Im Kino

Ennui-Etüde

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Ekkehard Knörer
17.11.2010. In Sofia Coppolas Venedig-Gewinner "Somewhere" fährt ein vom eigenen Leben ermüdeter Hollywood-Star mit seinem schwarzen Ferrari im Kreis. Das Leben einer Familie erzählt in Andeutungen Hirokazu Kore-eda in "Still Walking" und bleibt dabei stets aufs Wesentliche konzentriert.
Vorbemerkung: Julian Schnabels in dieser Woche anlaufende Palästina-Schmonzette "Miral" erwies sich bei der Sichtung als weder politisch noch ästhetisch irgendwie satisfaktionsfähig. Manchmal ist Schweigen das Vernünftigste, was man tun kann. Die Hoffnung, dass Sofia Coppolas Goldener-Löwe-Gewinner "Somewhere" das Nachholen wert sein dürfte, war dann leider auch nicht berechtigt. Weil der Film, anders als Schnabels Machwerk, von manchem als Meisterwerk gefeiert wird, lohnt sich ein Einspruch in dem Fall vielleicht doch.

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Erstes Bild, Prolog vor dem Titel, Kamera bewegt sich nicht. Eine Straße in der Wüste, ein Streifen im Bildvordergrund, einer weiter hinten, die eine Kurve, die den einen mit dem anderen Streifen verbindet, liegt rechts im Off dieses Bilds, das starr bleibt, die andere links, noch weiter im Off. Ein schwarzer Ferrari dröhnt über die Bahn und schließt die zwei Streifen Straße logisch zum Kreis durch sein Verschwinden aus dem Bild nach rechts und nach links und durch seine mehrfache anschließende Wiederkehr. Dieses erste Bild erinnert von fern an, sagen wir, Vincent Gallos "Brown Bunny" und verspricht also viel. Unvollständigkeit als Programm, Wiederholungsschleife als Struktur, Ästhetik der Bildkonsistenz, Verweigerung der Zentralperspektive. Dann aber hält der Ferrari, und zwar mittig im Bildvordergrund. Es steigt ein Mann aus, der der Held des folgenden Films sein wird. Und man begreift: diese erste Einstellung tut interessant offen, abgehackte Straße im "Somewhere", will in Wahrheit aber nur einen Protagonisten in die Mitte des Films stellen und zugleich bedeuten: Ein Mann fährt im Luxusauto im Kreis. Das erste Bild ist die Metapher des Films und macht unfreiwillig damit auch dessen Programm klar: Der tut ein bisschen ambivalent und ist dabei von bestürzender Schlichtheit. Die erste Einstellung bleibt mit Abstand die beste (und darum auch enttäuschendste), weil sie etwas zu versprechen scheint, das dann weder sie selbst noch der Rest des Films halten.

Ich gehe die Wette ein, dass man jede einzelne Szene von "Somewhere" in einem, maximal zwei schlichten Aussagesätzen so zusammenfassen kann, dass die Einstellung in ihrer Bedeutung als ganze erfasst ist. (Anders gesagt: Jede Szene, jedes Bild hat genau eine Bedeutung.) Und leider würde jeder einzelne Satz dann auch noch ziemlich genau dasselbe sagen. Er begänne meist mit "Der Hollywoodstar Johnny Marco ist so gelangweilt, dass...". So gelangweilt zum Beispiel, dass ihn zwei an mitgebrachten Klappstangen vor seinem Bett im Hotel Chateau Marmont synchronturnende Blondinen kein bisschen erregen. So gelangweilt (und/oder besoffen), dass er mit dem Kopf zwischen den Schenkeln einer andren Blondine einschläft. So gelangweilt, dass ein Reigen weiterer Blondinen, die es auf ihn absehen, ihn sehr kalt lässt, auch wenn er es mit der einen oder anderen, weil er, wie eigentlich meistens, nichts besseres zu tun hat, doch treibt.



