen Auftritt in "Extras": "Little Fat man with a pug nosed face"), ohne gegen die Verhältnisse zurück zu keilen. Er arbeitet als Drehbuchautor bei "Lecture Films", wo Filme mit Titeln wie "The Invention of the Fork" hergestellt werden und ist dort dem undankbaren 13. Jahrhundert zugeteilt. An seinem Arbeitsplatz wird er von Rob Lowe und Tina Fey, zwei Mitgliedern einer ganzen Armee prominenter Gaststars, die Gervais für seinen Film gewinnen konnte, unnachgiebig gemobbt. Nach dem Flop von "The Black Death" wird er außerdem entlassen. Und sein erstes Date mit Anna McDoogles (Jennifer Garner in einer wieder einmal ziemlich undankbaren Rolle) verläuft ebenfalls alles andere als ideal ("I'm way out of your league").

Schon dieser erste Abschnitt wirkt seltsam steril. Nicht, dass der Film völlig misslungen wäre. Gelegentlich ist er ganz im Gegenteil zum Schreien komisch. Aber "The Invention of Lying" hat ein ziemlich grundsätzliches Problem: Die Idee, aus der er entsprungen ist, hält den Film an einer viel zu kurzen Leine. Nichts und niemand darf ein Eigenleben führen, dass über sie hinaus weisen oder von ihr ablenken könnte. Der Film verstellt den Figuren damit eben jenen Eigensinn, den ungestüm auszusprechen er ihnen eigentlich zu erlauben verspricht.

Noch deutlicher wird das, wenn der Film beginnt, statt einer Welt einen Plot zu entwickeln. Die titelgebende Erfindung der Lüge gelingt Mark Bellison, als er ganz unten angekommen ist. Und sie gelingt ihm ausgerechnet in einer Bank. In der Welt des Films vertrauen selbst Bankangestellte eher auf die Versicherungen eines Kunden über dessen Kontostand, denn auf ihren Computer. Mit seiner neuerworbenen Fähigkeit wird Bellison dann jedoch nicht zum Großkapitalisten, sondern zum Erfinder der in einer lügenfreien Welt logischerweise unbekannten Religion. Die aufs Christentum zugeschnittene Religionsallegorie, die Gervais im zweiten Abschnitt des Films entwirft, ist nicht nur weniger wagemutig, als man das zunächst annehmen dürfte - Religion ist zwar eine Lüge, aber eben doch nur eine white lie; vor allem reduziert sie alle Figuren endgültig zu den bloßen Funktionsträgern, die sie gerade in einer Komödie einfach nicht sein dürfen.

Lukas Foerster

Mr. Nobody. Kanada / Belgien / Frankreich / Deutschland 2009 - Regie: Jaco Van Dormael - Darsteller: Jared Leto, Sarah Polley, Diane Kruger, Linh-Dan Pham, Rhys Ifans, Natasha Little, Toby Regbo, Juno Temple, Clare Stone (P.S.: Der Abspann dankt ausdrücklich fünfzehn weiteren DarstellerInnen, die aus dem fertigen Film in der Schnittphase ganz oder fast ganz verschwanden.)

Lügen macht erfinderisch. USA 2009 - Originaltitel: The Invention of Lying - Regie: Ricky Gervais, Matthew Robinson - Darsteller: Ricky Gervais, Jennifer Garner, Jonah Hill, Louis C.K., Jeffrey Tambor, Fionnula Flanagan, Rob Lowe, Tina Fey