Im Kino

Tanz den Wiseman!

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
29.12.2010. Zum Jahresabschluss: Vergnügen und Genuss. Dokumentarfilm-Großmeister Frederick Wiseman zeigt die Arbeit, die Virtuosität und den Alltag, die in und hinter den Aufführungen des Pariser Opernballetts stecken. Und die Berliner Filmreihe "Unknown Pleasures" ermöglicht seltene Blicke auf weitere Beispiele wahrer amerikanischer Independents - darunter aufs Werk des Essayfilmers Thom Andersen.


Mit Tempo und Eleganz geht das los: Blick auf die Dächer von Paris, ein paar Einstellungen, schnelle Schnitte, dann sind wir drinnen. Drinnen, backstage, Blicke auf die Hinterbühne, in Kellergänge, der Apparat, der in und hinter den Kulissen steckt, Dunkel und Zwielicht. Auch das nur eine kurze Passage, darauf wird es hell in einem verspiegelten Raum. Tänzerinnen und Tänzer und Choreografinnen und Choreografen bei der streng hierarchisch geregelten Arbeit. Es wird geprobt und einstudiert, an Details gefeilt, die Körper in Trainingskostümen verfolgt eine fluide Handkamera unaufdringlich und aufmerksam und mit viel Beobachtungsintelligenz. "La danse" heißt der Film, Frederick Wiseman ist sein Regisseur.

Es ist der zweite Besuch des Filmemachers beim Ballett. Mitte der Neunziger dokumentierte er - in "Ballet" - die Arbeit des "American Ballet Theater" in New York und folgte ihm bis nach Athen und anderswohin. Nun kehrt er, ein erklärter Fan dieser Kunstform, zurück, diesmal in seiner zweiten Heimat Paris, zum - so auch der Untertitel des Films - "Ballet de l?Opera de Paris". Der neue Film verhält sich zum älteren in mancher Hinsicht wie die Arbeit des Pariser Balletts zu dem in New York: Sie ist, bei aller ebenfalls vorhandenen Liebe zur Tradition, auch der der klassischen Moderne, avancierter, freier, stärker gelöst vom Wunsch, den Erwartungen eines jeweiligen Publikums zu gefallen. Keine Avantgarde hier wie da, sondern Perfektion einer Form, die das Klassische auf der Höhe der Gegenwart hält. Für das Ballett heißt das: Man wahrt den Bezug zu Größen wie Cunningham und Bejart und hält sich fürs Zeitgenössischere an so moderate Neuerer wie Sasha Waltz oder Mats Ek.

Und für Wiseman heißt es: Er ist ein Dokumentarist, der einerseits von der Zurichtung seines Materials durch Musik, Off-Kommentar, durch Brimborium jener Art also, das einen Großteil heutiger Dokumentarfilme so schwer erträglich macht, gar nichts hält. Andererseits gilt ihm aber auch die Fiktion, es handle sich beim Dokumentarfilm um eine sozusagen blanke, autorschaftsfreie Wirklichkeitsabbildungskunst, die von Fliegen an der Wand durchgeführt wird, außerordentlich wenig. Durch zwei zentrale Werkstätten geht jeder der Wisemanschen Filme. Die eine ist die Wirklichkeit, die er mit Wendigkeit und Geduld und stets kleinem Team dokumentiert. In den Probestudios der Pariser Oper folgen der Kameramann John Davey und Frederick Wiseman selbst an der Tonangel dem Geschehen mit einer zurückhaltenden Virtuosität, die dem sehr viel deutlicher ausgestellten Können der Tänzer kaum nachsteht.

