Im Kino

Miserabilismus zu sehr ermäßigten Konditionen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
22.09.2010. In "Fishtank" lässt Andrea Arnold ihre Heldin Mia einen sozialen Flipperparcours absolvieren. Sie knallt mal an dies, mal an das, und wir immer mit. Peter Kern schickt in "Blutsfreundschaft" einem gemütlich gealterten Helmut Berger eine Pogo tanzende Versuchung ins Haus.

Startschuss. Mia rennt los. Mia tanzt in einer leeren Wohnung in einem Sozialbau. Mia übt ihre Moves, dazu aus dem CD-Walkman mit den Billiglautsprechern die Musik. Mia rennt weiter. Sie beobachtet andere Mädchen, die unten auf einer Freifläche tanzen, legt sich mit ihnen an, knallt der einen mit der Stirn voll gegen die Nase, so dass diese blutet. Mia ist fünfzehn, Mia rennt, sie hat diesen eigentümlichen hetzenden Gang, in dem etwas wild Entschlossenes steckt, ein Davonlaufen und ein Draufgehen, aggressiv, eckig, nicht zu stoppen. Wie eine losgeschossene Flipperkugel rennt sie durch diesen Film, einen von Andrea Arnold aufgebauten Hindernisparcours. Immer an ihr dran, immer hinter ihr her. Wogegen immer sie im Verlauf knallen wird (manchen, manche, manches), wir knallen mit. Die Kamera ist, in etwas flüssigerer, aber ebenso entschlossener Bewegung dabei. Und was immer ins Bild kommt, bleibt neben Mia Hindernis, steht im Weg, muss über die oft heftigen Begegnungen mit der Heldin begriffen und erschlossen werden oder als nur im Anschnitt sichtbares Mia-Objekt rätselhaft bleiben.

Zentrale Konstellation: Familie. Mutter und jüngere Schwester. Proletarische Mutter und auch nicht auf den Mund gefallene Schwester. Ein Haus, wie der frühe Mike Leigh sie auch baute. Kitchen-Sink-Bilderbuch. Die Mutter, nicht minder attraktiv als Mia (alle Frauen und Mädchen und Männer sind hier sehr attraktiv, muss man sagen), treibt es mit wechselnden Männern. Der Alkohol fließt. Der Ton zwischen Mutter und Töchtern ist alles andere als zärtlich. Eine Sozialarbeiterin sitzt irgendwann auf der Couch und man erfährt, Mia soll weg, auf eine Sonderschule mit besonderer Betreuung am anderen Ort. Da rennt, entschlossen, wütend, aggressiv, mit eigentümlichem Gang Mia davon. Sie rennt - und nie weiß sie wohin. Das Flipperfeld, durch das sie jagt, kennt kein außen. Sie knallt nur gegen dies, dann gegen das. Als Metapher (oder so) steht ein Pferd herum im Film, das Mia von seinen Ketten befreien will. Eine sinnlose Aktion, mit dem jungen Mann, dem das Pferd gehört, geht nach anfänglichen Schwierigkeiten am Ende aber was. Das Pferd ist nicht befreit (sondern tot), aber Mia hat eine Aussicht.


Das zentrale Objekt, gegen das Mia knallt, ist Connor (Michael Fassbender). Als Lover der Mutter taucht er in Mias Zuhause auf, in der Küche begegnen sie sich. Connor, nackter Oberkörper, ist nicht minder attraktiv als all die anderen Menschen in diesem Film mit seinem Miserabilismus zu sehr ermäßigten Konditionen. Die Berührungen, die sich zwischen Mia und Connor ergeben, sind durchaus komplex. Hier gibt es zärtliche Blicke, Ruhemomente, geradezu haptische Bilder ungeteilter Aufmerksamkeit. Ganz nah rückt die Kamera hier an Mia, schmiegt sich an ihren Blick und die Bilder sind dann für kurze Zeit warm.

