Im Kino

Warenförmige Nostalgie

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
28.07.2010. In die dritte Runde geht das "Toy Story"-Franchise der Firma Pixar, deren Kolonialisierung der Fantasien von Groß und Klein weit fortgeschritten scheint. Immer wieder schön spitz zugeschliffen ist Dietrich Brüggemanns ganz und gar nicht betroffenheitsduseliger Rollstuhlfahrer-und-Zivi-Film "Renn, wenn du kannst".



"Pixar rules pop media" schreibt der amerikanische Filmkritiker Armond White und wo er recht hat, hat er recht. Mit beängstigender Geschlossenheit bejubelt insbesondere die amerikanische Filmkritik - minus Berufs-contrarian White - Jahr für Jahr und auch jetzt wieder den jeweils neuen Streifen der kalifornischen Animationsfilmschmiede. Beschworen wird ein Kino, das zusammenbringt, was andernorts nicht mehr zusammen passt: Millionenbudgets und überbordende Kreativität, kommerzieller Erfolg und künstlerische Integrität, technische Innovation und qualitativ hochwertiges Storytelling.

Selbst die Kurzfilme, die die Kinostarts der Pixar-Features begleiten, werden zu kleinen Meisterwerken erklärt. Dabei zeigen gerade diese oft wirklich fürchterlich kitschigen Miniaturen (mal ehrlich, wer wird denn so etwas ernsthaft verteidigen wollen?), wie sehr die Pixar-Ästhetik dem Konzernvater Disney verpflichtet ist. Und wie wenig, das nur nebenbei bemerkt, subversiven amerikanischen Cartoontraditionen von Dave Fleischer (z.B.) bis Tex Avery (z.B.).

Ihre Verehrer scheinen in den Pixar-Streifen so etwas wie die letzten Erben des klassischen Hollywoodkinos zu sehen, eines Kinos, welchem die Filme des Studios tatsächlich auch selbst innerdiegetisch immer wieder ihre Reverenz erweisen: Wall-E als Chaplin-Imitator, Cowboy Woody als Serial-Westernheld. Form und Inhalt, glücklich vereint im Genre. Man könnte dann gleich einwenden, dass Klassizismus kein Wert an sich ist, sondern zuerst einmal ein Stil. Und zwar einer, der einen konkreten historischen Ort hatte. Und dass die Pixar-Filme ihre Distanz zu diesem historischen Ort selten mitkommunizieren - und wenn doch, dann nur in verlogen-nostalgischer Manier. Und selbst wenn man das alles beiseite lässt, muss die Frage erlaubt sein, was es zu bedeuten hat, wenn die Stars eines solchen Kinos nicht mehr Menschen wie John Wayne sind, sondern computeranimierte Spielzeugpuppen wie Cowboy Woody.

Wenn man schon dabei ist, könnte man sich auch gleich einzelnen Filmen widmen. Und zum Beispiel feststellen, dass "Wall-E" und "Oben", zwei Welterfolge der letzten beiden Jahre, zwar auf interessanten Konzepten basieren; dass von den interessanten Konzepten im fertigen Film aber nicht mehr viel zu sehen ist vor lauter Zuckerguss und Instant-Kinomagie mit fadem Nachgeschmack.


Jetzt also wieder die "Toy Story". Mit deren erstem Teil begann 1995 der Siegeszug des Unternehmens. Seitdem hat sich - schon das spricht gegen die Behauptung einer ungebändigten Kreativität im Hause Pixar - wenig getan im Spielzeugland. Immer noch kämpfen Woody, Captain Lightyear und ihre Freunde um die Zuneigung ihres Besitzers Andy. Der hat inzwischen bereits die High School hinter und das College vor sich und steht nun vor der Frage, was er mit seinem alten Kinderspielzeug anstellen soll. Durch ein Versehen landet dieses zunächst im Schlund der Müllabfuhr, was Anlass bietet für die erste von vielen Verfolgungsjagden. Später verlagert sich die Handlung hauptsächlich in einen Kindergarten, der von einem lila Plüschbär mit eiserner Faust regiert wird. Woody nimmt den Kampf auf.

Andernorts taucht einmal kurz Totoro auf, ein Geschöpf, vielleicht das schönste, des großen japanischen Zeichentrickfilmers Hayao Miyazaki. Großes dickes Totoro steht ein paar Einstellungen lang im Bildhintergrund herum und hat nicht viel zu tun mit dem ewigen, ewiggleichen Räuber-und-Gendarm-Spiel, das auch der dritte Teil der "Toy Story" wieder ist. Aber er ist lange genug im Bild, um Erinnerungen zu wecken an ein anderes und - ja - besseres Kinderkino, an eines, das viel zu tun hatte mit Neugier auf die Welt, mit ungeformter Fantasie, mit unvoreingenommenen Interaktionen mit der Natur. Und wenig bis nichts mit der warenförmigen Nostalgie, die nicht nur jede einzelne Szene der "Toy Story"-Saga prägt, sondern die in fast allen Pixar-Filmen auf die eine oder andere Art präsent ist.