Wiseman und Davey erhalten auch Zugang zu sonst verschlossenen Orten, nicht zuletzt dem Büro der künstlerischen Leiterin Brigitte Lefevre. Man wird dort zum Augen- und Ohrenzeugen, wenn es um die Pläne neuer Choreografen, die Ängste alternder und ganz junger Tänzerinnen und die Aushandlung möglicher Privilegien für durchreisende amerikanische Großspender geht. Einblicke gibt es per Stippvisite in die Garderoben, man sieht die Kostümbildnerinnen bei der Arbeit, vor allem aber wird man wieder und wieder Zeuge der Proben; wie schon in "Ballet" sieht man, weil es dazu gehört, in der zweiten Hälfte viel auch vom fertigen, dennoch in der Dokumentation nicht privilegierten "Tanzprodukt", den Aufführungen in der Pariser Nationaloper und auch der Bastille. Wie grundsätzlich bei Wiseman bleibt etwas Entscheidendes jedoch bewusst verdeckt: die Bedingungen, unter denen das Team Zutritt bekommt und Informationen darüber, wann und wo ihm die Türen versperrt geblieben sind. Wiseman dokumentiert stets "Wirklichkeit", die Voraussetzungen des Dokumentierens dokumentiert er - und zwar: ausdrücklich; zumindest: ausdrücklich - niemals mit.



Das hat und ist Methode, wie man spätestens merkt, wenn man auf den zweiten, fast noch wichtigeren Schauplatz, die eigentliche Werkstatt des Filmemachers Wiseman blickt. Das ist der Schnitt. Film ist für ihn eine Form nicht minder als zum Beispiel der Tanz. Es hat keinen Sinn, "etwas" zu zeigen, wenn man kein Interesse an der möglichst vollendeten Form des Zeigens selbst hat. Auch und gerade die "Wirklichkeit" gibt es nicht einfach so, nicht, indem man bedenken- und gedankenlos die Kamera einfach draufhält und dann im Schnitt mit Musik, Kommentarredundanz und Spucke zusammenzwingt, was man bei Gelegenheit zum Bild gemacht hat. Dabeisein bzw. Dabeigewesensein ist auch und gerade für den Dokumentaristen alles andere als alles.

Erstens gilt es jschon in der Situation selbst die Präsenz des Gedankens zu wahren, der sich mit dem Körper der Kamera bewegt und der mit dem Auge der Kamera blickt. Auch eine nicht (nach den Regeln der Regiekunst) inszenierte Realität setzt man mit der Wahl der Ausschnitte und mit den eigenen Aktionen und Reaktionen, ob man will oder weiß oder nicht, immer in Szene. Und zweitens entsteht der Film in Wahrheit eben erst in der Montage. 140 Stunden Material haben Wiseman und sein Kameramann für "La danse" produziert. Ein Jahr lang dauerte der Weg zum zweieinhalbstündigen fertigen Film. Herausgearbeitet hat Wiseman in der Zeit das, was seine Filme in immer größerer Vollendung ausmacht: die von jeder Rigidität freie Ahnung einer Kapitelstruktur, ein genauer Sinn fürs Abwarten und Ausspielen und den rechten Moment der Zäsur; ein Gefühl für frei fließende und zugleich wunderbar strukturierte Rhythmen, die das Allegro und das Largo, con brio und moderato, die die Wiederholung und den Exkurs ebenso wie die Arabeske und das da capo zulassen.

Selten genug ist das Vergnügen, einen Wiseman-Film auf deutschen Kinoleinwänden zu sehen. In diesem Fall spekuliert der Verleih sicherlich nicht in erster Linie aufs überschaubare Publikum der Fans dieses Regisseurs, sondern auf die Ballett-Aficionados. Das Schöne und Richtige an "La danse" ist, dass diese ebenso auf ihre Kosten kommen werden wie all jene, die sich für Tanz oder auch nur die hier vertretene moderat avancierte Version eher wenig, für die Kunst des Films umso mehr interessieren. Form und Inhalt sind hier so unlöslich verknüpft, das man das eine vom anderen nicht trennen kann oder mag. "La danse" führt mit anderen Worten die große Kunst vor, den Wiseman zu tanzen.