Connor ist ein Mann mit Geheimnis, das sich, weil man ihn nur durch die Focus-Figur Mia sieht, erst nach und nach lüftet. Eine Zuneigung entsteht, gemeinsam fahren alle einmal hinaus in die Natur in Essex und Connor fängt einen Fisch mit den Händen. Poetische Momente wie diesen schaltet Andrea Arnold immer mal wieder in ihre Studie rasanter Bewegung. Bäume im Wind, Stillstellungen, Atemholen. Als rhythmische Komposition, als Studie sinnlos verbrannter Energie funktioniert "Fish Tank" sehr gut und mit der Mia-Darstellerin Katie Jarvis macht der Film eine dann auch vielfach ausgezeichnete Entdeckung.


Eine Mischung aus den Dardennes, Mike Leigh und Spurenelementen von Claire Denis ist das. Wie schon der Vorgänger "Red Road" irritiert auch Andrea Arnolds neuer Film mit einer Virtuosität, die sich dem Rauhen, das er behauptet, mit einer seltsamen formalen Glätte nähert. Die Menschen sind zu attraktiv, der Rhythmus ist zu verführerisch, der Miserabilismus ist zu poetisch, die Konstellationen münden gern ins Klischee. Trotzdem ist es immer wieder auch toll, wie Mia als fortgesetzter Energieschock - und weniger als eine auserklärte und sozial genau verortete Figur - durch diesen Parcours jagt. Den Realismus-Insinuationen von "Fish Tank" sollte man misstrauen. Als ziemlich virtuos inszenierter sozialer Flipperparcours hat der Film aber eine eigene Kraft.

Ekkehard Knörer

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Der agilste Überlebende des Neuen deutschen Films - sieht man von Werner Herzog ab und vielleicht auch von Ulli Lommel, die beide längst nach Amerika übergesiedelt sind, ab - ist Österreicher. Peter Kern war einst, damit beginnt er selbst seine Biografie, bei den Wiener Sängerknaben, in den siebziger Jahren stand er dann für Fassbinder vor der Kamera, außerdem für Wim Wenders, Werner Schroeter, Hans Jürgen Syberberg. Eigene filmische Arbeiten, Spielfilme und Dokumentationen, realisiert er seit Mitte der Achtziger, inzwischen sind es über zwanzig. Ein umfangreiches Werk der wütenden Solidarität mit den Außenseitern nicht nur der österreichischen Gesellschaft. "Kino der Verletzten" war eine Retrospektive einmal überschrieben.

Die letzten Filme von Kern, der in der Wiener Kulturszene immer noch voller Verve den Störenfried gibt und bei Vorführungen seiner Filme auch schon einmal Zuschauer, die vorzeitig den Saal verlassen, persönlich zur Rede stellt, waren kleine No-Budget-Arbeiten jenseits aller Regeln. Für "Blutsfreundschaft" hat Kern doch noch einmal etwas mehr Geld bekommen - für seine Verhältnisse freilich nur - und scheint auf den ersten Blick tatsächlich ein wenig der Versuchung erlegen zu sein, noch einmal einen "richtigen Film" zu drehen; nicht nur einen mit einem richtigen Star (Helmut Berger), sondern auch mit realistischer Ausstattung, eleganten Bildern, klassischer Filmmusik und so weiter. Aber den smoothen Kamerafahrten und stilisierten Rückblenden zum Trotz bemerkt man doch schnell, dass "Blutsfreundschaft" vom Qualitätskino höchstens ein, zwei Oberflächenreize entleiht.


Gerade wenn Helmut Berger auftaucht, kann sich der Film sowieso nicht verstellen. Schon, wenn der gealterte Star in seiner erste Szene die Wohnung betritt, den Mantel ablegt, in der Küche in den Spiegel blickt ("Bist alt geworden, Gustav Tritzinsky, hast nichts vom Leben gelernt") und melancholisch seine eingefallenen Wangen berührt, erkennt man, was "Blutsfreundschaft" vielleicht vor allem sein will: eine Liebeserklärung an Berger. Und die ist so ehrlich ausgefallen, dass sie sich um guten Geschmack nicht scheren kann.