Natürlich möchte ich nicht behaupten, dass die Pixar-Werke nicht ihre Qualitäten hätten. Sorgfältig gemacht sind sie alle. Gut aussehen tun sie auch, aber schon da beginnen die Probleme. Pixar zelebriert digitalen Hyperrealismus im Detail, in einem Faltenwurf, in einer spiegelnden Oberfläche. Dieser Hyperrealismus wird aber immer wieder in der nächsten lieblichen Totalen aufgehoben und negiert. Wenn ein Pixar-Film diese Regel durchbricht, dann Brad Birds "Ratatouille", das eine echte Meisterwerk, das das Studio bislang zustande gebracht hat. "Ratatouille" ist der einzige Pixar-Film, der sich tatsächlich für die Texturen der Welt interessiert, die er nachbaut, der einzige, der nicht überwältigende, sondern folgerichtige Bilder sucht.

Der Titelheld dieses Films, eine Ratte, die es satt hat, immer nur Müll zu fressen und die deshalb Chefkoch in Paris werden möchte, ist denn auch fast die einzige Figur im gesamten Pixar-Universum, die von einem realen Begehren angetrieben wird: von Neugierde auf die Welt und von Entdeckerlust, von einem genuinen Freiheitsdrang, der auf die Konfrontation mit dem Unbekannten zielt. In den übrigen Filmen richtet sich die Energie fast ausschließlich nach innen: auf die eigene Biografie, die eigene Familie, das eigene Kinderzimmer.

Vielleicht muss man sich doch einmal genauer ansehen, was das ganz konkret für Geschichten sind, die da erzählt werden und die der Kritik stets vorschnell als humanistische Reflexionen über Kindheit und Älterwerden gelten. Man könnte sich zum Beispiel fragen, was es eigentlich bedeutet, dass Woody und seine Freunde immer wieder aufs neue alles daran setzen, Andy, ihren Besitzer, kraft ihrer bloßen Existenz glücklich zu machen. Was es bedeutet, dass im neuen, dritten Film der Reihe selbst die Idee von Emanzipation unter Totalitarismusverdacht steht. Was es bedeutet, dass die einzige legitime Motivation individualistischen Handelns wieder und wieder die Wiederherstellung des eigenen Abhängigkeitsverhältnisses inklusive dessen ideologischen Überbaus ist. Schließlich auch, was es bedeutet, dass von Anfang an so wenig auf dem Spiel steht bei dem Abenteuer.

Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die meisten dieser Filme so unmittelbar und widerstandsfrei erschließbar, konsumierbar sind: "Pixar" ist die Idee einer Welt, in der sich der Kapitalismus mit sich selbst versöhnt hat. Einer Welt, die selbst die kleinen Zweifel, die an dieser Versöhnung bleiben, nur noch im Inneren der Subjekte registrieren kann, als sanfte, liebliche Erschütterungen eines kommodifizierten Imaginären, das sich mithilfe von 90 Minuten langen Verfolgungsjagden problemlos wieder befrieden lässt. Und dann muss man doch einwenden dürfen, dass das Kino, auch das populäre Kino - und manchmal sogar das populäre Kino der Gegenwart - mehr kann und mehr sein kann als "Pixar".

Lukas Foerster

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Es ist ja nicht so, dass man jedem deutschen Film, der im Kino läuft, ansieht, was er da verloren hat. Es gibt da beinah unendlich viel hilflos Bemühtes oder uninteressant Abgebrühtes, fürs Fernsehen Gedrehtes, dramaturgisch zu Krummes, zu Gerades, zu Holpriges und zu Glattes, hier und da abgeschaut und halbverdaut, Talentproben, die zeigen, dass eine/r was kann, ohne dass man sähe, was es eigentlich soll. Die beinah unzähligen deutschen Filmförderanstalten fördern, von den wirklich spannenden Sachen am ehesten noch abgesehen, alles, was ihnen vor die Flinte gerät und wünschen bzw. verlangen, dass, was hinten dann rauskommt, ohne Ansehen der letztlichen Qualität auch in die Kinos gelangt. Und da stehen viele dieser Filme dann verloren herum und haben der Welt nichts zu sagen.