Ekkehard Knörer

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Ein Ausblick für Berliner Leser: Im Kino Babylon Mitte beginnt am 1.1. "Unknown Pleasures", ein Festival, das sich dem amerikanischen Independentfilm verschrieben hat und ab dem Wochende bereits zum dritten Mal Einblick in ein Kino gewährt, das ansonsten auf deutschen Leinwänden fast unsichtbar ist. Denn das Independentkino, für das sich "Unknown Pleasures" interessiert, hat nichts mit den stargesättigten Wohlfühlfilmen und der berechnenden, themenfixierten oscar bait aus dem Miramax-Umfeld am Hut. Statt dessen sucht das Festival nach echten Gegenpositionen zum Hollywoodbetrieb, in den letzten beiden Ausgaben zum Beispiel im Bereich der niedrig budgetierten Mumblecore-Filme. Die machen sich dieses Jahr rar, dafür widmet "Unknown Pleasures" gleich zwei der interessantesten Figuren des unabhängigen amerikanischen Films Programmschwerpunkte: dem Agitprop-Experimentalisten John Gianvito (u.a. "Profite Motive and the Whispering Wind" und "Vapor Trail (Clark)") sowie dem Essayfilmer Thom Andersen.

Der Andersen-Schwerpunkt greift besonders weit aus. Vier sehr lange, lange und mittellange Filme hat der Regisseur in den letzten vier Jahrzehnten gedreht und alle vier sind im Programm vertreten. Wie diese freilich nur nominell spärliche Filmografie andeutet (es gibt noch ein paar experimentelle Kurzfilme aus den Sechzigern, die fast nie zu sehen sind), ist Andersen nicht unbedingt ein Berufsregisseur. Seit den Siebzigern unterrichtet er an verschiedenen Universitäten, außerdem arbeitete er immer wieder kuratorisch, unter anderem für das LA Filmforum, beides schafft ihm Freiräume. In den lakonischen Voice-Over-Kommentaren, die einige seiner Filme, vor allem aber das Meisterwerk "Los Angeles Plays Itself", prägen, ist ein Moment von Distanzierung enthalten, das vielleicht auch Distanzierung vom Betrieb ist: Andersen stand und steht mit seiner filmischen Arbeit abseits der dominanten Strömungen im experimentellen und dokumentarischen Kino, seine Arbeiten sind gewissermaßen Eindringlinge, die in unregelmäßigen Abständen die Filmszene heimsuchen und in ihr einen festen Platz weder haben noch beanspruchen.

Die Filme, die in den nächsten Wochen in Berlin zu sehen sein werden, sind vier sehr unterschiedliche Annäherungen an das Bilderarchiv der letzten 150 Jahre und an das kollektive Gedächtnis Amerikas. Das Kino als sozialer und technologischer Modus von Bildproduktion steht zwar im Zentrum, das Werk reicht jedoch gleichzeitig einerseits hinter die Filmgeschichte zurück (in "Eadweard Muybridge, Zoopraxographer") und über sie hinaus (in "Get Out of the Car").



"Eadweard Muybridge..." ist ein dokumentarischer Film aus dem Jahr 1975 über einen der bekanntesten Pioniere des bewegten Bildes vor der offiziellen Erfindung des Kinos. Die Tate Britain widmete dem Multitalent unlängst eine große Ausstellung, insbesondere Muybridges Bewegungsstudien sind in Fachkreisen hinlänglich bekannt; eine Serie von Pferdefotografien steht fast schon emblematisch für eine ganze visuelle Kultur. Andersens Film zeigt nicht einfach nur noch einmal die berühmten Bilder. Er gibt sich Mühe, das Werk Muybridges einerseits historisch und ideologisch zu verorten und es anderseits angemessen als Kino zu remedialisieren, in immer neuen Präsentationsformen der jeweils nur 20 bis 30 Kader langen überlieferten Bildfolgen. Schon in dieser frühen Arbeit hält Andersen wenig von auktorialer Neutralität gegenüber dem Objekt des Films. Anders als spätere Filme ist "Eadweard Muybridge..." allerdings von einer tiefen, ungebrochenen Sympathie für die analysierten Bilder und deren Produzenten erfüllt.