Bergers Tritzinsky hat ein ruhiges Leben in Wien. Er lebt in einer großen, altmodischen Wohnung, führt ein Reinigungsgeschäft, steigt zwar noch gelegentlich hübschen Jungs nach, verlässt aber selten die heimelige Queerszene, die es sich im örtlichen Nachtclub gut gehen lässt. Ein alter Narziss ist dieser Tritzinsky; und ein Narziss ist natürlich auch Helmut Berger selbst, der keine Gelegenheit auslässt, seine glorreiche Filmvergangenheit - vor allem Visconti, Visconti und wieder Visconti - in dieser neuen, verschrobenen Rolle durchscheinen zu lassen. Dass Bergers Spiel dabei nicht peinlich ist, sondern sehr berührend, ist ihm und dem Film hoch anzurechnen.


Zufällig in Tritzinskys Wohnung landet der junge Axel (Harry Lampl, eine Entdeckung: zerbrechlich, dynamisch, vielseitig), er schläft auf dem Sofa ein und spielt am nächsten Morgen bereits nackt Gitarre im Wohnzimmer. Leider hat Axel am Abend davor, gemeinsam mit einer Gruppe Skins, einen Sozialarbeiter umgebracht. Axel pendelt bald zwischen Gustavs dunkler, gemütlicher, exaltiert schwuler Heimstatt und der mit einigem Aufwand konstruierten und aufgefächerten Neonaziszenen hin und her. Der Film pendelt mit und schlägt manchmal außerdem in Richtung Vergangenheit aus: Auch Tritzinsky war ein Nazi; in kalten Farben erinnert er sich daran, wie er zu HJ-Zeiten seine Jugendliebe an die SS auslieferte. Dazu kommen noch einige Nebenhandlungen, eine führt bis nach Casablanca. Peter Kern selber taucht ebenfalls vor der Kamera auf. Er gibt den Chef der Flughafensicherheit.

Was das alles soll? Vielleicht ist das einfach die falsche Frage, vielleicht sollte man den Film Szene für Szene nehmen. Der quintessentielle Film über Österreichs neue Rechte ist "Blutsfreundschaft" zum Beispiel sicherlich nicht geworden - aber den hat Peter Kern schließlich bereits 2002 gedreht: "Haider lebt - 1. April 2021". In "Blutsfreundschaft" geht vieles durcheinander. Schwuler Kitsch, Kinonostalgie, eine wild ausufernde Geschichte, mit nacktem Oberkörper Pogo tanzende Skins; rund ist das alles nicht, will es einerseits wohl auch gar nicht sein, andererseits meint man seine problematische Produktionsgeschichte doch ein wenig durch den Film hindurch fühlen zu können. Aber vor allem in den vorsichtigen, durchaus auch seltsam keusch anmutenden Begegnungen von Tritzinsky und Axel (auf dem Sofa, auf der Parkbank, im Cafe) artikuliert sich eine Kinointelligenz, der falsche Vorsicht fremd ist. Wenn der Neue Deutsche Film irgendwo überlebt hat, dann in solchen Momenten der unbedingten Ehrlichkeit, im bewussten Verzicht auf Absicherungen jeder Art.

Lukas Foerster

Fish Tank. Großbritannien 2009 - Regie und Buch: Andrea Arnold - Darsteller: Katie Jarvis, Michael Fassbender, Kierston Waring, Rebecca Griffiths, Sydney Mary Nash, Harry Treadaway, Carrie-Ann Savill, Grant Wild, Chelsea Chase

Blutsfreundschaft. Österreich / Deutschland 2009 - Regie: Peter Kern - Darsteller: Helmut Berger, Harry Lampl, Melanie Kretschmann, Michael Steinocher, Manuel Rubey, Matthias Stein, Oliver Rosskopf