Man könnte also sagen, dieser Typ, der meist indolent als sein eigenes Luxusproblem in der Ecke hängt, ist so ungefähr der uninteressanteste und empathieunwürdigste Protagonist, der sich vorstellen lässt. Sofia Coppola jedoch hängt an ihm, seinem Ferrari, seinem Dreitagebart, seinem aufgedunsenen Dasein, in unbegreiflicher Weise. Darin, dass er von sich und seinem selbstverschuldeten hohlen Leben komplett angeödet ist, erkennt sie - anders lässt sich "Somewhere" schwerlich verstehen - ein spielfilmwürdiges Sujet von überindividueller Relevanz. Sie überführt sein Herumhängen und Trägesein in eine Serie von irgendwie existenzialistisch gemeinten Vignetten und gönnt sich und uns gelegentlich eine halbwegs amüsante Pointe (nackter Masseur, zugeschmiertes Maskengesicht), die, wie man im Englischen sagen würde, neither here nor there ist, also ohne Belang für irgendetwas anderes in dem Film. Vom Ausflug ins doppelt obszöne Fernseh-Italien ganz zu schweigen - aber schließlich ist der Film ja von Berlusconis "Medusa" koproduziert. Was waren das noch für Zeiten, als Godard seine vertraglich vorgeschriebenen italienischen Schauspieler an den Straßenrand setzte, wo sie in der einzigen Szene, die sie bekamen, nichts weiter sagen, als dass sie die vertraglich vorgeschriebenen italienischen Schauspieler sind.



"Somewhere" hat keinen Geist, keine Schärfe, kein wirkliches Interesse, kurzum: nicht die Spur einer Haltung zu dem, was er zeigt. Er bleibt auf semiaffirmativer Halbdistanz zur Figur, dem Umfeld, der Totalödnis, der er durchs beharrliche Vorführen Dignität unterstellt. Er ist geformt nach dem Bild seines Helden oder formt seinen Helden nach dem eigenen Bild. Damit ist nicht, wie in den Yellow-Press-Nachfragen bei Coppola, direkte autobiografische Bezüglichkeit unterstellt. Wen kümmert?s, wer eventuell unter Reichtum, Schönheit, Erfolg oder Vaterberühmtheit leidet. Eigentlich referiert "Somewhere" ohnehin nicht auf irgendetwas Wirkliches, sondern nur auf die Langeweile, die sich einstellt, wenn man das Klischee eines langweiligen Hollywood-Lebens in langweilig-kunstgewerblicher Säuberlichkeit Szene um Szene reproduziert.

Allerdings führt "Somewhere" im letzten Drittel der Laufzeit vor, dass man auch ohne Haltung moralisieren kann. Coppola setzt aus eher heiterem Himmel Johnny Marcos eiskunstlaufendes blondes Töchterchen aufs Spielfeld und orientiert die Ennui-Etüde in Vater-Tochter-Szenen sonder Zahl in Richtung Erlösung. Nach dem Abschied von der die Augen aufs Leben öffnenden Tochter kocht der Star erst eigenhändig Spaghetti, dann setzt er sich ein weiteres Mal in den schwarzen Ferrari und fährt in die Wüste. Dort gönnt ihm "Somewhere" ein "Du musst dein Leben ändern"-Finale von ausgesuchter Banalität. Der Kreis zum Beginn schließt sich mit dieser Öffnung, die sich auf den schlichten Aussagesatz bringen lässt: Ein Mann fährt jetzt nicht mehr im Luxusauto im Kreis.

Ekkehard Knörer

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Alljährlich kommen die selbst schon lange erwachsenen Kinder der Yokoyamas mit ihren Familien die Eltern besuchen, um gemeinsam das Andenken an den vor 15 Jahren bei einem Unfall verunglückten ältesten Sohn hochzuhalten. 24 Stunden bleibt die Familie des zweitältesten Sohnes bei den alt gewordenen Eltern, diese 24 Stunden beobachtet, rafft Hirokazu Kore-Eda in seinem schönen, sanften Film "Still Walking".