20 Jahre später entstand in Zusammenarbeit mit dem Filmtheoretiker Noel Burch "Red Hollywood". Der Essayfilm analysiert den Beitrag derjenigen Regisseure und Drehbuchautoren zum klassischen Hollywoodkino, die in den Fünfziger Jahren Opfer der Kommunistenjagd und der aus dieser resultierenden Blacklist, wurden. Andersen und Burch zielen auf eine Revision der Filmgeschichtsschreibung. Nicht nur wurden die sogenannten "Hollywood Ten", die ersten und exponiertesten Opfer der Kampange, von Kollegen wie Billy Wilder als Stümper verspottet, gleichzeitig wurde eine ganze Traditionslinie des amerikanischen Kinos negiert. "Red Hollywood" weist in mehreren thematisch organisierten Fallstudien ("Sexes", "War", "Class" etc) nach, dass Versatzstücke kommunistischen und sozialistischen Gedankenguts durchaus einen Platz hatten in Hollywood, in den social issues films der Dreissiger ebenso wie in pessimistischen Dramen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Sympathie, die Andersen und Burch den Vergessenen McCarthy-Opfern zweifellos entgegenbringen, ist dabei jedoch eine ambivalente. Auf die kulturindustriellen Beschränkungen, denen nicht nur die "Hollywood Ten" unterlagen, hebt der Film genauso ab wie auf die ideologischen blinden Flecken der kommunistischen Parteilinien der jeweiligen Zeit.



Die beiden neuesten Filme sollte man, wenn möglich, zusammen sehen: Andersens bekanntestes Werk, das dreistündige Epos "Los Angeles Plays Itself" von 2003 sowie das mittellange Filmgedicht "Get Out of the Car", das erst dieses Jahr auf dem Locarno International Film Festival Premiere feierte. Beide Filme beschäftigen sich mit der kulturellen Bearbeitung und Überformung von urbanem Raum am Beispiel Los Angeles. "Los Angeles Plays Itself" untersucht anhand eines gewaltigen Samples von Filmen aus Hollywood und anderen Produktionszusammenhängen die Art und Weise, wie eine Stadt vom Kino ursupiert wurde und immer noch wird. Nicht nur geht es darum, Fälschungen nachzuweisen und auf einem Eigenwert des pyhsisch und sozial Manifesten diesseits der Kamera zu insistieren, sondern um eine Bestandsaufnahme der Möglichkeiten, Film und Raum aufeinander zu beziehen. Und natürlich ist "Los Angeles Plays Itself" außerdem eine filmhistorische Fundgrube erster Güte: Auf das Autofilmmeisterwerk "Gone in 60 Seconds" (1974), inszeniert vom legendären "Car Crash King" H.B. Halicki, wäre ich zum Beispiel ohne Andersen nie gestoßen (nun gut, das stimmt vielleicht nicht ganz, in Tarantinos "Death Proof" taucht der auch einmal auf, aber da wird er nicht mit Dziga Vertovs Filmtheorie in Verbindung gebracht).



Der Quasi-Nachfolger "Get Out of the Car" fühlt sich zunächst weniger hoffnungslos, streckenweise sogar fast euphorisierend an, aber vielleicht ist er in letzter Instanz ein pessimistischerer Film als "Los Angeles Plays Itself". Die Zeichen der kommerzialisierten Populärkultur haben sich vom Kino abgelöst und sind in die Stadt, in die Bausubstanz selbst eingedrungen. Andersen filmt, begleitet von gelegentlichen englisch- und spanischsprachigen Kommentaren auf der Tonspur, groteske Werbeplakate, Graffitieskapaden, trashige Neonreklamen. Die Motive kommentieren und attackieren sich gegenseitig, so als würden sie gar nicht mehr der Menschen / Konsumenten bedürfen, die denn auch folgerichtigerweise nicht vorkommen im Filmbild. Kein einziger Mensch ist zu sehen in "Get Out of the Car", dafür aber ein stlisierter Sylvester Stallone, der "Rambo's Tacos" bewirbt und Brathähnchen, die einen Ringkampf veranstalten.

Lukas Foerster

La Danse - Le Ballet de L'Opera de Paris. Frankreich / USA 2009 - Regie: Frederick Wiseman - Darsteller: (Mitwirkende) Emilie Cozette, Aurelie Dupont, Dorothee Gilbert, Marie-Agnes Gillot, Agnes Letestu

Festival "Unknown Pleasures"