Dietrich Brüggemanns "Renn, wenn du kannst", gegen den man manches einwenden kann, ist da anders. Man sieht gleich, dass das ein Film ist, der unbedingt ins Kino will, der viel dafür tut, dann zu Recht dort zu sein. Dabei klingen die Prämissen erst einmal nach Selbererlebensschmonzette eines Jungregisseurs. Im Kern nämlich erzählt "Renn, wenn du kannst" Geschichten aus dem Leben eines Zivis. Dieser Zivi, sein Name ist Christian, bekommt es mit einem Querschnittgelähmten namens Ben zu tun. Der ist ein hoch begabter Schikaneur des professionellen Betreuungspersonals sowie der eigenen Mutter, kommt mit seiner Diplomarbeit nicht zurande und gibt sich als jede Form von Mitleid schroff abwehrender Zyniker im oberen Hochhausstockwerk, einer, der einem Mädchen mit Cello vom Balkon aus mit dem Fernglas hinterherguckt, einer, denkt man sofort, der seine Immobilität mit beweglicher Klappe und schnellen und bösen Gedanken kompensiert.

Dieser erste Eindruck ist auch nicht falsch. Jedoch macht Robert Gwisdek - der Sohn von Michael Gwisdek und Corinna Harfouch - aus dem Klischee einen überzeugend enervierenden Menschen. So einfach, dahinter nach und nach einen verletztlichen Mann aufscheinen zu lassen, macht es sich das Drehbuch zum Glück nur bedingt. Was die Handlung angeht, kommt es zunächst allerdings, wie es muss: Ben plus Zivi Christian plus Cellofrau Annika (Anna Brügemann, die Schwester des Regisseurs, auch Drehbuch-Koautorin) fügen sich zum einem etwas merkwürdigen Dreier. Ben sowie Christian verlieben sich in die Cellofrau und die weiß nicht genau. Während sie ein persönliches Musikauftrittspsychodrama verpasst bekommt, bleibt Christian von allen dreien am blassesten. (Will Medizin studieren, kann kein Blut sehen, naja.) Ganz so, wie man denkt, geht es nicht aus, jedoch ist der Plot ganz sicher nicht das, was an "Renn, wenn du kannst" überzeugt.


Eher sind das einzelne Stellen, an denen Bruder und Schwester Brüggemann ihre Figuren, ihre Dialoge, auch die Rhythmen des Films schön spitz zugeschliffen haben. Man spürt immer wieder einen sehr genauen Sinn fürs stimmige Timing und Robert Gwisdek ist für lakonische Dialogbosheiten sichtlich der richtige Mann. Wenn Ben ein kleines Mädchen im Aufzug zum Ärger der Mutter mit garstiger Mimik erschreckt und hinterher sagt, dass ihm das stets so ergehe - erst verdirbt er es sich mit den Frauen und danach hassen ihn auch noch deren Mütter -, dann ist das erstens ein durchaus gelungener Oneliner und zweitens eben auch exemplarische Vorführung einer Kompensationsstrategie. Die Frauen, mit denen er es sich verderben könnte, lernt Ben ja gar nicht erst kennen. (Ausnahme Annika, aber ach.) Wann immer die Geschichte sich in einer Sackgasse zu verirren droht, holt Brüggemann sie mit entweder Tempo oder allerdings meist allzu atmosphärischen Bildern oder gut ausgewählter Indiemusik da wieder raus. Nicht dass das sinnvoll irgendwohin führte, aber Brüggemann rennt, weil er kann und verhindert so, dass sein Film berechenbar wird.

Leider hat er gelegentlich einen Einfall zu viel und schnappt gegen Ende dann über mit einer Traumsequenz, die nur halb eine ist. Schwarzer Monolith auf der Lichtung, Figur vor dem Himmelstor: holla. Der Film weiß mit seiner Geschichte nicht weiter, rettet sich ins Überambitionierte, nur um in letzter Minute mit einem sich aus dem Drucker schiebenden Blatt Papier, Aufschrift "Sechs Monate später", aus heiterem Himmel noch einen formal etwas übermütigen Schlenker zu wagen. "Renn, wenn du kannst" ist ein Film, der mehr will, als er kann. Am Ton, am Rhythmus, an den Dialogen und an der Musik stimmt aber was und das macht allemal neugierig auf Brüggemanns nächstes Projekt.

Ekkehard Knörer

Toy Story 3. USA 2010 - Regie: Lee Unkrich - Darsteller: (Stimmen) Michael "Bully" Herbig, Rick Kavanian, Christian Tramitz, Carin C. Tietze

Renn, wenn du kannst. Deutschland 2010 - Regie: Dietrich Brüggemann - Darsteller: Robert Gwisdek, Anna Brüggemann, Jacob Matschenz, Franziska Weisz, Michael Sens, Leslie Malton, Jörg Bundschuh, Sven Taddicken, Alexander Hörbe