Man darf und soll dabei wohl auch an Yasujiro Ozu, den Meister des "shomingeki", des japanischen Familien- und Alltagsfilms denken: Fast der gesamte Film spielt im verwinkelten Haus der Eltern, und wenn Kore-Eda die kleine Vorstadtsiedlung im Mastershot etabliert, dann fährt da ein Zug durchs Bild und an den Häusern vorbei. Ozu liebte Züge.

Zu Ozu passt auch die flüchtige, im Vorbeigehen erzählte Geschichte, die nicht die dramatische Zuspitzung sucht, sondern alles in eine übergeordnete zirkuläre Struktur einpflegt: Züge fahren hin und fahren her, Jahrestag folgt auf Jahrestag, Eltern altern, sterben, Kinder werden ihrerseits zu Eltern, gründen Familien. Wenn alles gut geht, gibt die eine Generation der nachfolgenden einen guten Ratschlag mit auf den Weg oder etwas Folklore: Als sie jung war, erzählt die alte Yokoyama an einer Stelle ihrem erwachsenen Sohn, hatte man ihr erzählt, dass Schmetterlinge, die den Winter überlebt haben, gelb werden. Im Epilog - die alte Yokoyama ist da bereits tot - erzählt der Sohn beim neuerlichen Besuch am Grab des toten Bruders dieselbe Geschichte seiner Tochter, die, darf man annehmen, in einigen Jahren dasselbe dem eigenen Nachwuchs erzählen wird.



Nicht, dass es in der Yokoyama-Familie Dramatisches nicht zu berichten gebe. In den 24 Stunden, auf die sich Kore-Eda konzentriert, entblättert sich in Andeutungen, Gesten und Blicken eine ganze Familiensaga. Der alte Yokoyama, einst angesehener Arzt, hegt einen rechten Groll gegen seinen überlebenden Sohn, weil der nicht Arzt geworden ist, sondern Kunstrestaurator, und wohl schon auch ganz grundsätzlich an den toten Sohn nicht heranreicht. Die alte Yokoyama wiederum weiß von den Seitensprüngen ihres Mannes in früheren Jahren, was dieser wiederum kaum zu ahnen wagt. Wenn sie ihm dies Wissen offenbart, so geschieht es beiläufig - nicht spitz, nicht aufgeregt - in einer Alltagssituation, beim Reichen eines Handtuchs im Badezimmer, und auch nur in Form einer Anmerkung, die alles erahnen lässt, aber nichts expliziert. Es folgen weder Krach noch Scherben, sondern nur ein kurzer, aufrichtiger Ausdruck des Bedauerns im Gesicht des alten Mannes.

Es ist ein schlichtes, auf das Wesentlichste konzentrierte Kino, das Kore-Eda hier im Sinn hat, das alle konkrete Vorgänge nur abstrahiert, in Form stoischer Latenzen erzählt, und dabei zu einer Meisterschaft gelangt, die gerade nicht auf Virtuosentum zielt. Humanist ist Kore-Eda auch insofern, als er deutlich macht, dass seiner Familiengeschichte nicht das Besondere, sondern das Übliche eignet, dass Geschichten wie diese in jedem Haus - regelmäßig verortet Kore-Eda das Geschehen in einer Siedlung, in der die eng beieinander gerückten Häuser einander gleichen - erzählt werden könnten und wohl auch sollten. Familien werden, entwickeln ihre eigene Geschichte, vergehen. Die Sorgen zwischen diesen Stationen nimmt Kore-Eda menschlich ernst, doch werden auch sie eines Tages menschlich vergangen sein. Im Hintergrund fährt ein weiterer Zug durchs Bild.

Thomas Groh

Somewhere. USA 2010 - Regie und Buch: Sofia Coppola - Darsteller: Stephen Dorff, Elle Fanning, Benicio Del Toro, Michelle Monaghan, Chris Pontius, Laura Ramsey, Caitlin Keats, Robert Schwartzman, Karissa Shannon, Philip Pavel

Still Walking. Japan 2008 - Originaltitel: Aruitemo aruitemo - Regie und Buch: Hirokazu Kore-eda - Darsteller: Abe Hiroshi, Harada Yoshio, Kiki Kirin, Natsukawa Yui, Tanaka Shohei,
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